[Geschichte] Belgrad 1: HistorikerInnen für den Frieden

Am 28. und 29. August 2021 fand in Belgrad die Konferenz HistorikerInnen für den Frieden (Istoričari za mir) als Teilveranstaltung des 13. Festivals KROKODIL statt. Die Konferenz war gleichzeitig Teil eines größeren Netzwerkprojekts postjugoslawischer und deutscher ProjektpartnerInnen, das den Titel Histoire pour la liberté (Geschichte für die Freiheit) trägt. Neben den Gastgebern des Vereins Krokodil – Engaging Words aus Belgrad unter der Federführung von Professorin Dubravka Stojanović sind an dem Netzwerkprojekt die VertreterInnen des Kliofests der Universität Zagreb, des Vereins für moderne Geschichte Sarajevo (UMHIS – Udruženje za Modernu Historiju), sowie des Lehrstuhls für Südosteuropäische Geschichte der Humboldt-Universität zu Berlin beteiligt. Finanziert wird das Projekt von der Europäischen Kommission. Die Teilaktivitäten der Veranstaltungsreihe sind zum größten Teil schon über die Bühne gelaufen, worüber auf diesem Blog bereits jeweils einzeln berichtet worden ist: Zuerst hatte im Mai 2021 in Zagreb die Konferenz WIDER den historischen Revisionismus, FÜR die Revision historischer Erkenntnis (PROTIV historijskog revizionizma, ZA reviziju povijesnih spoznaja) stattgefunden (LINK), gefolgt vom History Fest Sarajevo im Juni 2021 — unter dem Titel Gesellschaft und Geschichtsschreibung in Südosteuropa — Von gemeinsamer Vergangenheit zu geteilter Geschichte (Društvo i historiografija u jugoistočnoj Evropi − Od zajedničke prošlosti do podijeljene historije, LINK). Den Abschluss wird am 26. Oktober an der Humboldt-Universität zu Berlin ein Runder Tisch bilden. 

[LINK zum Programm des KROKODIL-Festivals]

Doch um die vorgestellten und diskutierten Beiträge besser im Kontext dieses Netzwerkes verstehen zu können, soll der Hintergrund des Projektes noch einmal kurz erläutert werden. Histoire pour la liberté ist zunächst die Inversion des Titels Liberté pour l’histoire (Freiheit für die Geschichte), eines französischen HistorikerInnen-Kollektivs aus dem Jahr 2005, das sich gegen die gesetzliche Verordnung historischer Wahrheiten richtet. Im sowohl ge-teilten (d.h., gemeinsamen), aber auch zer-teilten (bzw. getrennten) postjugoslawischen Raum sind die Karten des Diskurses jedoch etwas anders gelegt. Die Verwerfungslinien verlaufen hier widersprüchlich und gewissermaßen in einem sehr wörtlichen Sinne „multidirektional“, wobei die Diskursrahmung stark von den untereinander gegensätzlichen, nationalistischen Großnarrativen mitbestimmt wird. So ist es zu dieser Umkehrung gekommen: im postjugoslawischen Raum gibt es nämlich nicht eine verordnete, vermeintliche historische Wahrheit, gegen deren Verordnung als unbotmäßige Intervention von außerhalb des wissenschaftlichen Diskursfeldes vorgegangen werden müsste; Es gibt ihrer viele unterschiedliche, einander widerläufige, verordnete Wahrheitsprojekte. All diesen unterschiedlichen Verordnungsbestrebungen ist gemein, abweichende Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung durch Auseinandersetzung mit überprüfbaren Fakten — also durch Geschichtswissenschaft per se und im wahrsten Sinne ihres eigenen Anspruchs — nicht zu tolerieren. 

Deshalb muss streng genommen sowohl von Geschichtsrevisionismus im Singular, als auch von — spezifischer ausformulierten — Geschichtsrevisionismen im Plural die Rede sein. Das postjugoslawische Postulat Geschichte für die Freiheit ordnet daher die Prioritäten anders an, ohne dadurch die Freiheitsforderung abzuschwächen: Das Kollektiv von HistroikerInnen und Nicht-HistorikerInnen setzt sich vordergründig mit der allgegenwärtigen Gefahr des Missbrauchs historischer Narrative und des geschichtlichen Revisionismus durch HistorikerInnen und Nicht-HistorikerInnen in der Region auseinander — wobei gleichzeitig der Ansatz verfolgt wird, den historiographischen Dialog als gesamtes, postjugoslawisches Unterfangen zu führen. Durch die Gesamtschau auf die sich widersprechenden, letztlich einem kriegerischen Verlauf geschuldeten Geschichtsrevisionismen, werden diese erst in ihrer Gesamtheit sichtbar und vollständig dekonstruierbar. Darüber hinaus will das Kollektiv aber auch Erfahrungen der revisionistischen Herausforderung für „professionelle“ Mit-GestalterInnen historiografischer Diskurse aus Deutschland, Europa und global miteinbeziehen: aus diesem Grund ist auch der Lehrstuhl für Südosteuropäische Geschichte der Humboldt-Universität zu Berlin mit Professor Hannes Grandits, Dr. Ruža Fotiadis und Dr. des. Thomas Schad beteiligt. 

Meine Kollegin Ruža Fotiadis spricht am Abend des 28.8.2021 über aktuelle Entwicklungen im historiographischen Diskurs Deutschlands, Aufarbeitung von Geschichte, Fragen zur oft thematisierten Singularität des Holocausts und den sogenannten Neuen Deutschen. V.l.n.r.: Dubravka Stojanović, Ruža Fotiadis, Tvrtko Jakovina, Dragan Markovina. Bildquelle: Thomas Schad.

Von der großen Aktualität und Relevanz von Geschichtsrevisionismen in den Öffentlichkeiten der Region zeugen die sich überschlagenden Nachrichten, Film- und Serienproduktionen, die nicht nur zu großen, öffentlichen Debatten und Verwerfungen führen. Zusammen mit politischen Interventionen werden HistorikerInnen oftmals persönlich marginalisiert und bedroht, ihr institutionelles Wirkungsfeld gegängelt sowie weitere Versuche unternommen, den Raum des Sagbaren einzuengen. Wie Dubravka Stojanović es in ihrem Beitrag im Mai in Zagreb formuliert hatte, wird damit „die psychologische Möglichkeit neuer Probleme“ geschaffen — und schlimmstenfalls der Grund für erneute Konflikte gelegt. Wie Stojanović weiterhin erklärt, habe die Serbische Radikale Partei (Srpska Radikalna Stranka) außerdem im Vorfeld des Festivals KROKODIL gefordert, dieses zu verbieten, weil es die Existenz des unabhängigen Staates Kosovo anerkenne; außerdem sei es in Kroatien zu einer Anzeige gegen den Konferenzteilnehmer Professor Tvrtko Jakovina gekommen, und darüber hinaus stellten alle Beteiligten dieser Veranstaltung ständige Angriffsziele rechtspopulistischer Akteure dar.

In den beiden Titeln HistorikerInnen für den Frieden und Geschichte für die Freiheit wird bereits unmissverständlich angesprochen, worum es in allen Beiträgen der Veranstaltung in Belgrad vordergründig oder indirekt ging: nämlich um die Frage nach der Rolle und Verantwortung von HistorikerInnen und Nicht-HistorikerInnen in der Sicherung von Frieden und Freiheit. All diese Fragen sind im postjugoslawischen Diskursfeld natürlich mitnichten neu, wie SüdosteuropahistorikerInnen, SprachwissenschaftlerInnen, Literatur- und Kulturschaffenden und anderen BeobachterInnen bestens bekannt ist. An dieser Stelle ist daher auch unbedingt das Vorgängerprojekt Wer hat zuerst angefangen? (Ko je prvi počeo?) zu erwähnen, das mit der Verabschiedung der Deklaration „Lasst uns die Geschichte verteidigen“ (Odbranimo Historiju) endete. In der quer durch die Jugosphäre und darüber hinaus unterzeichneten Deklaration heißt es:

In den nach dem Jugoslawien-Zerfall entstandenen Staaten herrscht eine starke revisionistische Einstellung vor. Der historische Revisionismus ist ein Missbrauch der Geschichtswissenschaft bzw. eine absichtliche und tendenziöse Verzerrung der Bilder der Vergangenheit. Darunter versteht sich die Anpassung der Vergangenheit an zeitgemäße politische Bedürfnisse, die Trennung und Hervorhebung erwünschter und Erfinden nicht existierender Daten, die selektive Auswahl historischer Quellen und die Ablehnung aller Tatsachen, die nicht den vorherrschenden politischen Ideen und Programmen entsprechen. Dem gegenüber steht die wünschenswerte Weiterentwicklung wissenschaftlicher Erkenntnisse, die Entdeckung neuer und Reinterpretationen bereits bekannter historischer Quellen, die Anwendung neuer Methoden und Paradigmen, das ständige Überprüfen und Rekontextualisieren, was zu den obligatorischen Arbeitssegmenten von Historikern gehört. 

Alle Staaten haben eine bestimmte Geschichtspolitik, aber nationalistische Ideologien und Kriege haben dazu geführt, dass die Geschichtswissenschaft in den nach dem Jugoslawien-Zerfall entstandenen Staaten besonders ausgeprägt missbraucht wird. Die Geschichtswissenschaft wurde dazu genutzt, um einerseits die Kriege psychologisch vorzubereiten, andererseits aber auch, um nach den Kriegen eine Politik der Ausbeutung der nationalistischen Ideologie aufrechtzuerhalten. Die Geschichtswissenschaft wurde von Politikern, Medien, vielen Interessengruppen, aber auch von Historikern selbst missbraucht.

Der historische Revisionismus wird angewendet, um alte Mythen aufrechtzuerhalten und neue zu schaffen, Stereotypen zu stärken sowie Vorurteile und Hass gegenüber den Nachbarn zu entwickeln. „Wir“ sind immer die Opfer, die „anderen“ sind an allem schuld. Mit der selbstgewählten Opferrolle wird eine paranoide Einstellung zur Geschichte geschaffen, wodurch das Opfer von jeglicher moralischer Rücksicht befreit und der Wunsch nach Rache stimuliert wird. Im Selbstmitleid wird die Nation homogenisiert, ihre Reihen werden kompakter, pluralistische Meinungen werden unterdrückt und Individuen und soziale Gruppen werden in das imaginäre „biologische“ oder „geistige“ Kollektiv eingeflochten. Die Opferrolle lässt uns in der Vergangenheit erstarren und hindert uns daran, nach vorne zu schauen.

Deklaration „Lasst uns die Geschichte verteidigen“ (Odbranimo Historiju)

Die Relevanz der Thematik besteht also nicht so sehr darin, dass hier ein genuin neues Phänomen behandelt würde — sondern vielmehr in zweierlei Entwicklungen: erstens haben sich die genannten geschichtsrevisionistischen Diskurse aus den 1980er-1990er Jahren bis zum heutigen Tag immer weiter verstetigt. Deswegen hat beispielsweise Dragan Markovina aus Zagreb von einer Zementierung der Position und der „geschichtlichen Wahrheit“ des Generals, Historikers, Kriegsführers und ersten Präsidenten der unabhängigen Republik Kroatiens, Franjo Tuđmans, gesprochen; das kroatische Beispiel ist hier jedoch nur e pluribus unum angeführt: es kann problemlos um serbische, bosnische, montenegrinische, albanische, nordmazedonische, slowenische und andere Beispiele ergänzt werden.

Zweitens — und dies ist meine persönliche Beobachtung — hat die schiere Wucht revisionistischer Diskurse der Gegenwart, bedingt durch die mediale Wende und die neuen Realisierungsmöglichkeiten über neue Medien als Diskursvektoren, für ein Gesamtvolumen des Geschichtsrevisionismus und der Geschichtsrevisionismen gesorgt, welches den postjugoslawischen Raum gleichzeitig als europäische „Avantgarde“ erscheinen lassen kann; die ihn aber andererseits neben, lautstärkeren revisionistischen Diskursen gleichzeitig zu peripherisieren droht. In jedem Fall kann von einem Fortdauern und sogar einer Stimulanz des Diskurses gesprochen werden.

Obwohl in diesem Beitrag bereits immer wieder von „postjugoslawisch“ die Rede war, bildet Jugoslawien in den nationalistisch geframeten, gegeneinander gerichteten, revisionistischen Diskursen den „Elefanten im Raum“ — wobei unter ‚Raum‘ der weitere Raum der Öffentlichkeit zu verstehen ist. Jugoslawien ist zwar eine auch in revisionistischen Texten regelmäßig anzutreffende Kategorie; diesen Diskursen ist die Vorstellung eines ge-teilten — und nicht eines zer-teilten — gemeinsamen politischen Raums jedoch abhorrent. Beim Projekt HistorikerInnen für den Frieden dagegen wird aus dem geteilten bzw. gemeinsamen, postjugoslawischen Erfahrungs-, Wissens-, Schreibens-, Lesens- und Kommunikationshorizont kein Hehl gemacht: nicht nur ist durchweg von der gemeinsamen Sprache (zajednički jezik) die Rede, derer sich alle KonferenzteilnehmerInnen mit größter Selbstverständlichkeit und ohne „Umstellung“ die gesamte Konferenz hindurch bedienten; allen Beteiligten war außerdem eine verbindende, tolerante und weltoffene Grundhaltung in ihren Gesprächsbeiträgen zu eigen.

Doch bevor ich im übernächsten Teil dieses Berichts genauer auf die einzelnen (sowie meinen eigenen) Konferenzbeiträge eingehe, soll im nächsten Beitrag Jugoslawien über einen essayistischen Reisebericht nachgegangen werden. Ein paar offene Fragen zur Medialisierung des Diskurses über Online Social Media und die Problematik des Plattform- und Meinungskapitalismus werden hier nicht genauer diskutiert, aber am Runden Tisch in Berlin (im Oktober 2021) wieder aufgenommen: Dort geht es um Vernetzte Historiographien in Südosteuropa und Deutschland — worüber in einem Bericht von Lucija Bakšić auf Connections nachgelesen werden kann.

Es folgen:

Teil 2: Jugoslawien, der Elefant im Raum

Teil 3: Die weltoffene Metropole auf dem Festival Krokodil: Literatur und Historiographie unter einem Dach

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