[Prigovor Savjesti] Traurige Tropen der Balkanroute (II)

Als ich mit diesem Beitrag begann, schrieben wir Februar 2016 und ich saß in einem deutschen Zug. Ich hielt mich damals eigentlich bereits seit November 2015 zu einem zehnmonatigen Forschungsstipendium der Europäischen Kommission in Sarajevo auf, wo ich dank der Einladung durch Professor Husnija Kamberović an das Institut für Geschichte (Institut za Istoriju) der Universität Sarajevo angebunden war. Wie im vorangegangenen Beitrag unter dem Titel [Kulturdiplomatie des Alltags] bildet eine kurze Reise innerhalb dieses Aufenthalts den Rahmen des Beitrags.

Diesmal führte mich meine Reise nach Deutschland, auf eine Zugfahrt vom unterfränkischen Haßfurt am Main, wo ich meine Familie besucht hatte, nach Berlin, wo ich unter anderem einen Vortrag über meinen Forschungsstand halten und meine Gutachter treffen würde.

Der Beitrag changiert wieder zwischen verschiedenen erzählten Zeiten und Themen. Es geht um die Balkanroute, Flucht und Zwangsmigration, weil diese Themen mit den Begriffen ‚Willkommenskultur ‚und ‚Flüchtlingskrise‘ damals den öffentlichen Diskurs stark bestimmten. Dieser Beitrag schließt auch an einen älteren, nicht abgeschlossenen Beitrag unter dem Titel [Traurige Tropen der Balkanroute] an, der im Anschluss an meine spätherbstliche Reise 2014 und die damalige Begegnung mit Flüchtenden in einem makedonischen Autobahntunnel entstanden war.

Alle drei Beiträge und Orte verbindet eines: genau wie in Istanbul, Skopje oder Belgrad befand ich mich während der Zugreise von Haßfurt nach Berlin auf der Balkanroute, deren nördliche Abschnitte sich über Österreich und Deutschland bis an den Ärmelkanal und in die skandinavischen Länder erstrecken. Der Zug als mobiler öffentlicher Raum stellt dabei einen Ort der Begegnung und der Spekulation dar, an dem (abgesehen von der Klassenpferchung in „Erste Klasse“ und „Zweite Klasse“) Flüchtende, Einheimische und andere Reisende so nah wie selten auf engstem Raum zusammenkommen. Das heißt natürlich nicht, dass sie deshalb direkt miteinander kommunizieren: auch ich war zu schüchtern, jemanden direkt anzusprechen. Immerhin habe ich die Gelegenheit genutzt, die Auseinandersetzung mit den über die Balkanroute reisenden „großen Themen“ ein wenig zu vertiefen.

Die Geflüchteten im deutschen und türkischen Diskursfeld

Wie bereits angesprochen waren in jenem Februar 2016 die Balkanroute, die Ankunft Geflüchteter in großer Zahl des Vorjahrs, die Kölner Silvesternacht 2015-2016, Angela Merkels Flüchtlingspolitik und ihr geflügeltes Wort „[Wir schaffen das]“ aus dem Sommer 2015, das Erstarken populistischer, neo-rechter Trends und Parteien sowie Anschläge in aller Munde. Man kann sagen, dass diese Themen diskursbestimmend in den deutschsprachigen Medien waren, indem sie andere Themen in der öffentlichen Wahrnehmung sogar überdeckten.

Doch auch in den türkischen Medien wurde das Thema Flucht groß inszeniert, was angesichts der dortigen Geflüchtetenzahlen alles andere als überraschend ist. Darüber hinaus lieferten Europa und Deutschland mit ihrem Umgang mit Geflüchteten genau die Bilder, die der türkische Präsident für seine Ost-West-Setzungen so dringend benötigte. Im Jahr 2015 ist es nicht selten vorgekommen, dass ich in Gespräche verwickelt wurde, in denen türkische Gesprächspartner — meistens waren das zufällige Begegnungen wie Taxifahrer — die Türkei lobten und Europa für seine Hartherzigkeit scholten. Dieses Grundmuster würde sich in der Folgezeit bewahren und vertiefen, denn der demagogische, populistische türkische Präsident konnte es gut für seine gesottenen Propagandareden gebrauchen.

Beiden Diskursfeldern, also im deutschsprachigen und türkischsprachigen Bereich, ist eine strenge Binarität gemein, welche die Geflüchteten selbst zu Objekten für die jeweils eigenen Projektionen macht. Am positiven Pol dieser Binarität stand die Willkommenskultur in Deutschland und die (oft indirekte) Rede von den sogenannten Ensar und den Muhacir (Helfer und Geholfenen) in der Türkei. Den negativen Pol des Diskursfeldes bestimmten ebenso in beiden Diskursfeldern Narrative über Geflüchtete als Störende, Fremde, Unerwünschte und Gefahr. Dies will ich im Folgenden ein wenig genauer erläutern.

Ensar und Muhacir

Ensar und Muhacir (gesprochen: Muhadschir) dürften außerhalb des türkischen und muslimischen Kontextes eher unbekannt sein. Diesen Bezeichnungen liegt ein mythischer Urtext zugrunde, nämlich der islamische Gründungsmythos der Hijra (Türkisch: Hicret) der Migration bzw. Flucht der ersten Muslime von Mekka nach Medina. Letzteres soll bis zu diesem Ereignis noch Yathrib geheißen haben: erst durch die Migration der Hijra wurde Yathrib zu Medina, der Hedschas-Stadt, die auch heute noch diesen Namen trägt und als zweitheiligster Ort des Islam gilt.

Wie der neue Name dieser ersten muslimischen Stadt, lautet auch das arabische Wort für Stadt Medina. Auch die Idee von der islamischen Zivilisation (Medeniyet) als urbaner Zivilisation, welche in der AKP-regierten Türkei während meiner Feldstudien Hochkonjunktur hatte, korreliert mit dem Narrativ dieses frühen Exodus. Im türkischen Medeniyet-Diskurs, der erst seit den späten 1990er Jahren populär geworden ist und von islamistischen Politikern immer wieder aufgegriffen wird, wird betont, dass mit der Stadtordnung von Medina (auf Türkisch wird sie Medine Vesikası genannt) die erste islamische Verfassung formuliert worden sei. Diese wird auch oft als Beweis der Überlegenheit der islamischen Zivilisation gegenüber der westlichen Zivilisation bemüht. In der Türkei herrscht in den letzten Jahren ein regelrechter Kulturkampf zwischen Vertretern unterschiedlicher Vorstellungen von „Zivilisation“, „Kultur“ und Bildung, und die spätantike Verfassung von Medina wird hier stets bemüht.

Die Geflüchteten der Hijra wurden Muhacir (Arab. Muhajirun) genannt, was auch der Begriff ist, mit dem bis vor einigen Jahren im türkischen Besiedlungsgesetz (İskan Kanunu) muslimische Einwanderer vom Balkan bezeichnet wurden. Die Einwohner Yathribs (Medinas), die den Muhacir halfen, wurden Ensar (Arabisch: Ansar) genannt, und zwischen beiden soll es laut Sunna und Koran zu „Verschwisterungen“ gekommen sein. Die Ensar sind in diesem Narrativ also die Helfer, die Muhacir die Geholfenen. Die verbindende Solidarität zwischen ihnen besteht aus dem gemeinsamen Glauben und der Hinwendung zum Propheten Muhammad, der insbesondere seit der medinensischen Zeit auch zum politischen Führer wurde.

Der Gründungsmythos der Hijra sowie die in ihm auftauchenden Tropen des Helfens, des Geholfenwerdens und der Zivilisation (und damit auch der Nicht-Zivilisiertheit der Anderen) waren während meiner Feldstudien in der Türkei allgegenwärtig im öffentlichen Diskurs. Ganz besonders gilt dies für Akteure der herrschenden Partei AKP und ihre UnterstützerInnen — auch auf dem Balkan. Unter vielen Muslimen des Balkans stießen die propagandistischen Worte türkischer Islamisten und Erdoğans auf offene Ohren, denn das grundsätzliche Helfen des türkischen Staates, das öffentlich ständig groß inszeniert wurde, versprach auch potenziell Schutz für den Fall einer neueren Verfolgung durch Nichtmuslime, wie zuletzt in den 1990er und frühen 2000er Jahren. In Bosnien haben zum Beispiel sowohl Erdoğan als auch der Sohn des früheren bosniakischen Präsidenten, Bakir Izetbegović, unzählige Male das Wort Alija Izetbegovićs vom Sterbebett kolportiert, wonach dieser Bosnien und die Sicherheit des (muslimischen) bosniakischen Volkes Erdoğan in den „Schutzbesitz“ gegeben habe: so könnte man das Wort Emanet übersetzen, was ebenfalls ein zentraler Bestandteil des weiteren Hijra- und Medeniyet-Diskurses ist. Die Türkei figuriert darin als sicherer Hafen für Muslime, ihr Führer als Beschützer der Muslime — ob in Myanmar, im Westen oder gar auf dem Begräbnis von Muhammad Ali 2016 in den USA, wo es allerdings zu einer Blamage kam.

Die deutsche „Willkommenskultur“ und Geflüchtete im Zug

Deutsche „Willkommenskultur“ könnte man freilich aus einem beliebigen Fernseh- oder Zeitungsbeitrag aus dem Sommer/Herbst 2016 zitieren, als es die Geflüchteten in vorher ungekannten Bildern zu Fuß über die Balkanroute nach Ungarn und weiter, schließlich mit Zügen und Bussen bis in die bayerische Landeshauptstadt München und von dort ins ganze Land geschafft hatten. Die lokale Nachrichtenseite aus der Oberpfalz übertreibt vielleicht ein wenig, wenn sie schreibt, dass „fast die ganze Welt“ in jenen Tagen auf München blickte, denn die Mainstream-Medien in der Türkei zogen es vor, über die Fußtritte ungarischer Journalisten zu berichten. Dennoch trifft das folgende Zitat die Stimmung wohl sehr gut:

Die „Stars“ in diesen Spätsommertagen sind aber völlig Unbekannte: Zehntausende Männer, Frauen und Kinder, die die gefährliche Flucht aus ihren Heimatländern wie Syrien und Afghanistan über die Balkan-Route gewagt haben. Der Sehnsuchtsort der meisten: Deutschland mit „Mama Merkel“. Der Hauptbahnhof wird innerhalb kürzester Zeit zum größten Dreh- und Angelpunkt der Flüchtlingsbewegungen in Europa. Fast die ganze Welt blickt nun nach München. Und die selbsternannte „Weltstadt mit Herz“ zeigt, was sie unter „Willkommenskultur“ versteht. (Onetz.de vom 3.9.2016)

An dieser Willkommenskultur schieden sich teilweise die Geister. In den sozialen Medien wurde teils sehr emotional diskutiert, ob es sich nicht nur um eine sehr spezielle Form der Herablassung und Almosengabe seitens der Helfenden handelte.

Auch in der Türkei, wo sich durch die geographische Lage in direkter Nachbarschaft zu den Kriegsgebieten sehr viel mehr Geflüchtete aufhalten als in Deutschland, gibt es gesellschaftliche Spannungen und politische Instrumentalisierungen. Der Unterschied besteht allerdings darin, dass die populistische türkische Regierung unter neo-osmanistischen Vorzeichen in ihren Leitmedien einen inkludierenden Ansatz gegenüber den Geflüchteten verfolgt. Obwohl es auch in der Türkei Gewalt und Ablehnung gegenüber Geflüchteten gibt, wird dennoch Europa in dieser Rolle in den Mittelpunkt gerückt: während es geradezu zum zivilisatorischen „Code“ der islamischen Zivilisation gehöre, zu helfen, sei Europa sei jeher herzlos und unmenschlich.

Es ist auffällig, wie viele Flüchtende auf Deutschlands Schienen unterwegs sind. Schon im Zug von Haßfurt nach Würzburg sitzen vor mir, hinter mir, auf den ganzen Zug verteilt Flüchtende aus verschiedenen Ecken der Welt. Die meisten dürften aus dem Nahen Osten, aus Syrien und dem Irak kommen. Man hört viel Arabisch. Die Leute sehen insgesamt ziemlich fertig aus. Die beiden Jungs in der Vierersitzgruppe vor mir sprechen kaum miteinander. Während wir alle immer wieder Blicke durch das Fenster auf die wellig-lehmige Landschaft des Maindreiecks werfen, treffen sich unsere Blicke hie und da – mal im Spiegelbild der Fensterscheibe, mal direkt. Der ältere der beiden Jungen hat ein wettergegerbtes Gesicht. Ich denke an die Strapazen der Balkanroute, und was sie womöglich bereits alles hinter sich haben. Der andere Junge wird höchstens 14, 15 Jahre alt sein, sein Bartwuchs hat sich noch nicht richtig durchgesetzt.

Während wir im Zug von Bayern nach Berlin sitzen, wird Aleppo durch russische Bombardements, Assad-Truppen, die Al-Nusra Front und andere Kriegsparteien durch mörderische Waffen zerstört. Die Waffen kommen auch und besonders aus unserem Land. Der Rest kommt aus Russland, Frankreich, den USA, Großbritannien und anderen Ländern, die alle an diesem Krieg verdienen; nicht zu vergessen auch Länder wie die Türkei und Saudi-Arabien mit ihren aufgeblähten Militärapparaten, die wiederum ebenfalls hauptsächlich von europäischen Produzenten ihre Waffen beziehen und eine ebenso schändliche Rolle einnehmen. Solange es Zerstörbares gibt, und solange sich noch mordwillige Handlanger aus allen möglichen Ländern finden, die man nur mit Ideologie und Waffen zu berauschen braucht. Ein sich gegenseitig bedingender Kreislauf: Wut, Wahnsinn, Waffenhandel. Irgendwie dachte ich, dass es in Aleppo kaum mehr etwas zu zerstören gibt, so oft wie schon Bilder unbarmherziger Zerstörungen dieser Stadt kursierten. Ganz zu schweigen von Homs, den Antikenfeldern Palmyras, und wie die geschändeten Orte Syriens alle heißen.

God’s own lands als Chiffre vom Ende der Zivilisation

Aleppo und Damaskus — uralte Städte und Verdichtungspunkte von Zivilisationen, Bezugspunkte und Quellen auch unserer jetzigen, berauschten Zivilisation, die einem immer sichtbarer werdenden, katastrophischen Progress entgegen wächst. Ich „kenne“ diese Orte, Damaskus und Aleppo, schon aus der Bibel, ohne je dort gewesen zu sein. Natürlich weiß ich nicht, wie es ist, durch die Straßen dieser Städte zu gehen, dort Freunde und Familie zu haben. Ich kenne diese Orte also nicht wirklich. Trotzdem trugen und tragen diese Orte für mich eine Bedeutung, die jetzt drastisch umgedeutet wird, und zwar nicht nur durch meine fortschreitende Entchristianisierung. Für meine Sicht bedingend sind jedoch primär diese christlichen Texte. Der Nachklang der syrischen Städtenamen reiht sich ein in eine Bedeutungskette, in der sich Orte wie Jericho, Betlehem, Jerusalem, Palästina, Kanaan, Ägypten, Persien, Antiochia und Caesarea befinden.

Das ist so ähnlich, wie wenn früher Moskau sprach: sprach früher Moskau, hörte man genau hin, wusste aber vor dem Hören des eigentlichen propositionellen Gehalts  der Botschaft Moskaus bereits einen wesentlichen Teil dessen, was da kommen würde. Man wusste, aus welcher Haltung man Moskau zuhören konnte und mit welchen Deutungsschablonen zu hantieren war. Man kannte irgendwie Moskau, ohne je dort gewesen zu sein, man hatte sich stabile, strukturierende Vorurteile eingerichtet. Moskau – natürlich eine Metonymie – konnte gegen das Verständnis der westlichen Rezipienten soviel ansprechen wie es wollte: nie gab es, nie gibt es eine „eigentliche“ Proposition im Sprechakt.

Immer ist die Rezeption Teil des Sprechaktes, in dem nicht nur der Sender bestimmt, was gesagt und was verstanden wird. Heute spricht Moskau auch wieder oder immer noch — und selbst heute, nach dem Kalten Krieg, klingt mit, was damals mitklang. Der Unterschied zu den biblischen oder koranischen Assoziationen um die levantinischen Kriegsgebiete besteht, zumindest für viele mitteleuropäische Rezipientinnen, darin, dass der Kalte Krieg oft noch selbst erlebt wurde und direkt erinnert wird. Es liegen keine Jahrtausende zwischen dem angenommenen Zeitpunkt der Narration und ihrer Rezeption.

Ich weiß nicht, wie Menschen dazu stehen, die nicht mit Kinderbibel, Sonntagsmessen, Krippenspiel, evangelischem Präparanden- und Konfirmandenunterricht aufgewachsen sind. Ich wurde als Kind mit dem Christentum besprochen, und dieses Christentum wird auch nie mehr ganz weg gehen, obwohl ich mich von allen theistischen Religionen endgültig und unwiederbringlich verabschiedet habe. Es geht mir wie vielen: das Christentum hat sich folklorisiert, entzaubert, es hat den Weg des vorchristlichen Polytheismus eingeschlagen.

Zuerst bewohnten die Götter das Pantheon. Dann zog Gott dort ein. Schließlich wurde das Pantheon zur Kirche, die Kirche zum Museum. Das alles ist nichts neues. Da sich bei mir die Entzauberung, also der Tod Gottes – einer naiven, theistischen Vaterfigur – erst im zwölften oder dreizehnten Lebensjahr (und auf jeden Fall vor der Konfirmation) vollzogen hat, bin ich sogar ausgesprochen spät dran. Das, was gerade dem Islam geschieht (ja, ich weiß: „den Islam gibt es nicht“), ist laut Nietzsche, ja schon bei Hegel, der „christlichen Zivilisation“ längst geschehen, auch wenn das Sterben Gottes über einen langen Zeitraum anhält und „noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen“ ist:

Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet, – ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir diess gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? […] Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder?

Die fröhliche Wissenschaft, Drittes Buch, Aphorismus 125 „Der tolle Mensch“ (KSA 3, S. 480 ff.), zit. nach Wikipedia

Da ich aber mit dem Christentum besprochen wurde, „Bibelaufschlagen“ geübt habe, gewissermaßen also „bibelfest“ bin – und darin besteht der Vorteil einer christlichen Erziehung aus heutiger Sicht für mich – werde ich immer wissen, was Jesus in der Bergpredigt gesagt haben soll. Ich werde mich an die mythischen Genealogien des alten Testaments erinnern. Namen wie Sarah und Abraham werde ich für immer uralten Elternfiguren zuordnen können. Bei Senfkörnern werde ich an das Gleichnis des Senfkorns denken, das Rote Meer werde ich sich teilen können sehen. Bei Bethlehem denke ich zuerst an Weihnachten, dann erst an die Westbank. Die Ortsnamen Syriens sind ebenso verwoben in uralte zivilisatorische Grundtexte. In meiner Matrix gibt es im Moment zwei Damaskus und zwei Aleppo. Der Bedeutungsklang der ersten beiden Damaskus und Aleppo – die biblischen Orte – wird jedoch lautstark vom Geräusch des Krieges in Syrien überlagert. Die anderen beiden Damaskus und Aleppo drohen, den Urtext dauerhaft zu überlagern. Die biblischen Orte rücken immer näher in die mythischen Landschaften um den Berg Olymp. In Richtung Urtext.

Vom Urtext zum Nachrichtentext

Was heißt „Urtext“? Wenn ich Urtext schreibe, dann heißt das nicht, dass der biblische Text der Urtext ist. Deutschland ist ohnehin inzwischen in weiten Gebieten so stark entchristianisiert, dass nicht jeder mit christlichen Texten aufgewachsen ist. Manchmal tun mir Menschen leid, die nicht mit den Urtexten aufgewachsen sind, wenn ich an meine Urtexte denke, denn ich kann mir gar nicht vorstellen, welchen Ersatz sie finden. Müssen sie, wie ich damals im Lateinunterricht den griechisch-römischen Pantheon gelernt habe, die Geschichten aus den jüdischen, christlichen oder islamischen Texten und Überlieferungen nachlernen? Kann jemand, der selbst nie an eine theistische Projektion von Gott geglaubt hat, die/der nie verstanden hat, wie andere glauben, über den Glauben der anderen schreiben und forschen? Wie kommt es, dass sich Menschen um den Fortbestand eines gottlosen Gottsystems sorgen, obwohl sie selbst sich nie von Gott haben emanzipieren müssen, weil es in ihrem Leben nie einen Gott gab? Paradoxerweise scheint es gerade so zu sein, dass in besonderem Maße diejenigen um den Verlust der Christlichkeit Europas fürchten, die mit christlichen Texten eigentlich gar nicht vertraut sind. Man denke nur an Leipzig, Dresden, Freital, Pegida, Legida. Wenn jemand mit Verlustängsten zum christlichen Charakter Europas zu kämpfen haben dürfte, dann Menschen wie ich, die mit diesen Texten aufgewachsen sind.

Natürlich gibt es auch viele, die mit jüdischen und islamischen Texten aufgewachsen sind, und deshalb ähnliche Assoziationen wie ich mit den syrischen Orten verbinden dürften. Religiöse Texte fallen in den Bereich des Mythos, was umso deutlicher wird, wenn man sie untereinander vergleicht, und immer wieder zum verwechseln ähnliche Themen und Motive entdeckt. Ich habe an der Universität einmal eine irakische Stipendiatin kennengelernt, die mir erzählt hat, dass manchen irakischen Kindern Geschichten aus dem Gilgamesch-Epos erzählt werden. Auch aus diesem „Urtext“ lassen sich Texte in den späteren Religionsbüchern finden, was noch einmal die Langlebigkeit mythischer Motive – sogenannter Mythologeme – unterstreicht. Auch „epochale Trends“ wie Polytheismus und Monotheismus überstehen sie hartnäckig.

Mich persönlich beunruhigt die Abwesenheit von Christentum in meinem Leben keineswegs, denn ich habe mich bewusst davon emanzipiert. Festzustellen bleibt für mich hinsichtlich der Kriege auf den geographischen Mythenfeldern Syriens und des gesamten Nahen Ostens, dass Kulturdenkmäler unermesslichen Wertes verloren gegangen sind – Erinnerungsposten, Institutionalisierungen mythischer Urtexte. Setzt man mythische Urtexte als konstitutiv für ein zivilisatorisches System, so muss man die Kriege im Nahen Osten als Zivilisationsbruch bezeichnen – und zwar auf einem Stellvertreterfeld. Alle an diesen Kriegen Beteiligte werden in einen neuen Text Eingang finden.

Die Folgen des Krieges von 2003

Immer wieder muss ich an das Lied [Schachmatt von Nina Hagen] denken, weil ich es mit A. und H., meinen beiden Freiwilligenkollegen, am Elften September 2001 in Sarajevo gehört habe. Mit diesem Tag und mit seinem kriegerischen Nachhall hat sich eine unvergessene, apokalyptische Stimmung über unsere letzten gemeinsamen Tage als Freiwillige in Bosnien gelegt:

Das Ende der Welt, ist euch das egal / Wat’n Jammertal, wat’ne Seelenqual / Ist sich denn hier keiner Gewahr / Es besteht absolute Kriegsgefahr A- und B- und C-Waffen /

(…)

Wie sie nur gaffen, gaffen und raffen / ? unsere Erde aus? / Ja, haben haben, wie die doofen Schaben / Aber wo bleiben unsere Gaben? / (…) / Sie werden schlucken Stadt für Stadt, Schachmatt / Land für Land, ach du großer Elefant / Nichts ist hier mehr mit charmant und garlant / Alles abgebrannt, kein Geld mehr da für Flaschenpfand / Es ist eine große Schand! / Es ist eine große Schand!

Zu Nina auf Youtube

Eine Schand, die Frau Merkel damals bekanntlich am liebsten aktiv mitgestaltet hätte, falls ihre damaligen Worte mehr gewesen sein sollten als oppositionelles Manöver. Was wurde nicht nach Amerika geflogen und Bündnistreue versichert! Wir stehen jetzt jedenfalls an einem Trümmerfeld, das genau so aussieht, wie es 2001 bereits absehbar war. Das muss man sich angesichts der laufenden Diskussionen vor Augen halten. Und man sollte daran erinnern, dass es einer großen Masse von Menschen damals schon klar war, dass die amerikanische und verbündete Außenpolitik ein extrem großer Fehler war.

Gestern vor 13 Jahren, am 15.2.2003, fanddas in der Menschheitsgeschichte größte Protest-Event“ statt, wie es die englische Wikipedia zitiert und belegt. Ich bin damals auch zur Demo in Berlin gegangen, habe dort meine Schwester und eine Freundin getroffen, die extra mit dem Bus aus Franken angereist sind. Die Mehrheit der Menschen weltweit wollte diesen initialen Zerrüttungskrieg gegen den Irak nicht, der sich von Mesopotamien aus über die ganze Levante ausgebreitet hat, und inzwischen Nachbarstaaten wie die Türkei und den Libanon destabilisiert. Anders als beim NATO-Angriff auf Rest-Jugoslawien, als sich manche „Linke“ auf die Seite von Slobodan Milošević stellten, habe ich niemanden getroffen, der sich zum Tyrannen und Psychopathen Saddam Hussein bekannt hätte. Auch das machte die Proteste besonders: die Menschen liesen sich von der geplanten Augenwischerei, von den bipolaren Narrativen über die „Achse des Bösen“ nicht täuschen. Sie wurden von ihren Repräsentanten ganz einfach für dumm verkauft.

Frau Merkel war das damals egal – obwohl man natürlich hinzufügen muss, dass sie damals nicht annähernd so machtvoll war wie heute. Über Frau Merkels Einstellungen hinsichtlich der „Flüchtlingsfrage“ wird gerade unglaublich viel geschrieben in deutschen Feuilletons. In einem nett geschriebenen, aber völlig leeren Beitrag habe ich gelesen, man könne sie nicht verstehen, wenn man die Rolle des DDR-Pfarrhauses nicht beachte, dem sie entstamme. Das mag stimmen. Über die Rolle evangelischer Pfarrhäuser in der intellektuellen und politischen Entwicklung Deutschlands wurde viel geschrieben; auch Nietzsche entstammte schließlich einem evangelischen Pfarrhaus, wie in diesem FAZ – Artikel dargestellt. Im Jahr 2003, als sie aus der Opposition heraus den amerikanisch-britischen Angriffskrieg befürwortete, hat Frau Merkel die Kirche jedenfalls im Dorf gelassen.

Wo war noch mal die Friedensbewegung?

Es war eine motivationsraubende, hoffnungsfressende Zeit: die alte Energie war noch da, aber sie schwand zunehmend. Ich kann mich an eines jener einfältigen Berlin-Gespräche erinnern, das direkt nach der Demo stattfand. Eine enge Freundin wohnte damals in einer sogenannten „linken WG im Altbau“, wo alle Anwesenden selbstverständlich berlinlinks waren. Zu allem hatten sie eine staatskritische Meinung, solange diese Antistaatlichkeit ihre eigenen, verschleierten Grundfesten nicht bedrohte. Staatliche Zerrüttung und Zusammenbruch von Staatlichkeit als problematische und schwer zu behebende Ursache für Kriege waren dagegen selten ein kritisch diskutiertes Thema, zumindest soweit ich es mitbekommen habe.

Nebenbei gesagt: ich habe mich immer gefragt, warum politische Ansichten mit stereotypen Lebensweisen, mit einer Art Lifestyle einhergehen müssen, und zwar in einer Ausprägung, die weit darüber hinausgeht, seine Überzeugungen konsequent auszuleben. Ich meine einen Lifestyle, der eigene Farben, Gerüche, Kleidungsstile, Haarschnitte und bodily practices (wie eine bestimmte Art von Piercings oder Tattoos) kennt. Polyamore Beziehungen gehören für mich nicht direkt zum Repertoire dieses Lifestyles, obwohl ich mich erinnere, dass dies ein Thema in jener WG war, was man sich mit selbst gebauten Hochbetten zusammendenken muss. Es wurde sich dort tendenziell vegetarisch ernährt: auch das ist kein eindeutiges Milieukennzeichen für eine berlinlinke WG, aber doch irgendwie dazugehörig zum Potpourri des Lifestyles. Kleidungsstücke wie Kapuzenpullis hatten da meist erdige Mischfarben wie Khaki, Violett, Blau, Beige und Schwarz. Das Putzen wurde zwar im Plenum besprochen, doch trotzdem war es nirgends wirklich sauber. Zusammen genommen bildete so eine berlinlinke WG aus meiner Sicht doch irgendwie ein gelebtes Klischee, ein Art Biotop. Aber all diese Äußerlichkeiten störten mich wirklich überhaupt nicht — ich finde sie nur bemerkenswert.

Was mich dort aber störte, war eine bestimmte, ich nenne sie eben „berlinlinke“ Haltung, die weder konsequent noch radikal war, wenn es um grundsätzliche Fragen wie Krieg und Frieden ging. Dort jedenfalls, irgendwo auf einem muffigen Sofa sitzend, erzählte ich von meiner Teilnahme an der oben genannten Großdemonstration gegen den Irakkrieg. Es folgte zuerst betretenes, peinliches Schweigen. Dann kam schnell belehrende Kritik, eine Art Lektion in Dogmatik: wenn man doch links sei, dann könne man doch an keiner Querfront-Veranstaltung teilnehmen, die dem Antiamerikanismus und Antisemitismus unter dem Deckmantel der Israel-Kritik Aufwind verschaffe.

Aha. Ich war jetzt also Teilnehmer an einer Querfront-Veranstaltung gewesen. Gut, dass man mir das mitteilte, denn ich war ja überzeugt davon gewesen, dass ich nur eine einzige Sache getan hatte: ich hatte ein klitzekleines Bisschen mehr getan, als GAR NICHTS zu tun. Denn ich fühlte mich machtlos. Und dieses klitzekleine bisschen mehr als GAR NICHTS soll jetzt also auch noch ein Steigbügeldienst für rechte, profaschistische Kräfte gewesen sein. Abgesehen davon, dass ich zuerst überhaupt nicht wusste, was ich von dieser Kritik zu halten hatte, fragte ich mich, wieviel mehr als ein klitzekleines bisschen GAR NICHTS meine berlinlinken LehrerInnen denn getan hatten, um dem Krieg ein Nein entgegenzuhalten. Eine VoKü? Ein Plenum? Oder war es ihre generell aufgeklärtere Gesinnung?

Man darf sich davon nicht irritieren lassen — denn das ist (zumindest war) berlinlinks: gepaart mit einem grundsätzlichen Pessimismus, der teils ins Nazi-Großelternhaus zurückreicht. In diesem inselhaften Biotop, das Berlin bis zur Ankunft der Hipster mehr oder weniger zu sein versuchte, war jedes politische Engagement bezüglich der großen Fragen ziemlich sinnlos. In berlinlinken Milieus ging es eher um kleine Fragen, und es wurde geglaubt, dass in den kleinen Fragen das Große besser zu bearbeiten war. Vielleicht stimmt das ja auch. Aber es gab da eine Form der Uniformiertheit, der Traditionen und des formelhaften Denkens „mit Geländer“, was bei mir bewirkte, dass ich mich keiner der bestehenden Solidaritäts- und Protestgruppen für lange Zeit anschließen konnte.

Alles schien irgendwie halbgar: nichtssagend, nicht zum Punkt gebracht, trotz der Größe der Stadt miniklein. In Sarajevo war es genau umgekehrt: dort war die Stadt zwar klein, aber man hatte immer mit viel größeren Kreisen von Leuten zu tun. Ich wollte meine Zeit nicht in Plena zerreden, wo es stundenlang um nichts anderes als um eine Wohnung ging. Ich konnte in einem Kneipenprojekt kein progressives Lebensprojekt erblicken. Außerdem waren alle permanent verstritten. Kaum hatte zum Beispiel Attac das Feld betreten, geriet Attac schon wieder in Verruf. Es gab nicht nur einen CSD, sondern zwei oder drei CSDs, die sich gegenseitig spinnefeind waren. Not my world.

Oft wünschte ich mir damals, ich hätte Sarajevo nicht verlassen und wäre in den weiteren, aus meiner Sicht sehr viel relevanteren Kreisen der dortigen Gewissensverweigerer geblieben. Doch dort herrschten ebenfalls zunehmend pessimistische Verhältnisse. Meine Freiwilligenzeit war zufällig in ein kurz anhaltendes Zeitfenster der optimistischen Grundstimmung gefallen: in einer unmittelbaren Nachkriegsgesellschaft müssen die Dinge besser werden. An dieser Sicht auf die ganz frühen 2000er in Bosnien ist sicherlich viel Verklärung — doch ich bin andererseits auch nicht der einzige, der diese Wahrnehmung zu jener Zeit geäußert hat.

Kriegsgegnerschaft ist heute identitär geworden

Ein inzwischen aus der Herzegowina nach Italien ausgewanderter Freund, mit dem ich in der Kampagne für Gewissensverweigerung in Bosnien-Herzegowina (Kampanja za Prigovor Savjesti u BiH) zusammen gearbeitet habe, hat in einem Facebook-Post von 2016 daran erinnert, wie bedeutungslos und gleichzeitig bedeutungsvoll diese Proteste waren. Ich zitiere sinngemäß: „Seht her! Ihr könnt zu Millionen auf die Straßen gehen und dagegen demonstrieren: wir machen trotzdem Krieg. Wir lügen euch direkt ins Gesicht.“ Es war eine Demütigung und Entmächtigung, wie man sie in Nichtkriegsgesellschaften selten erleben kann. Unzählige Menschen wurden in die Hände von Extremisten und Bauernfängern getrieben — Leute, für die man in berlinlinken Kreisen wahrscheinlich eher Ignoranz übrig hatte. Vielleicht auch, weil man es in Berlin nie geschafft hat, größere Bündnisse mit Kreisen außerhalb des eigenen Biotops zu schmieden. Und ich spreche hier natürlich nicht über rechtsradikale Kreise: ich meine nicht-uniformierte Gruppen, die das in Berlin oft völlig zu unrecht verwendete Prädikat „bunt“ verdient hätten.

Die Friedensbewegung, wenn es sie in den Vorjahren als solche überhaupt noch gab, glitt ohne jeden weiteren Pieps in eine Depression ab. Es war, als hätte Margaret Thatcher noch einmal aus ihrem kalten Grab mit der eisernen Faus ausgeholt, um außerparlamentarischen Organisationsformen einen letzten Todesschlag zu versetzen. Dies verdient noch ein paar Überlegungen.

Nun ist es grundsätzlich nicht so, dass es sehr viele Beispiele von Kriegsgegnerschaft und Protestbewegungen gegeben hätte, die Kriege effektiv verhindert hätten. Sowohl im Vietnamkrieg der USA als auch im Afghanistankrieg der UdSSR waren es nicht so sehr die demonstrierenden Massen als die Verluste in den Kriegen selbst, die das Blatt wendeten, auch in den öffentlichen Meinungen. Die zahlreichen Antikriegs-Demonstrationen in Bosnien vor dem Krieg, von denen ich einige TeilnehmerInnen und ihre Erfahrungsberichte gut kenne, konnten dem mit aller Brutalität einsetzenden, jahrelang anhaltenden Krieg nichts Substanzielles entgegensetzen.

Deshalb bin ich skeptisch, was den Erfolg solcher Demonstrationen angeht — und deshalb habe ich auch zuvor geschrieben, dass mein Gang zur Antikriegsdemo für mich nicht viel mehr bedeutet hat, als ein klitzekleines Bisschen mehr zu tun als GAR NICHTS. Hinsichtlich der Einwände über die anderen DemonstrationsteilnehmerInnen wäre zu sagen, dass ich bei einer Großdemonstration mit zigtausend TeilnehmerInnen natürlich davon ausgehe, dass sich unter den TeilnehmerInnen Leute unterschiedlichster Couleur befinden, mit denen ich mir in anderen Fragen gar nichts zu sagen hätte oder eklatant anderer Meinung bin. Immer wird es Leute geben, die eine Demonstration und ihren Anlass zu eigenen Zwecken ausschlachten wollen. Auf der Berliner Antikriegsdemo 2003 habe ich zum Beispiel Leute gesehen, die einen eindeutig anti-israelischen, gleichzeitig islamistischen Hintergrund hatten, wovon ich mich natürlich distanziere. Aber das waren nicht die Ideen des Bündnisses hinter dieser Demonstration. Die absolute Mehrheit ist demonstrieren gegangen, weil sie gegen diesen Krieg und die Unverfrorenheit der ihm vorausgegangenen, offensichtlich konstruierten Lügen der amerikanischen Regierung war.

Doch mehr als ein Jahrzehnt nach 2003 hat sich etwas in der Kultur der Kriegsgegnerschaft und des Protestes etwas entscheiden verändert — und diese Veränderungen tragen auf eine sinistre Weise dazu bei, dass Kriegsgegnerschaft nun tatsächlich „wirkungsvoller“ ist als früher: Empörung und Wut über Kriege wurden allmählich privatisiert, mit einem identitären Label versehen, und sie wurden schließlich appropriiert von anti-politischen, binären und identitären Sprechern. Ein Beispiel habe ich mit dem AKP-Regime in der Türkei weiter oben bereits angesprochen.

Mittlerweile sieht es so aus, dass binäre Ideologien, ob Abendlandismus oder Islamismus, mobilisierbare Kriegsgegnerschaft erfolgreich in ihre eigenen Kanäle umleiten. Der Mainstream des „Widerstandes“, der diesen Namen nicht verdient hat, ist ethno-religiös geworden und schämt sich seiner hasserfüllten Fratze nicht.

Dies ist ein großer Unterschied zur Kampagne für Gewissensverweigerung in Bosnien-Herzegowina (Kampanja za prigovor savjesti u BiH) Anfang der „Nuller-Jahre“: dort und damals traf man mit Aufrufen gegen Krieg bei den eng nebeneinander her existierenden, ehemaligen Kriegsparteien, die natürlich ihrerseits seit langem ausgesprochen identitär waren, auf Gleichgültigkeit. Man wurde entweder belächelt, oder hatte mit zornigen Reaktionen zu rechnen. Das folgende Zitat stammt aus dem Jahr 2006, als ich schon längst nicht mehr aktives Mitglied der Kampagne in Bosnien war. Es ist bemerkenswert, weil es ziemlich genau um den Kipp-Moment angesiedelt ist, an dem Kriegsgegnerschaft als humanistische Haltung von ethno-religiösen Hetzern enteignet und privatisiert wurde:

„Preživjeli smo rat, ne želimo ga drugima“, poručuju iz Kolektiva „Hrana, a ne oružje“

„Wir haben den Krieg überlebt, und wir wünschen ihn keinem Anderen“, lässt das Kollektiv „Essen statt Waffen“ verlautbaren

Aus klix.ba (ehem. Sarajevo-x) vom 10.8.2006

Das Kollektiv Essen statt Waffen war Teil der Kampagne für Gewissensverweigerung, einem Zusammenschluss verschiedener Individuen und NGOs aus dem ganzen Gebiet Bosnien-Herzegowinas, ohne Rücksicht auf den ethno-religiösen oder „nationalen“ Hintergrund. Außerdem gab es eine sehr enge Zusammenarbeit mit anderen Initiativen in der gesamten Jugosphäre. Anlass für den Protest war der israelische Krieg gegen den Libanon, wobei sich die Pressemitteilung explizit an alle kriegsführenden Parteien und internationale Organisationen richtete, dabei aber in keiner Weise ethno-religiös, antipolitisch-binär verbrämt war. Sogenannte „Israelkritik“ ist (genau wie „Islamkritik“) nicht nur in Deutschland ein diskursives Minenfeld. Doch hier ging es um den Krieg — und nicht um die palästinensiche oder die jüdische Sache durch die Hintertür der Kriegsgegnerschaft.

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Im Winter 2001/2002 bei einer der Street Actions der Kampagne für Gewissensverweigerung in BiH. Unter dem Motto Essen anstatt Waffen verteilen wir Snacks und Infos zum Thema Gewissensverweigerung (Wehrdienstverweigerung). Zwei Soldaten der bosnischen Armee tragen sich in unsere Liste ein.

Heute sieht die Sache ganz anders aus: Antikriegsrhetorik und Solidarität mit bedrohten Menschengruppen ist explizit identitär geworden — ob in Bosnien, in der Türkei oder in Berlin. Im Zentrum steht nicht der Krieg, sondern die Identifikation mit einer bestimmten Gruppe. So etwas wie die gruppenübergreifende Kampagne für Gewissensverweigerung in Bosnien-Herzegowina, bei der es von Anfang an immer darum gegangen war, sorgsam darauf zu achten, dass es nicht um eine Gruppe, sondern um den Frieden zwischen den Gruppen ging, scheint mir heute in weite Ferne gerückt.

Die Smartphones der Geflüchteten

Aber zurück zur Zugfahrt. Wo die beiden Jungs wohl her gekommen waren? Ob sie zu Fuß unterwegs gewesen waren? Beide scrollen auf ihren Smartphones, bis der eine sein Smartphone an den Akku hängt und es angeschlossen an die Steckdose von der Decke des Zugs baumeln lässt. Die beiden sind wahrscheinlich Kurden, denke ich mir: das Smartphone, das baumelt, ist von einer Handyhülle mit der kurdischen Flagge eingefasst.

A propos Smartphone: da waren diese gehässigen Kommentare im letzten Jahr, als die ersten Flüchtenden ankamen, und immer wieder in deutschen Zeitungen die Frage auftauchte, wie sie sich nur ein Smartphone leisten konnten, wo sie doch auf der Flucht waren? Wie wenig Vorstellung sich die Leute doch machen können, wie wenig Empathie es doch gibt. Sie gehen scheinbar davon aus, dass Syrien so eine Art vorzeitiges Land sein muss; eines, das man diffus aus der Bibel kennt (wenn man denn, wie gesagt, die Bibel überhaupt kennt). In dem jetzt, immer noch, wieder, Krieg herrscht. Der neue Libanon, das neue Jugoslawien, der neue Irak, das neue Afghanistan. Vielleicht erscheint es den Menschen unvorstellbar, dass es auch dort Werbung, Elektroläden, Kreditkarten, Geldautomaten, Einkaufszentren, Bankkredite, Umweltschutz und Geldwirtschaft gibt — oder gab. Meine erste Bosnischlehrerin in Sarajevo hat mir im Jahr 2000 von ihrer damals noch nicht lange zurückliegenden Zeit als Geflüchtete in Deutschland erzählt. Eine eigentlich ganz freundliche, deutsche Rentnerin wollte ihr erklären, wie Steckdosen und Waschmaschinen funktionieren; da meine Lehrerin Muslimin aus Bosnien war, dachte die deutsche Rentnerin, dass die Geflüchtete unmöglich mit dieser Technik vertraut sein konnte. Meine Lehrerin war studierte Germanistin.

Ich denke an Homi Bhabha und Joseph Conrad’s Herz der Finsternis, an die von Bhabha abgerufene Szene, da der Protagonist im vom kolonialistischen Grauen gebeutelten Kongo einen Kongolesen mit einem Stück Schiffstau um den Hals erblickt. Das Stück Schiffstau ist in dieser Szene eine Begenungsfläche – oder vielmehr eine Projektionsfläche: ein „Drittes“, ein Dazwischen (in-between), auf das sich beide Seite beziehen. Können. Der Kongolese bezieht sich darauf, indem er es trägt, ohne dass der Europäer weiß, warum und mit welcher Funktion er das Teil um den Hals trägt. Der Kongolese wiederum: man weiß es nicht, denn er spricht nicht. Typisch — und deshalb wohl auch die Frage, nicht von Bhabha, aber trotzdem passend: can the subaltern speak? Ob er sich auch solche Gedanken machte? Auch die Flüchtenden sprechen, im anonymen und doch zwischen-menschlichen Zug, nicht (zurück). Spricht eigentlich irgendjemand in Verhältnissen, die relevant sind?

Das Handy ist auch so ein Drittes. Neben den Jeans, neben der Jacke. Die Jeans sind abgewetzt, die Winterjacke zu dünn, trotz der milden Witterung. In Franken blühen Anfang Februar bereits die ersten Schneeglöckchen, die Narzissen strecken ihre spitzen und robusten Keimblätter forsch grün durch den Boden, viel zu früh. Auch die Jeans, die Jacke der Jungen sind ein Drittes, eine wiedererkennbare Projektionsfläche, aber sie erregen kein Aufsehen. Zumindest fallen mir keine Blicke der mitreisenden „Eingeborenen“ auf. Die abgewetzten Jeans und dünnen, billigen Winterjacken werden akzeptiert, mehr als die Kopftücher der ebenfalls im Zug reisenden Frauen, auch wenn selbst diese wiedererkannt werden. Können. Deutsche (?) Jugendliche, ebenso scrollend an ihren Smartphones, sitzen nebenan, in der Vierersitzgruppe mit dem Minitisch. Es ist für alle das einfachste, nicht zu tun — als ob.

Wiedererkannt werden (können) auch die in jeder Hinsicht unschuldigen Blicke der Kinder, die einfachsten Buggies, die Kinderwägen. Ich habe eine schwache Blase und muss auf die Toilette. Als ich aufstehe, wirft mir der Junge mit dem ladenden, baumelnden Smartphone einen scheuen Blick zu. Schnell wendet er ihn ab — als ob. Es bleibt alles implizit, unausgesprochen, nur gedacht, vermutet, gemeint, gefunden und doch verloren, bis ans Ende eines nicht zu Ende gedachten Prozesses, der Reise – für die einen eine Reise, für die anderen eine Flucht, aus den Augen Dritter eine Migration – vielleicht. Eine flüchtende, noch nicht angekommene Frau schiebt die Tür zum Klo immer wieder auf und zu, um ihre Kinder zu versorgen. Dazwischen wechselt sie arabische Worte mit ihrem Mann. Ein Kind im Buggy blickt mich mit großen, fröhlichen Augen an, ich kommuniziere mit ihm, winke und lächle. Die Mutter wirft mir einen scheuen Fuchsblick zu, lächelt kurz, der Vater blickt mich nicht an, so als seien ihre Blicke, im Gegensatz zum Kind, nicht ganz unschuldig. Gerne würde ich etwas sagen, will aber auch nicht pathetisch sein. Ich kann nur ein paar Brocken Arabisch. Immerhin könnte ich „Ahlan wa Sahlan“ sagen – Willkommen. Ich finde das kitschig, und benutze schließlich das Klo. Ich schäme mich, kann es aber auch nicht ganz fassen.

Ich denke an meine Begegnung im makedonischen Autobahntunnel, als ich auf dem Beifahrersitz eines Taxis saß, auf dem Rückweg von Veles nach Skopje, mitten in der unbeleuchteten, mondlosen Nacht des südlichen Balkans. Auch da begegnete mir der scheue Fuchsblick eines Flüchtenden, der zu Fuß unterwegs war, inmitten einer Fußgängerkarawane gen Norden, nach Serbien, Ungarn, in die Europäische Union. Es war nichts zu machen: kein Anhalten, kein Sprechen, geschweige denn zurück Sprechen. Es wurde gefahren, es wurde marschiert. Ich konnte kaum mit dem albanischen Taxifahrer sprechen, wir hantierten auf gebrochenem Slawisch, irgendwo zwischen Makedonisch und Serbokroatisch. Sein Serbokroatisch war ihm eine Fremdsprache, ich kann dagegen Null Albanisch. Der Taxifahrer sagte: das sind Illegale aus Pakistan, woher er das auch wissen wollte. Die Autobahn hieß „Alexander der Große“. Alexander der Große – ein Mann, der für Europa steht. Илегалци от Пакистан.

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