[Heine-Projekt] 6 Uneigentlicher Wald: Heines Metapherngebrauch

Wie im letzten Kapitel anhand des Figurationsmodells (Abb. unten) skizziert, spielen Frankreich und das deutsch-französische Verhältnis in Heinrich Heines Schriften eine zentrale Rolle. Dies gilt besonders für den hier analysierten Text Die Romantische Schule, der sowohl mit einer französischen, als auch mit einer deutschen Leserschaft korrespondiert. Frankreich und Deutschland stehen schon aus autobiographischen Gründen der Selbstpositionierung als ausländischer Schriftsteller im Zentrum Heines Auseinandersetzung, was neben der Romantischen Schule ganz besonders auch für die Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland97 sowie für die Denkschrift Ludwig Börne98 gilt: alle drei Bücher sind in Heines frühen Pariser Jahren entstanden, als er sich in Frankreich etablieren musste.

Abbildung: Heines deutsch-französische Figuration der bestimmenden Themen und Akteure hinter seiner uneigentlichen, metaphorischen Sprache. Skizze: Thomas Schad.

Zur deutsch-französischen Figuration gehören die aus seiner Sicht geradezu einander entgegengesetzten, gesellschaftspolitischen, ideologischen, religiösen, literarischen aber auch ästhetisch-stilistischen Trends beider Länder. Diese müssen unbedingt miteinbezogen werden, um die von Heine verwendeten Metaphern zu analysieren, die ich hier in der Überschrift auf die Formel des uneigentlichen Waldes heruntergebrochen habe: unter uneigentlich ist hier übertragen bzw. metaphorisch gemeint, wie in der einleitenden Zusammenfassung der Grundannahmen der Metaphernnanalyse sowie der Theorien des Fremdverstehens dargestellt (vgl. Kap. 1-3). Besonders uneigentlich an Heines Sprache ist dabei natürlich die Mastertrope der Ironie, die ohne Einbeziehung des weiteren Kontexts am allerwenigsten verständlich wäre: „besonders uneigentlich“, weil es sich bei der Ironie um doppelt übertragene Sprache, um eine „doppelte Wendung“ handelt.

Hier ist eine Paranthese zum nächsten Kapitel 8 nötig, wo schließlich umweltgeschichtliche Aspekte der eigentlichen Natur, der eigentlichen Eichen, des eigentlichen „Walddunkels“ usw. behandelt werden — um die es in diesem Kapitel jedoch noch nicht geht: wenn Heine in seinen sprachlichen Betrachtungen über die Romantiker in ironischem Duktus Wald- und andere Metaphern verwendet, so persifliert er schließlich eine bereits vorher verwendete, jedoch in anderer (nicht-ironischer) Absicht gewählte, metaphorische Sprache; dies ist auch der Grund, warum ich bei seiner Ironie von doppelter Übertragung spreche. Um ein einfaches Beispiel zu nennen: wenn Heine davon schreibt, dass Vertreter des Katholizismus ihr „mißratenes Haupt“ „aus dem Walddunkel der deutschen Literatur gestreckt“ hätten, so produziert nicht er primär die Figur des „Walddunkels„, sondern gibt sie verzerrt und über Ironie verächtlich gemacht wieder.

Das Ziel dieses Kapitels besteht zunächst darin, zur Ebene der primären Übertragung durchzudringen, also eine Rückübersetzung zur mittleren Übersetzungsebene zu leisten: gemeint ist die Ebene der Metaphern der Romantiker, welche Heine über die Trope der Ironie persifliert; erst im nächsten Kapitel sollen die Gründe ermittelt werden, weshalb Anfang des 19. Jahrhunderts überhaupt ein so starker Gebrauch von Wald- und Vegetationsmetaphern zu beobachten ist. Wie zu sehen sein wird, sind diese Gründe nicht allein auf der Ebene des ästhetischen Geschmacks, sondern durchaus auch in der eigentlichen, dinglichen und naturräumlichen Sphäre zu finden, nämlich auf der Ebene des eigentlichen Waldes, der Entwaldung und der vorindustriellen Holznot.

Auf der Ebene der Ironie und Persiflage geht es Heine (zumindest in der Romantischen Schule) allenfalls indirekt um den „eigentlichen Wald“, „eigentliche Eichen“, um „eigentliche, schöne Blumen“ und-so-eigentlich-fort: seine uneigentlichen Tropen werden von ihm immer (ob direkt oder indirekt) zusammen mit den im Figurationsmodell aufgeführten Themen Frankreich, Protestantismus, Katholizismus, Mittelalterkult, Judentum, Ausgeschlossensein etc. bemüht. Um dies zu demonstrieren, habe ich die von Heine verwendeten Metaphern fragmentiert, wobei ich Vegetations- und Tiermetaphern besonders fokussiert habe. Darunter finden sich zum Beispiel die Passionsblume, das Walddunkel, die dunklen Wälder und der junge Wald, die schöne Blume, die Schlange, der große Baum, die alte Zaubereiche, die Wipfel der Bäume und die hundertjährige Eiche. Ferner tauchen Raben, Gespenster und Hexen, Larven sowie Bärenhäuter und Golems auf.

Heine stellt sich neu auf: Umzug nach Frankreich

Heine war sich darüber im Klaren, dass der Umzug nach Frankreich allein aus sprachlichen Gründen nicht zuträglich für seine dichterischen Tätigkeit sein würde.99 Deshalb hat er sich stärker auf politische, kultur- und literaturkritische Schriften verlagert — man würde aus heutiger sagen: auf den Feuilleton. Nichts war da naheliegender, als den Franzosen Deutschland zu erklären und sich für die grenzüberschreitende Verständigung einzusetzen:

Ich werde (…) alles Mögliche thun, um den Franzosen das geistige Leben der Deutschen bekannt zu machen; dieses ist meine jetzige Lebensaufgabe, und ich habe vielleicht überhaupt die pacifike Mission, die Völker einander näher zu bringen. Das aber fürchten die Aristokraten am meisten; mit der Zerstörung der nationalen Vorurtheile, mit der Vernichtung der patriotischen Engsinnigkeit schwindet ihr bestes Hülfsmittel der Unterdrückung.100

Doch er war andererseits auch nicht der erste mit dem Ansinnen, den Franzosen Deutschland zu erklären. Das Deutschlandbild in Frankreich war nach Heines Ansicht durch Madame de Staëls als germanophil geltendes Buch De l’Allemagne (Über Deutschland) von 1810 geprägt.101 De l’Allemagne hat Heinrich Heine mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Seine Kritik war dabei aber nicht nur inhaltlicher Art, sondern setzt ganz zu Beginn der Romantischen Schule bei seiner auch persönlichen Unverträglichkeit mit prominenten Romantikern an — und zwar ganz besonders hinsichtlich August Wilhelm Schlegels:

(…) aber in dem Getöse der verschiedensten Stimmen, die aus diesem Buch hervorschreien, hört man doch immer am vernehmlichsten den feinen Diskant des Herrn A.W. Schlegel. Wo sie ganz selbst ist, wo die großfühlende Frau sich unmittelbar ausspricht mit ihrem ganzen strahlenden Herzen, mit dem ganzen Feuerwerk ihrer Geistesraketen und brillanten Tollheiten: da ist das Buch gut und vortrefflich. Sobald sie aber fremden Einflüsterungen gehorcht, sobald sie einer Schule huldigt, deren Wesen ihr ganz fremd und unbegreifbar ist, sobald sie durch die Anpreisung dieser Schule gewisse ultramontane Tendenzen befördert, die mit ihrer protestantischen Klarheit in direktem Widerspruche sind: da ist ihr Buch kläglich und ungenießbar.102

Dies ist natürlich überhaupt nicht überraschend, denn Madame de Staël war mit Schlegel durch Deutschland gereist und führte eine intensive Beziehung zu Heines früherem Lehrer aus Bonn. An anderer Stelle beklagt er sich über die Arroganz des August Wilhelm Schlegel, nachdem er ihn zuvor schon mit einem Violinspieler verglichen hatte, der gar nichts könne:

Sein Refrain war immer, daß die Franzosen das prosaischste Volk der Welt seien und daß es in Frankreich gar keine Poesie gäbe. Dieses sagte der Mann zu einer Zeit, als vor seinen Augen noch so mancher Chorführer der Konvention, der großen Titanentragödie, leibhaftig umherwandelte; zu einer Zeit, als Napoleon jeden Tag ein gutes Epos improvisierte, als Paris wimmelte von Helden, Königen und Göttern… Herr Schlegel hat jedoch von dem allen nichts gesehen; wenn er hier war, sah er sich selber beständig im Spiegel, und da ist es wohl erklärlich, daß er in Frankreich gar keine Poesie sah.103

Deutscher Idealismus, französischer Materialismus und die Frage der Religion

Der markanteste Unterschied zwischen Frankreich und Deutschland, der sich bis heute in Gestalt des französischen Laizismus und des deutschen Konkordats als historisch gewachsene Gesellschaftsverträge ausmachen lässt, besteht bei Heine im Gegensatz zwischen (französischem) Materialismus und (deutschem) Idealismus. Für Deutschland führt er diese Tendenz besonders auf den Einfluss der späten Philosophie Schellings, noch stärker aber auf den Idealismus Fichtes zurück (auf beide geht er unter Geschichte der Religion und Philosophie gesondert ein):

Der frühere Schelling war ein kühner Protestant, der gegen den Fichteschen Idealismus protestierte. Dieser Idealismus war ein sonderbares System, das besonders einem Franzosen befremdlich sein muß. Denn während in Frankreich eine Philosophie aufkam, die den Geist gleichsam verkörperte, die den Geist nur als eine Modifikation der Materie anerkannte, erhob sich in Deutschland eine Philosophie, die, ganz im Gegenteil, nur den Geist als etwas Wirkliches annahm, die alle Materie nur für eine Modifikation des Geistes erklärte, die sogar die Existenz der Materie leugnete. Es schien fast, der Geist habe jenseits des Rheines Rache gesucht für die Beleidigung, die ihm diesseits des Rheines widerfahren. Als man den Geist in Frankreich leugnete, da emigrierte er gleichsam nach Deutschland und leugnete dort die Materie.104

An dieser Stelle spricht aus Heine der überzeugte Anhänger der Aufklärung und des Humanismus, welche in der Tradition der Renaissance stehen. Die Renaissance wiederum markiert als historische Wende nicht nur das Ende des Mittelalters: sie bedeutet auch den „Sieg“ des Nominalismus im mittelalterlichen Universalienstreit, in dem sich die beiden Strömungen des Realismus und des Nominalismus gegenüberstanden. Die Hinwendung der Romantiker zur „entsetzlichsten Religionsschwärmerei“ und zum mystischen „Supernaturalismus“ muss Heine da wie purer Rückschritt erscheinen.105

Es muss bedacht werden, dass im 19. Jahrhundert Frankreich, die französische Kultur und Sprache äußerst prestigeträchtig in Deutschland waren. Paris galt als Hauptstadt des 19. Jahrhunderts und damit als Inbegriff des Fortschritts, woher auch ein beträchtlicher Teil der Gallizismen in der deutschen und anderen Sprachen rührt. In Frankreich blickte man entweder gleichgültig oder mit offener Verachtung und Herablassung auf Deutschland und alle anderen europäischen Nachbarn. Nina Bodenheim zitiert in ihrer veröffentlichen Dissertation über Heines Verhältnis zum Saint-Simonismus dieses Phänomen ausführlich mit den Worten Roland Motiers:

(…) Voltaires und Diderots Zeitgenossen verspürten für die anderen Länder nur höfliche Gleichgültigkeit, nachsichtige Herablassung oder geringschätzende Ironie. Deutschland leidet ganz besonders unter diesen Stereotypen (…). Die deutsche Wissenschaft wird für plump gehalten, im Schullatein versunken. Man verurteilt die deutsche Sprache als unverständlich wegen der aufeinanderfolgenden Konsonanten und ihrer verwirrenden Syntax. Im besten Falle beklagt man ihre Rohheit (…). Es liegt auf der Hand (…), dass die Franzosen kein Bedürfnis nach einer anderen Sprache haben, während die Ausländer eher ihre eigene Sprache als ihr Französisch vergäßen.106

Die Figur „der Deutschen“ als Antithese zu „den Franzosen“

Frankreich und die Franzosen werden bei Heine stark idealisiert dargestellt, während er die Deutschen und Deutschland schaurig darstellt. Frankreich tauge laut Heine zum Beispiel nicht zu wahren Schauergeschichten — ganz im Gegenteil zu Deutschland, was er am Beispiel Achim von Arnims erkennen will:

Eine Übersetzung der erwähnten Novelle, „Isabella von Ägypten“, würde den Franzosen nicht bloß eine Idee von Arnims Schriften geben, sondern auch zeigen, daß all die furchtbaren, unheimlichen, grausigen und gespenstischen Geschichten, die sie sich in der letzten Zeit gar mühsam abgequält, in Vergleichung mit Arnimschen Dichtungen, nur rosige Morgenträume einer Operntänzerin zu sein scheinen. In sämtlichen französischen Schauergeschichten ist nicht so viel Unheimliches zusammengepackt wie in jener Kutsche, die Arnim von Brake nach Brüssel fahren lässt (…).107

Es würde an dieser Stelle zu weit führen, Arnims Novelle „Isabella von Ägypten, Kaiser Karl des Fünften erste große Jugendliebe“ ausführlicher zu beschreiben. Es ist festzuhalten, dass ein „Zigeunermädchen“ (Isabella) und ihr „Volk aus Ägypten“ darin im Mittelpunkt stehen, wobei Isabella letzteres zurück ins „Ägyptenland“ führen will. Isabella tritt zusammen mit Figuren auf, die auch in den Grimmschen Märchen, in Volkssagen und okkulten Erzählungen auftauchen. Neben dem später noch genannten Golem ist dies ein Alraun-Männchen, welches der Sage nach unter dem Galgen als Alraunewurzel aus dem Sperma der Hingerichteten erwächst (Heine nennt die Alraune in der Romantischen Schule beim französischen Namen Mandragora). Auch der „Bärnhäuter“ und der Zauberschlag tauchen auf — allesamt also „schaurige“ Momente.

Ihr Franzosen solltet doch endlich einsehen, daß das Grauenhafte nicht euer Fach, und daß Frankreich kein geeigneter Boden für Gespenster jener Art. Wenn ihr Gespenster beschwört, müssen wir lachen.108

Heine macht dies zwar nicht explizit, doch der „Wurzelburzius“ (das Alraunmännchen) reißt sich am Ende der Novelle in Stücke, wodurch er an die Märchenfigur des Rumpelstilzchen erinnert. Das Rumpelstilzchen transportiert damals gängige, antijudaistische Stereotypen, wie bereits durch seine Neigung zum ritualisierten Kinderraub und -Mord deutlich wird. Auch muss Heine Arnims Analogieherstellung zwischen den verfolgten Juden und dem verfolgten Volk Isabellas aufgefallen sein: „Die Zigeuner waren damals in der Verfolgung, welche die vertriebenen Juden ihnen zuzogen, die sich für Zigeuner ausgaben (…)“.(FN Arnim einfügen) Im Wort „Gespenst“ selbst liege laut Heine

(…) so viel Einsames, Mürrisches, Deutsches, Schweigendes, und in dem Worte „Französisch“ liegt hingegen so viel Geselliges, Artiges, Französisches, Schwatzendes!109

In der Figur des Gespenstischen, Untoten, eigentlich überwunden zu Habenden steckt — das Mittelalter. Heine verwendet die Metapher der „Gespenster des Mittelalters“ zur Umschreibung der „katholischen Umtriebe“110 in Deutschland und für den sich ausbreitenden Ultramontanismus, also den durch die Romantiker (direkt oder indirekt) unterfütterten politischen Katholizismus. Das Gespenstische, Mittelalterliche und Katholische stehen in Heines Weltbild für Deutschland — und Frankreich steht für das Gegenteil:

Ich bin überzeugt, die Gespenster würden sich hier in Paris weit mehr amüsieren als bei uns die Lebenden. Was mich betrifft, wüßte ich, daß man solcherweise in Paris als Gespenst existieren könnte, ich würde den Tod nicht mehr fürchten.111

„Die Franzosen“ erscheinen bei Heine geradezu als genaue Antithese der Figur „der Deutschen“. Es hat sich mir nicht erschlossen, wie Heine auf die Figur der Metamorphose kommt, die er in der Gegenüberstellung von Deutschen und Franzosen als jeweils metamorphe Larven bemüht — wenn auch von grundsätzlich unterschiedlichem Wesen:

Es sind ernsthafte, furchtbare Larven, aber durch die Augenluken schauen fröhliche Kinderaugen. Wir Deutschen hingegen tragen zuweilen die freundlich jugendlichsten Larven, und aus den Augen lauscht der greise Tod. Ihr seid ein zierliches, liebenswürdiges, vernünftiges und lebendiges Volk, und nur das Schöne und Edle und Menschliche liegt im Bereich eurer Kunst.112

An dieser Stelle tauchen die genannten Arnim’schen Figuren der Hexe, des Bärenhäuters, des Golems und auch des Feldmarschalls Cornelius Nepos auf — auch letzterer ist eine Figur aus Arnims „Isabella von Ägypten„, obwohl es ihn auch als historische römische Persönlichkeit um die Zeitenwende gegeben hat:

Deutschland ist ein gedeihlicheres Land für alte Hexen, tote Bärenhäuter, Golems jedes Geschlechts und besonders für Feldmarschälle wie der kleine Cornelius Nepos. Nur jenseits des Rheins können solche Gespenster gedeihen; nimmermehr in Frankreich.113

Das Wort „Golem“ ist den meisten heutigen Deutschsprecherinnen nicht mehr bekannt, in ihm steckt aber, wie im südslawischen golemo, die Bedeutung „riesig“, aber auch grob, ungebildet und ungeschlacht. Heine schreibt hier „jedes Geschlechts“, was zwar eine noch subtilere Anspielung sein kann, die sich mir nicht erschließt; in jedem Fall aber ist es eine Replik der Figur der Golem Isabella aus Arnims Novelle, denn Arnim stellt der „echten“ Isabella einen Avatar aus Erde zur Seite, die letztlich zerstört wird. Auch hier ist das antijudaistische Sentiment Arnims nicht zu übersehen — bedenkt man, dass das Wort und die Figur des Golem aus dem Hebräischen und der jüdischen Mystik kommen.

Die Deutschen seien im Vergleich zu den Franzosen politisch ins Hintertreffen geraten, und zwar seit fünfzig Jahren, womit er sich natürlich auf die Revolution von 1789 bezieht. Dies spiegle sich auch am Beispiel der Literatur:

Man kann nämlich unsere neueste deutsche Literatur nicht besprechen, ohne ins tiefste Gebiet der Politik zu geraten. (…) Ihr Franzosen seid während fünfzig Jahren beständig auf den Beinen gewesen und seid jetzt müde; wir Deutsche hingegen haben bis jetzt am Studiertische gesessen, und haben alte Klassiker kommentiert, und möchten uns jetzt einige Bewegung machen.114

Kölner Dom. Das Fest der Grundsteinlegung am 4. September 1842. Originalquelle: Rheinisches Bildarchiv, Köln. Bildzitat nach: Piereth, Wolfgang (Hg.)(1997): Das 19. Jahrhundert. Ein Lesebuch zur deutschen Geschichte 1815-1918 (Mit einem Vorwort von Wolfram Siemann). München: C.H.Beck, S. 187.115

Frankreichs Abkehr von Mittelalter und Katholizismus

Frankreich habe sich, ganz im Gegensatz zum mittelalterverliebten Deutschland — wo scharenweise Schriftsteller zum Katholizismus konvertierten, wo romantische Schwärmerei und Neogotik Hochkonjunktur hatten — bereits im achtzehnten Jahrhundert vom Katholizismus befreit:

Das achtzehnte Jahrhundert hat den Katholizismus in Frankreich so gründlich ekrasiert, daß fast gar keine lebende Spur davon übriggeblieben, und daß derjenige, welcher den Katholizismus in Frankreich wiederherstellen will, gleichsam eine ganz neue Religion predigt.116

Diese Behauptung ist freilich eine Übertreibung: schon kurz nach der Julirevolution, im Jahr 1836, taucht in Frankreich die Phrase „France, fille aînée de l’Église“ („Frankreich, der Kirche älteste Tochter“) auf, und der Ultramontanismus wird auch in Frankreich für den Rest des 19. Jahrhunderts ein wichtiger Faktor bleiben. Doch Heine übernimmt hier ganz überzeugt und entschieden das zentralistische Selbstbild „seines“ Frankreichs, wonach das unumstrittene Zentrum des Landes Paris ist. Er räumt seine relative Unkenntnis der französischen Provinz außerhalb Paris’ ein, wo es womöglich gläubige Katholiken gebe; doch „was die Provinz denkt“ sei seiner Meinung nach eine „gleichgültige Sache“, und er könne sich vorstellen, dass es dort Frauen gebe, die, je weiter entfernt sie von der Hauptstadt lebten, umso katholischer seien — und zwar, um Trost dafür zu finden, eben nicht in Paris leben zu dürfen.117

In Paris selbst hat das Christentum seit der Revolution nicht mehr existiert, und schon früher hatte es hier alle reelle Bedeutung verloren. In einem abgelegenen Kirchwinkel lag es lauernd, das Christentum, wie eine Spinne, und sprang dann und wann hastig hervor, wenn es ein Kind in der Wiege oder einen Greis im Sarge erhaschen konnte. Ja, nur zwei Perioden, wenn er eben zur Welt kam oder wenn er eben die Welt wieder verließ, geriet der Franzose in die Gewalt des katholischen Priesters; während der ganzen Zwischenzeit war er bei Vernunft und lachte über Weihwasser und Ölung.118

Bedenkt man die revolutionäre Ikonographie Frankreichs, und zwar ganz besonders die der Julirevolution 1830 in Gestalt des berühmten Gemäldes von Eugène Delacroix (La Liberté guidant le peuple), so kann es nicht Wunder nehmen, dass Heine hier explizit Frauen anspricht. Die freie Frau als barbusige Marianne — und in ihr steckt selbstverständlich die antike Figur der Libertas — steht der Unfreiheit des Cäsarismus, des Gottesgnadentums und des katholischen Priestertums gegenüber.119

Die deutsche Mittelalterbegeisterung

Auch in Frankreich stellt Heine eine gewisse, kurzlebige Begeisterung für die mittelalterliche Vergangenheit fest, die jedoch ganz anderer Art gewesen sei, als in Deutschland — wo sich gleichzeitig architektonisch eine große Begeisterung für den neogotischen Baustil ausbreitete, der ästhetischen Chiffre des Mittelalters.120 Diese ästhetische Präferenz für das Mittelalter über die Architekturchiffre gingen in Deutschland jedoch mit ernsthaften „inhaltlichen“ Problemen einher:

Die Schriftsteller, die in Deutschland das Mittelalter aus seinem Grabe hervorzogen, hatten andere Zwecke, wie man aus diesen Blättern ersehen wird, und die Wirkung die sie auf die große Menge ausüben konnten, gefährdete die Freiheit und das Glück meines Vaterlandes.121

Die französischen Schriftsteller dagegen hätten eher ein künstlerisches, kein „ernsthaft“ motiviertes Interesse an der Neogotik gepflegt:

Die Mode des Gotischen war in Frankreich eben nur eine Mode, und sie diente nur dazu, die Lust der Gegenwart zu erhöhen. (…) Ach! in Deutschland ist das anders. Vielleicht eben weil das Mittelalter dort nicht, wie bei euch, gänzlich tot und verwest ist. Das deutsche Mittelalter liegt nicht vermodert im Grabe, es wird vielmehr manchmal von einem bösen Gespenst belebt, und tritt am hellen, lichten Tage, in unsre Mitte, und saugt uns das rote Leben aus der Brust…122

Ob es mit Heine zu tun hat, dass im späteren Zeitalter des Films Gespenstermotive oft vor gotischer Kulisse spielten?

Das Mittelalter galt und gilt als religiöses Zeitalter, die lutherische Reformation wird zusammen mit der gleichzeitigen Erfindung des europäischen Buchdrucks und der frühen Medialisierung als einer der Sargnägel des Mittelalters erinnert. Im Zentrum Heines Besorgnis und Kritik am Aufleben eines reaktionären Religionsverständnisses steht deshalb die katholische, nicht die evangelische Kirche. An den Romantikern findet er erschreckend, „(…) wie diese jungen Leute vor der römisch-katholischen Kirche gleichsam Queue machten, und sich in den alten Geisteskerker wieder hineindrängten“ — und er bezieht sich damit sowohl auf geborene Katholiken wie Joseph Görres und Clemens Brentano, die nicht eigens konvertieren mussten, als auch und insbesondere auf protestantische Konvertiten der Romantik:

Andere aber waren im Schoße der protestantischen Kirche geboren und erzogen, z.B. Friedrich Schlegel, Herr Ludwig Tieck, Novalis, Werner, Schütz, Carové, Adam Müller usw., und ihr Übertritt zum Katholizismus bedurfte eines öffentlichen Akts. Ich habe hier nur Schriftsteller erwähnt; die Zahl der Maler, die scharenweise das evangelische Glaubensbekenntnis und die Vernunft abschworen, war weit größer.123

Für die evangelische Kirche möchte er zwar nicht übertrieben Partei ergreifen, dennoch setzt er sie eindeutig in Beziehung mit der Geistesfreiheit und den Idealen der Aufklärung:

Wahrlich, ohne alle Parteilichkeit habe ich Geistesfreiheit und Protestantismus zusammen genannt; und in der Tat, es besteht in Deutschland ein freundschaftliches Verhältnis zwischen beiden. Auf jeden Fall sind sie beide verwandt und zwar wie Mutter und Tochter. Wenn man auch der protestantischen Kirche manche fatale Engstirnigkeit vorwirft, so muß man doch zu ihrem unsterblichen Ruhme bekennen: indem durch sie die freie Forschung in der christlichen Religion erlaubt und die Geister vom Joche der Autorität befreit wurden, hat die freie Forschung überhaupt in Deutschland Wurzel schlagen und die Wissenschaft sich selbständig entwickeln können.124

Heines Vegetationsmetaphern

Wo Heine das Christentum mit einer Passionsblume vergleicht, wird nicht ganz klar, ob es sein eigener Vergleich ist, oder ob er sich über diesen lustig macht:

Diese Poesie aber war aus dem Christentume hervorgegangen, sie war eine Passionsblume, die dem Blute Christi entsprossen.125

Über die Symbolik der Passionsblume kommt er seiner andernorts oft wiederholten Kritik am Verständnis von Kunst und Ästhetik des Katholizismus126 und vor allem der gegängelten Kunst des Mittelalters nahe — was jedoch auch als Kritik am überbordenden Mystizismus und, wie er es nennt, „Supernaturalismus“ der Romantischen Schule zu verstehen ist:

Ich weiß nicht ob die melancholische Blume, die wir in Deutschland Passionsblume benamsen, auch in Frankreich diese Bedeutung führt, und ob ihr von der Volkssage ebenfalls jener mystische Ursprung zugeschrieben wird. Es ist jene sonderbar mißfarbige Blume, in deren Kelch man die Marterwerkzeuge, die bei der Kreuzigung Christi gebraucht worden, nämlich Hammer, Zange, Nägel usw., abkonterfeit sieht, eine Blume, die durchaus nicht häßlich, sondern nur gespenstisch ist, ja deren Anblick sogar ein grauenhaftes Vergnügen in unserer Seele erregt, gleich den krampfhaft süßen Empfindungen, die aus dem Schmerze selbst hervorgehen. In solcher Hinsicht wäre diese Blume das geeignetste Symbolfür das Christentum selbst, dessen schauerlichster Reiz eben in der Wollust des Schmerzes besteht.127

Die Blüte einer Passionsblume (Passiflora caerulea). Bildquelle: Pixabay

Heine äußert sich zwar unentwegt abfällig, doch auch anerkennend und ambivalent über Religion, was auch mit seiner eigenen spirituellen Suche zu tun hat. Zwar findet er schärfste Kritik, wie an

(…) jenem jesuitisch-aristokratischen Ungetüm, das damals aus dem Walddunkel der deutschen Literatur sein mißgestaltetes Haupt hervorreckte;(…)128

An anderer Stelle würdigt er aber die zivilisierenden Eigenschaften der Religion und besonders des Protestantismus, zu dem er ja schließlich selbst — wenn auch aus den bereits dargestellten, eher praktischen Gründen — konvertiert war. Dann wieder sieht er in (katholischen) italienischen Renaissancekünstlern die größeren oder eigentlicheren Protestanten, in ihren Kunstwerken die „besseren Thesen“ als in den „sächsischen Mönchen“ (wie Luther). Auch hier trennt er genau zwischen deutschen und französischen Trends:

Religion und Heuchelei sind Zwillingsschwestern, und beide sehen sich so ähnlich, daß sie zuweilen nicht voneinander zu unterscheiden sind. Dieselbe Gestalt, Kleidung und Sprache. Nur dehnt die letztere von beiden Schwestern etwas weicher die Worte und wiederholt öfters das Wörtchen „Liebe“. — Ich rede von Deutschland; in Frankreich ist die eine Schwester gestorben, und wir sehen die andere noch in tiefster Trauer.129

Wo er den deutschen Spiritualismus, die Geistigkeit und den Idealismus kritisiert, spricht er sich eindeutig gegen die Vermischung von Wissenschaft und Religion aus, die sich hinter einer „schönen Blume“ verberge, hinter der jedoch „die Schlange“ lauere.130 Als solche erscheint der Katholizismus, ganz besonders politischer Katholizismus und Ultramontanismus, am Ende der Romantischen Schule erneut, wobei er nicht explizit die zur damaligen Zeit aktuellen „Kölner Wirren“ benennt — eine Auseinandersetzung zwischen der katholischen Kirche und dem preußischen Staat; der Katholizismus gilt ihm auch hier wieder als „Religion des Mittelalters“:

Was ich betreff des Mittelalters im allgemeinen angedeutet, findet auf die Religion desselben eine ganz besondere Anwendung. Loyalität erfordert (er meint Loyalität Frankreich gegenüber, Anm. TS), daß ich eine Partei, die man hierzulande die katholische nennt, aufs allerbestimmteste von jenen deplorablen Gesellen, die in Deutschland diesen Namen führen, unterscheide. (…) Es sind Feinde meines Vaterlandes, ein kriechendes Gesindel, heuchlerisch, verlogen und von unüberwindlicher Feigheit. Das zischelt in Berlin, das zischelt in München, und während du auf dem Boulevard Montmartre wandelst, fühlst du plötzlich den Stich in der Ferse. Aber wir zertreten ihr das Haupt, der alten Schlange. Es ist die Partei der Lüge, es sind die Schergen des Despotismus, die Restauratoren aller Misere, aller Greul und Narretei der Vergangenheit.131

Über die Metapher des Baumes, zumeist der Eiche oder des Waldes, wird das vorchristliche, germanische, heidnische und meist als roh und ungeschliffen dargestellte Deutschland indirekt dem verfeinerten und urbanen Frankreich gegenübergestellt:

Die Altgläubigen, die Orthodoxen, ärgerten sich, daß in dem Stamme des großen Baumes keine Nische mit einem Heiligenbildchen befindlich war, ja, daß sogar die nackten Dryaden des Heidentums darin ihr Hexenwesen trieben, und sie hätten gern, mit geweihter Axt, gleich dem heiligen Bonifacius, diese alte Zaubereiche niedergefällt;132

Eine „eigentliche Eiche“ im Staatsbad Brückenau, Aufnahme von TS, April 2020.

Der Wald ist aber nicht nur Metapher für das deutsche, heidnische, sondern für das Heidnische insgesamt, wie in Heines Besprechung Clemens Brentanos Tragödie „Die Gründung Prags“, wo die heidnischen Götter durch die böhmische Lage Prags slawische sind:

Da rauschen die dunkel böhmischen Wälder, da wandeln noch die zornigen Slawengötter, da schmettern noch die heidnischen Nachtigallen; aber die Wipfel der Bäume bestrahlt schon das sanfte Morgenrot des Christentums.133

Über die „neuen Dichter“ Deutschlands in Goethes Schatten schreibt er: „Späterhin spreche ich von den neuen Dichtern, die während der Goetheschen Kaiserzeit hervortraten. Das ist ein junger Wald, dessen Stämme erst jetzt ihre Größe zeigen, seitdem die hundertjährige Eiche gefallen ist, von deren Zweigen sie so weit überragt und überschattet wurden.“134 — die „hundertjährige Eiche“ ist hier Goethe, zu unterscheiden von den „tausendjährigen Götzeneichen“, obwohl auch Goethe bei Heine auch einmal (ironisch) als „heidnischer“ Dichter bezeichnet wird. Und weiterhin:

Es fehlte, wie schon gesagt, nicht an einer Opposition, die gegen Goethe, diesen großen Baum, mit Erbitterung eiferte. Menschen von den entgegengesetztesten Meinungen vereinigten sich zu solcher Opposition.135

Heines persönliches Verhältnis zu Spiritualität und Religion

Heine hat im Nachwort seines letzten großen Gedichtbands Romanzero – hier in der Fassung von 1851, zitiert nach dem editorischen Nachwort der Ausgabe von 1995136 — seine Hinwendung zur Religion eindeutig als „Heimkehr zu Gott“ bezeichnet, den er als personalisierten Schöpfer begriffen hat — und was damit eine markante Veränderung im Gegensatz zu seinen vorangegangenen Lebensphasen darstellt:

Ja, wie mit der Kreatur, habe ich auch mit dem Schöpfer Frieden gemacht, zum größten Ärgernis meiner aufgeklärten Freunde, die mir Vorwürfe machten über dieses Zurückfallen in den alten Aberglauben, wie sie meine Heimkehr zu Gott zu nennen beliebten.137

Interessanterweise beschreibt er seine spirituelle Reise, auf die er aus seinem Sterbebett blickt, mit sehr romantischen Bildern — zum Beispiel (wenn auch indirekt) mit der Vorstellung der „himmlischen Heimat“;138 unter „Misere“ ist seine schwere Krankheit „in der Matratzengruft“ zu verstehen:

Ja, ich bin zurückgekehrt zu Gott, wie der verlorene Sohn, nachdem ich lange Zeit bei den Hegelianern die Schweine gehütet. War es die Misere, die mich zurücktrieb? Vielleicht ein minder miserabler Grund. Das himmlische Heimweh überfiel mich und trieb mich fort durch Wälder und Schluchten, über die schwindligsten Bergpfade der Dialektik. Auf meinem Wege fand ich den Gott der Pantheisten, aber ich konnte ihn nicht gebrauchen.139

Schwindelerregend wie die aufgegebenen „Bergpfade der Dialektik“ ist die ungemeine Dichte, die in diesem kurzen Zitat des späten Heine steckt und fast seines ganzen Lebens spirituelle Suche rafft: da ist zunächst die hegelianische Philosophie und Dialektik, von der er seit seiner Jugendzeit fasziniert war, als er in Berlin Hegels Vorlesungen und Varnhagens Salon besuchte. Laut Nina Bodenheimer ist diese Begeisterung für Hegel eng verwoben mit seiner jüdischen Herkunft und Ausgeschlossenheitserfahrung, was ihn zur Suche nach einer ganz neuen Philosophie — „dem neuen Lied“ — angetrieben habe; vom hegelianischen Pfad versprachen sich Heine und seine Jugendfreunde die Überwindung religiös gepfärchter Engstirnigkeit sowie die jüdische Emanzipation. Auch seine Begeisterung für Napoelon und die französischen Saint-Simonisten haben laut Bodenheimer unter demselben Stern gestanden.140

Mit dem Pantheismus ist natürlich einerseits der Geist Goethes, der „hundertjährigen Eiche“, gemeint; von dort wie von Hegel war es kein weiter Weg zum Saint-Simonismus, einer kurzlebigen, aber wirkmächtigen neureligiösen Bewegung, die in der Gravitation das göttliche Prinzip erkennen wollte und insofern durchaus als eine Spielart des Pantheismus gelten kann. Der Name geht zurück auf den Sozialwissenschaftler Graf Claude Henri de Saint-Simon (gest. 1825), der eine Art Synthese hegelianischer und spiritueller Ideen entwickelte. Diese heute wenig bekannte Gruppe tauschte sich über die Zeitung Le Globe aus, die auch Heine las, und sie inspirierte nicht nur spätere Okkultisten und Spiritisten, sondern auch Frühsozialisten und Soziologen wie Auguste Comte.141

Der Saint-Simonismus bot nicht nur spirituelle Alternativen für gebildete, an naturwissenschaftlichen Erkenntnissen sowie Kunst interessierten Menschen wie Heine, die durch ihre Außenseitereigenschaften nie unbekümmert Teil der einen oder anderen, hierarchisch institutionalisierten Religionsgemeinschaft sein konnten. Der Saint-Simonismus schien auch eine vorteilhafte Weiterentwicklung des Hegelianismus zu sein und eine „Philosophie der Tat“142 anzubieten, die eine Gesellschaftsstruktur vorschlug, die nicht vertikal hierarchisch war, sondern auf der Grundlage der Vernetzungen auf horizontalem Niveau (man spräche heute vielleicht von „flachen Hierarchien“):

In einer solchen Gesellschaft wäre der »exploitation de l’homme par l’homme« ein Ende gesetzt, wie es die Saint-Simonisten in ihren Schriften unterstrichen, und der Mensch wäre hier nicht mehr durch seine religiöse und soziale Herkunft vorbestimmt – es findet sich innerhalb dieser Gruppe übrigens ein recht hoher Prozentsatz von Juden (wie bei den Junghegelianern) –, sondern er würde sich alleine durch seine Fähigkeiten auszeichnen; »chacun selon ses capacités« lautete ihr Leitmotiv, das Heine glauben machte, er könnte im Rahmen dieser Gruppe einen, seinen Platz als Künstler finden, einen Platz, der ihm zur Zeit des »Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden«(…) nämlich noch nicht vergönnt war.143

Die Saint-Simonisten spalteten sich jedoch bald, es kam zu persönlichen Zerwürfnissen und Enttäuschungen. Heine kehrt am Ende zu einem personalisierten Gottesbegriff zurück und fügt hinzu, dass er im Gegensatz zum nicht greifbaren Gottesbegriff der Pantheisten einen persönlichen, außerweltlichen, heiligen, allgütigen, allwissenden und allgerechten Gott hat finden wollen, „der zu helfen vermag“.144 Er stellt jedoch klar, dass dies mitnichten bedeuten würde, dass er nun institutionell in irgendeiner Form gebunden sei:

Ausdrücklich widersprechen muß ich jedoch dem Gerüchte, als hätten mich meine Rückschritte bis zur Schwelle irgendeiner Kirche oder gar in ihren Schoß geführt. Nein, meine religiösen Überzeugungen und Ansichten sind frei geblieben von jeder Kirchlichkeit (…).145

Auch hier schwingt noch (Selbst-)Ironie mit, wenn Heine vom eigenen „Rückschritt“ schreibt und damit die Sicht seiner aufgeklärten — ob pantheistischen, hegelianischen, atheistischen oder saint-simonistischen — Freunde sekundiert. Und wie könnte es auch anders sein? Christian Höpfner sieht Heines Haltung darin begründet, dass er aufgrund seiner besonderen Biographie und seines Ausgegrenztseins eine lebenslange Distanz zu religiösen Institutionen bewahrt habe — und dass ihm gerade diese Distanz zu einem eigenen Identitätsmerkmal geworden sei.146 Der bevorstehende Tod habe zwar eine wesentliche Rolle in der Bejahung eines tröstenden, persönlichen Gottes gespielt, sei aber nicht als ausschließlich der Grund für Heines letzte religiöse Wende gewesen, wie dies andere Autoren interpretiert hätten.147

Dieser abschließende Rekurs auf das Verhältnis von Religion und Identität, welches auch heute von unverminderter Aktualität ist, war nötig, um nicht den falschen Eindruck entstehen zu lassen, Heine sei es in erster Linie darum gegangen, Gottglaube und Spiritualität zu kritisieren: seine Sorge waren identitäre Konzepte, die mit religiösen Trends aufgeladen waren. Aus diesem Grund liegt dem gesamten Text der Romantischen Schule auch die Mastertrope der Ironie zugrunde.

Fußnoten

97. Heine, Heinrich: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, in: Ders. (1995 [1835]): Die Romantische Schule und andere Schriften über Deutschland. Werke in fünf Bänden (Bd. 3). Köln: Könemann, S. 169-319.

98. Ders.: Ludwig Börne. Eine Denkschrift, in: Ebda, S.321-474.

99. Bodenheimer, Nina: Heine, Hegelianismus, Saint-Simonismus und „Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“, in: Kruse, Joseph A. (Hg.)(2008): Heine-Jahrbuch 2008 (47. Jg.). Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler., S. 223.

100. Heine, Heinrich: Werke, Briefwechsel, Lebenszeugnisse. Säkularausgabe. Hrsg. von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (seit 1991: Stiftung Weimarer Klassik) und dem Centre National de la Recherche Scientifique in Paris. Berlin und Paris: Akademie und Editions du CNRS 1970 ff., XXI, 51f., zit. nach Bodenheimer, Nina (2008): Heine, Hegelianismus, Saint-Simonismus und „Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“, in: Kruse, Joseph A. (Hg.)(2008): Heine-Jahrbuch 2008 (47. Jg.). stuttgart/Weimar: J. B. Metzler, S. 223.

101. Staël, Germaine de (1814): De l’Allemagne. London.

102. Heine, Heinrich: Die Romantische Schule, a.a.O., S. 10.

103. Ebda, S. 68-69.

104. Ebda, S. 89.

105. Dem Romantiker Werner Zacharias zum Beispiel bescheinigt er: „Die entsetzlichste Religionsschwärmerei finden wir in allen seinen Dichtungen“, Ebda, S. 136.

106. Mortier, Roland: Les retards et les obstacles à la révélation de la littérature allemande en France. In: Le groupe de Coppet et l’Allemagne – actes du colloque au Goethe Institut (10. und 11. Mai 1985), Paris 1985, 2/3, Übersetzung aus dem Französischen übernommen und zit. nach Bodenheimer, Nina (2014): Heinrich Heine und der Saint-Simonismus (1830-1835). Stuttgart/Weimar: Verlag J. B. Metzler, S. 126-127.

107. Heine, Heinrich: Die Romantische Schule, a.a.O., S. 122.

108. Ebda, S. 123.

109. Ebda, S. 124.

110. Ebda, S. 124.

111. Ebda, S. 124.

112. Ebda, S. 125.

113. Ebda, S. 125.

114. Ebda, S. 128.

115. Kölner Dom. Das Fest der Grundsteinlegung am 4. September 1842. Originalquelle: Rheinisches Bildarchiv, Köln. Bildzitat nach: Das 19. Jahrhundert, S. 187.

116. Ebda, S. 160.

117. Ebda, S. 160.

118. Ebda, S. 160-161.

119. Die folgende Quelle ist aus Wikipedia übernommen, und ich habe sie noch nicht verifiziert: „César est une figure de la domination politique, Marianne est une figure du peuple émancipé, de la République se donnant à elle-même sa propre loi.“, Collectif, sous la direction de Jacques Myard, La Laïcité au cœur de la République, Paris/Budapest/Torino, L’Harmattan, 2003, S. 21, zit. nach Wikipedia (fr), URL: https://fr.wikipedia.org/wiki/Histoire_de_la_la%C3%AFcit%C3%A9_en_France#cite_note-4 (zuletzt abgerufen am 20.8.2020).

120. Dies kommt damit dem ziemlich nahe, was heute im Vergangenheitskult der Türkei der klassisch-osmanische Baustil nach Mimar Sinan ist, worauf ich im dritten Teil des gesamten Buchprojektes noch zurückzukommen beabsichtige.

121. Heine, Heinrich: Die Romantische Schule, a.a.O., S. 158.

122. Ebda, S. 158-159.

123. Ebda, S. 32.

124. Ebda, S. 33.

125. Ebda, S. 10-11.

126. Allerdings ist die Passionsblume keineswegs ausschließlich ein katholisches Symbol, denn sie findet häufige Verwendung auch in evangelischen Kirchen, wie zum Beispiel in der evangelischen Kirche von Werden. Wie der bebilderten und beschriebenen Homepage der 1900 erbauten Kirche entnehmbar, befinden sich dort auf den Bogenfeldern rechts der Altarwand ein „Golgatha-Kreuz auf einem Rankenwerk von Blättern und Blüten der Passionsblume und daneben das Evangelium, das mit Ähren, Trauben und Kelch den „Neuen Bund“ im Neuen Testament symbolisiert.“ Homepage des Fördervereins Evangelische Kirche Werden e.V., URL: http://fv-kirche-werden.de/?page_id=264 (zuletzt abgerufen am 27.7.2020).

127. Ebda, S. 11.

128. Ebda, S. 36.

129. Ebda, S. 36.

130. Ebda, S. 91.

131. Ebda, S. 159.

132. Ebda, S. 42-43.

133. Ebda, S. 106.

134. Ebda, S. 42.

135. Ebda, S. 42.

136. Heine, Heinrich (1995): Romanzero und andere autobiographische Spätschriften. Werke in fünf Bänden (Bd. 5). Köln: Könemann, S. 341 ff.

137. Ebda, S. 341.

138. Vgl. Scharnowski, Susanne (2019): Heimat: Geschichte eines Missverständnisses. Darmstadt: wbg Academic.

139. Heine, Heinrich (1995): Romanzero und andere autobiographische Spätschriften. Werke in fünf Bänden (Bd. 5). Köln: Könemann, S. 341.

140. Heine und die Varnhagens verband nämlich, wie Nina Bodenheimer feststellt, dass sie die „Doctrine de Saint-Simon“ gelesen hatten und der neureligiösen, eklekzistischen und philanthropischen Bewegung des Saint-Simonismus zugewandt waren. Bodenheimer, Nina (2008): Heine, Hegelianismus, Saint-Simonismus und „Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“, in: Kruse, Joseph A. (Hg.)(2008): Heine-Jahrbuch 2008 (47. Jg.). Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler, S. 223.

141. Vgl. Bodenheimer, Nina (2008): Heine, Hegelianismus, Saint-Simonismus; Bodenheimer, Nina (2014): Heinrich Heine und der Saint-Simonismus sowie Höhn, Gerhard (2004): Heine-Handbuch. Zeit, Person, Werk. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart: Metzler.

142. Bodenheimer, Nina (2008): a.a.O., S. 223.

143. Ebda, S. 223.

144. Heine, Heinrich (1995): Romanzero, a.a.O., S. 341.

145. Ebda, S. 341.

146. Höpfner, Christian (1997): Romantik und Religion: Heinrich Heines Suche nach Identität. Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler., S. 253.

147. Er bezieht sich hier besonders auf Küppers, Markus (1994): Heinrich Heines Arbeit am Mythos. Münster/New York: Waxmann, S. 101, zit. nach Höpfner, Christian (1997): Romantik und Religion: Heinrich Heines Suche nach Identität. Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler., S. 254-255.

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