Belgrad war die Hauptstadt des geteilten Staates Jugoslawiens — und Jugoslawien steht auf dem Festival KROKODIL in Belgrad wie der Elefant im Raum: denn letzten Endes positionieren sich alle revisionistischen Diskurse, mit denen sich die beteiligten HistorikerInnen und Nicht-HistorikerInnen auseinanderzusetzen haben, auf die ein oder andere Weise zum früheren, ge-teilten und dann zer-teilten Staat. Diese Positionierung pendelt zwischen Abgrenzung und Umarmung. Darum soll es in diesem Beitrag gehen.
Natürlich hat die alte Hauptstadt Belgrad während der Jugoslawienkriege viel von ihrem alten Glanz verloren: immerhin war die Stadt die 1990er Jahre hindurch Sitz des kriegerischen Milošević-Regimes. Aus Sicht der zentralen Kriegsschauplätze — also dort, wo die eigentlichen Kriegshandlungen vor den NATO-Bombardements stattgefunden haben — war Belgrad gewissermaßen der Ort, aus dem der Krieg kam. Heute ist Belgrad die Hauptstadt der Republik Serbien. Angefangen bei der An- und Abreise mit dem Flugzeug, über die Fahrt mit dem Minibus vom Flughafen ins Zentrum, und anschließend auf Schritt und Tritt in der Innenstadt werden dennoch Reminiszenzen aus allen Zeitabschnitten auftauchen. In den folgenden Abschnitten geht es mir vor allem um einige der augenscheinlichsten Erinnerungsposten Jugoslawiens in der Symbolik öffentlicher Plätze und der linguistic landscape Belgrads, um am Ende schließlich zu den diskutierten Fragen und vorgestellten Literaturprojekten des Festivals KROKODIL und der Konferenz HistorikerInnen für den Frieden zurückzukommen. Ich will vorausschicken, dass alle der folgenden Beobachtungen und Bilder — mit der einzigen Ausnahme des im Herbst 2014 besuchten und fotografierten Tito-Mausoleums — meinen Reisebeobachtungen vom 28.-30. August 2021 entstammen und daher zwangsläufig nur Ausschnitte aus der Belgrader linguistic landscape darstellen.
Das Überleben Jugoslawiens in den Flugnummern
Ein von Reisenden immer wieder festgestelltes Kuriosum findet sich bereits auf dem Flugticket nach oder aus Belgrad, sofern die Airline Air Serbia gewählt wird. Diese teilprivatisierte, staatliche Fluggesellschaft Serbiens mit einer starken Beteiligung von Etihad Airways aus den Vereinigten Arabischen Emiraten ist die Nachfolge-Airline der jugoslawischen Fluggesellschaft Jugoslovenski Aerotransport, die sich mit JAT abkürzte. Später wurde sie, gemäß den globalisierten Trends, JAT Airways genannt, und schließlich wurde aus diesem auf ein Akronym eingegrenzten Erinnerungsposten Jugoslawiens Air Serbia. Man könnte also sagen, dass sich Jugoslawien schrittweise und verspätet aus dem Namen der Airline verabschiedet hat. Doch der für die Flugnummern der Airline verwendete IATA-Code ist weiterhin JU — was ganz eindeutig an JUgoslawien (Jugoslavija) erinnert, wie mein Boarding Pass vom Rückflug zeigt:

Wem gehört Nikola Tesla?
Auf eine indirektere Art setzen sich die Anspielungen an Jugoslawien direkt am Belgrader Flughafen nahtlos fort. Dieser ist nämlich nach Nikola Tesla (1856-1943) benannt — dem heute vielleicht weltbekanntesten „Jugo“, dessen Identität jedoch umstritten und von unterschiedlichen Parteien appropriiert wird, ohne dass der längst verstorbene Mensch hinter dem Namen dazu befragt werden könnte. Nikola Tesla wird nämlich oft auch von KroatInnen als Kroate vereinnahmt — oder, trotz seiner US-amerikanischen Staatsangehörigkeit, als Jugoslawe gehandelt. Heutzutage ist sein Name natürlich hauptsächlich über die Luxusmarke des Autoherstellers Tesla bekannt, obwohl sein Ruhm mit grandiosen Erfindungen — wie der des Wechselstroms und der drahtlosen Energieübertragung — sehr viel früher begonnen hatte. Dass Nikola Tesla, der aus einem orthodoxen Elternhaus in der kroatischen Lika stammte, bereits in jungen Jahren seine Heimat verließ und hauptsächlich in Amerika wirkte, in Serbien gerne vereinnahmt oder geehrt wird, wird aber nicht nur am Namen des Flughafens deutlich; Auch eine Denkmalplakette gleich um die Ecke bei der Philosophischen Fakultät der Universität Belgrad erinnert an ihn — nämlich seinen Aufenthalt in Belgrad im Juni 1892. Daneben finden sich Nikola-Tesla-Konterfeis an nahezu allen Verkaufsständen für touristische Souvenirs.

Der jugosawische Brutalismus: Kula Geneks
Doch was wäre Jugoslawien ohne seine charakteristische Architektur? Auf dem Weg zwischen Flughafen und Stadtzentrum wird der Blick vieler Reisender mit allergrößter Wahrscheinlichkeit ungefähr auf halber Strecke am brutalistischen Gebäude des Geneks-Turms (Kula Geneks) hängen bleiben, der auch als Westliches Tor Belgrads (Zapadna kapija Beograda) bekannt ist. Erbaut wurde das Gebäude zwischen 1977 und 1980, der Entwurf stammt vom jugoslawischen bzw. serbischen Architekten Mihajlo Mitrović. Den wenigsten Ausländern dürfte heute der Name Geneks (bzw. Genex) noch ein Begriff sein, einer jugoslawischen Export-Importfirma. Dennoch erscheint die Silhouette des großen und stets ein wenig grotesk wirkenden Gebäudes noch heute wie eine bauliche Chiffre Jugoslawiens. Dies ist nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen, dass das Abbild des Genex-Turms — zusammen mit anderen brutalistischen Denkmälern und Gebäuden aus der jugoslawischen Ära — in zuverlässiger Regelmäßigkeit durch Online Social Networks wie Facebook oder Instagram kursiert. Dort wird das Gebäude entweder von ausländischen Jugoslawien-LiebhaberInnen oder von Jugo-NostalgikerInnen aus der Jugosphäre geteilt, geliked und geherzt.

Jugoslawien als Drama?
Am Park Manjež, der sich ganz in der Nähe meines Hotels in der Resavska ulica befindet und als Ausgangspunkt des ersten Belgrad Prides auch überregional größere Bekanntheit erlangt hat, befindet sich das Jugoslawische Drama-Theater (Jugoslovensko Dramsko Pozorište), das 1947 gegründet wurde und als das repräsentative Theater Jugoslawiens schlechthin galt. Dort standen zahlreiche jugoslawische Schauspielgrößen aus Zagreb, Split, Ljubljana, Sarajevo, Belgrad, Novi Sad und anderen Orten des geteilten Staates auf der Bühne. Auch heute noch trägt es seinen alten Namen, der in großen kyrillischen und lateinischen Lettern — den beiden offiziellen Alphabeten Serbiens — in die linguistische Landschaft der serbischen Hauptstadt spricht. Unbedingt erwähnen möchte ich außerdem das Denkmal für Kosta Abrašević, das im Park Manjež steht: dieser Dichter aus einer serbisch-griechischen Familie aus dem damals osmanischen Ohrid im heutigen Nordmazedonien ist mit nur 18 Jahren im Jahr 1898 — vor der Gründung des ersten jugoslawischen Staates — gestorben. Da er aber oft als frühsozialistischer Dichter kolportiert wird — was angesichts seiner kurzen Lebensspanne als gewagte politische Einordnung erscheinen muss — begegnet man seinem Andenken noch heute an so unterschiedlichen Orten wie Belgrad und Mostar. Auch dieses Andenken datiert ganz eindeutig in die jugoslawische Epoche. In Mostar ist das autonome Kulturzentrum OKC Abrašević nach ihm benannt, das im Krieg vollkommen zerstört worden ist, aber nach dem Krieg von der unabhängigen Jugendkulturszene Mostars reappropriiert und als völlig neues Projekt unter altem Namen wieder aufgebaut wurde. Allen Freiwilligen, Aktivistinnen, NGO-Angehörigen und Personen aus dem alternativen Kulturmilieu der frühen 2000er Jahre in Mostar und Sarajevo (und darüber hinaus) ist „das Abrašević“ ganz eindeutig ein Begriff. Allen Mostaris gilt der Name außerdem als Symbol der jugoslawischen Zeit — bevor der Bulevar ihrer Stadt zur Unkenntlichkeit zerstört worden ist, und bevor die ethno-nationalistische de facto Teilung Mostars einsetzte. Auch dieser Aspekt scheint mir deshalb bemerkenswert: die „jugoslawischen“ Denkmäler und Symbole Belgrads sprechen nicht nur für sich, sondern korrespondieren mit ihren Pendants an anderen Orten im ehemligen geteilten Staat Jugoslawien.




Doch das Jugoslawische Dramentheater ist nur eines von zahlreichen Gebäuden, Denkmälern und lieux de mémoire in Belgrad, die explizit das Wort Jugoslawien im Namen führen. Dazu gehört zum Beispiel das Archiv Jugoslawiens (Arhiv Jugoslavije), das HistorikerInnen bestens bekannt ist, das Museum Jugoslawiens (Muzej Jugoslavije), vor welchem eigentlich bei sonnigem Wetter ein Großteil des KROKODIL-Festivals hätte stattfinden sollen, oder auch die Jugoslawische Kinothek (Jugoslovenska Kinoteka), wo das Panel der Konferenz HistorikerInnen für den Frieden am 29. August stattfand. Natürlich darf zu guter Letzt das Mausoleum von Josip Broz Tito als zentraler, jugoslawischer und postjugoslawischer Erinnerungsort nicht unerwähnt bleiben: das sogenannte Haus der Blumen (Kuća cvijeća/cveća). Wenn es für das zweite, sozialistische Jugoslawien (die SFRJ) eine einzige Figur gäbe, dann wäre dies ganz bestimmt Tito — der jugoslawische Patriarch und die Integrationsfigur schlechthin. Stellte man sich die Geschichte Jugoslawiens wie ein Theaterstück des Jugoslawischen Dramentheaters vor, so bildete sein Tod mit Sicherheit den Beginn des letzten Aktes des Dramas Jugoslawien.



Doch sind nun Belgrad und Serbien aufgrund all der genannten, nicht von der Hand zu weisenden, ja ganz offensichtlich objektiven Symbolik wirklich jugoslawischer als die anderen Hauptstädte und ehemaligen Teilrepubliken? Oder verbirgt sich dahinter nur ein unerhörter, historischer Etikettenschwindel? Diese Frage ist trotz der festgestellten ständigen Explizitmachung Jugoslawiens wahrscheinlich nicht anders als subjektiv zu beantworten; in Bosnien wurde mir oft gesagt, dass Jugoslawien gerade dort, und zwar in Städten wie Tuzla und Sarajevo oder in ländlichen Regionen wie im Tal der Krivaja, am „authentischsten“ überdauert habe. In Kroatien wurde mir schon energisch und ärgerlich ins Wort gefallen, als ich das Land allzu deutlich als Nachfolgestaat des ehemaligen Jugoslawiens bezeichnet habe. Doch in vielen Fällen ist die Antwort darauf auf direkter oder subtiler Ebene konfliktgeladen — was auch das Vorgängerprojekt von Histoire pour la liberté in seinem Titel „Wer hat zuerst angefangen“ (Ko je prvi počeo?) ausdrückte. Diese anhaltende Spannung kann folgende, anekdotische Szene aus einer Taxifahrt von Zemun nach Novi Beograd am letzten Tag meines Aufenthaltes in Belgrad zeigen. Diese Szene scheint ein Exempel auf eine Beobachtung des Konferenzteilnehmers und Schriftstellers Igor Štiks zu statuieren, auf die ich im Anschluss noch einmal zurückkommen werde.

Der 30. August 2021 war unser Abreisetag aus Belgrad — allerdings mit viel Zeit bis zum Abflug am Spätnachmittag. Nach dem Regenwetter der beiden Konferenztage schien endlich die Sonne vom spätsommerlichen Himmel, und eine gemeinsame Belgrader Freundin, die seit einigen Jahren in Berlin lebt, hielt sich während unserer Konferenzteilnahme zufällig auch für ein paar Tage in der Stadt auf. Zu meinem und meiner Kollegin Glück bestand sie darauf, uns beide zum Frühstück nach Zemun zu führen: einem nördlichen Stadtbezirk Belgrads mit eigenem, pittoreskem Altstadtkern, wo man vom höchst gelegenen Gardoš-Turm aus eine phänomenale Sicht auf die hier sehr mächtige Donau genießt.
Auf dem Rückweg nach Novi Beograd entwickelte sich ein freundliches, entspanntes Gespräch mit dem Taxifahrer, der sich zunächst als Lokalpatriot aus Zemun präsentierte. Er erklärte uns, dass es ihm nicht gut gehe, sobald er die für uns unsichtbare Grenze zwischen Zemun und Novi Beograd überquere; wie mir ein Belgrader Freund bereits vor fast zwanzig Jahren am Gardoš-Turm erklärt hatte, besteht eine mehr oder weniger ausgeprägte Abneigung der Zemuner gegen die Belgrader — was in Belgrad und Zemun einen Gemeinplatz darstellt. Während der Fahrt entdeckte unsere Belgrader Freundin, dass ein Fahrzeug neben uns kroatische Kennzeichen aus dem dalmatinischen Šibenik trug (ŠI), woraufhin sie beiläufig — und natürlich auch für den Taxifahrer deutlich hörbar — meiner Kollegin auf dem Beifahrersitz zurief: „Schau, da sind ja deine Leute, aus Šibenik!“ Sie bezog sich damit darauf, dass die Eltern meiner Kollegin ebenfalls aus dem kroatischen Dalmatien kamen. Doch dieser völlig arglose Ausruf wirkte bei unserem Taxifahrer wie ein einfach zu dechiffrierender Code: neben ihm saß also eine vermeintliche Kroatin.
Dies veranlasste ihn, von seiner engen, lokalpatriotischen Perspektive Zemun-Belgrad auf seine weitere, jugoslawische Erfahrungsebene Serbien-Kroatien zu wechseln. Zuerst erwähnte er, dass er während des Krieges im Feld (na ratištu) gewesen sei. Darauf sei er allerdings nicht sehr stolz, und er verschwieg uns weiteres Detailwissen. In seiner anschließenden Ansprache kam er jedoch nicht umhin, in eine Art nationalen Lobklatsches für Serbien zu verfallen: im Gegensatz zu Kroatien sei man in Serbien doch immerhin etwas toleranter. Schließlich habe man in Serbien eine Premierministerin (er meinte Ana Brnabić), die Kroatin sei. Etwas ähnliches sie in Kroatien doch wohl völlig undenkbar, und das sei eben — so seine Worte — die „Serbien-Variante“ (Srbija varijanta). Es ist fraglich, ob die serbische Premierministerin Ana Brnabić nun durch ihren kroatischen Großvater väterlicherseits, der von der Insel Krk kam, als Kroatin zu bezeichnen wäre. Doch unverkennlich steckte in dieser leicht provokativen Äußerung unseres Taxifahrers das Selbstbild, fortwährend jugoslawischer zu sein als die Anderen — und damit die Kroaten.
In dieser Art der „Umarmung“ der jugoslawischen Vergangenheit, die von den Umarmten durchaus als unangenehm empfunden werden kann, steckt ein Muster, das auch laut Igor Štiks weit verbreitet sei. Štiks, der ursprünglich aus Sarajevo kommt, floh mit seiner Familie während des Bosnienkriegs nach Kroatien, wo er sozialisiert wurde, lebt aber heute in Serbien. Auf dem letzten Panel der Konferenz HistorikerInnen für den Frieden stellte er fest, dass der Umgang mit der jugoslawischen Vergangenheit zwischen zwei Gegensatzpolen pendelte: einerseits gebe es die Tendenz zum völligen Bruch (rez), was besonders verbreitet unter der nationalistischen Elite Kroatiens sei. Andererseits gebe es die Praxis, eine Kontinuität zu behaupten, die gleichzeitig den Nationalismus adaptiere. Genau diese letztere Tendenz ließ sich im Lobklatsch des Taxifahrers beobachten — und sie findet sich in anderer Gestalt auch an vielen Verkaufsständen für Souvenirs in Belgrad wieder, wo nebeneinander Devotionalen mit jugoslawischer Symbolik und serbisch-nationalistischer Symbolik verkauft werden.

