[Neue Medien] Plattformkapitalismus und Historiographie: warum sich Historikerinnen nicht heraushalten können

Ich followe seit einiger Zeit einem Autor namens Umair Haque auf Medium. Für meinen Geschmack schreibt er viel zu flach und bulldozerhaft, aber manchmal bringt er ein paar Dinge sehr spitz auf den Punkt. Deswegen verlinke ich hier seinen aktuellen Beitrag unter dem Titel Why Elon Musk Buying Twitter Is Even Worse Than You Think. Enttäuschend fand ich die wenig reflektierte Erklärung, warum es nun „noch schlimmer ist, als du denkst“, dass Elon Musk Twitter aufgekauft hat. Es kann sich jeder schnell selbst ein Urteil bilden, denn der Text ist sehr einfach, mit vielen kursiven, für die Leser:innen einmal alles auf den Punkt bringenden Quintessenzen. Den Untertitel nenne ich einmal kapitalistisches Krisenbewusstsein par excellence: „If You’re Thinking of Leaving Twitter, Come Join Us at Medium“. Genial: im Folgenden erklärt er den Leser:innen, warum Twitter eine böse, irregulierte, und seine eigene Plattform (Medium) eine gute, regulierte sei. Ich gebe zu: ich bin genervt. Aber ich stimme dem Autor zu, dass wir uns über Twitter und andere Plattformen Gedanken machen müssen, jetzt sofort. Und dass es Regulierung bedarf. Weder Historiker:innen noch Politiker:innen sollten diesen Diskurs anderen überlassen, wie es bislang oft gehandhabt wird. Schalten und walten über Online Plattformen wird weitestgehend privaten Personen außerhalb des politisch gestaltbaren Raums überlassen, sogenannten „Tech-Giganten“ und Start-up-Milliardären.

Das Problem, das ich sehe, heißt Plattformkapitalismus, wie ihn Nick Srnicek beschrieben hat. Zum einen ist es völlig absurd, welche krassen Geldmengen und damit Macht sich um Plattformen häufen. Das größere Problem hinter Plattformkapitalismus ist aber das weitere Gefahrenpotenzial, das mit ihm einhergeht: massenhafte Meinungsproduktion, Manipulation durch gezielte Desinformation, Verhetzung und Zerstörung des politischen Prozesses. Die Folgen kann (und muss) man sich in radikaler Ausprägung in Russland gerade anschauen. Mit der Trump-Wahl, die bekanntlich in weiten Teilen eine Twitter-Wahl war, reichte dieses Gefahrenpotenzial aber auch in den USA schon gefährlich nahe ran an die Atomknöpfe. Nicht umsonst wurde Trump von Twitter herausgeworfen — wenn auch erst nach der völligen Verlotterung der US-amerikanischen Politikkultur mit der „Erstürmung des Kapitols“ am 6. Januar 2021. Es ist übrigens irrelevant, ob Trump nun diese oder eine andere, irregulierte Plattform nutzt — angeblich will er bei seiner eigenen Meinungsplattform bleiben — sofern diese durch irregulierte Ignoranz zu einer Plattformoligarchie auswachsen kann. Und genau davon muss eigentlich die Rede sein: von Plattformoligarchie, gewissermaßen der monopolistischen Steigerung von Plattformkapitalismus. Ich schließe damit an einen Blogpost zu diesem Thema im Zusammenhang mit Starlink von SpaceX an — das ebenfalls dem Plattformoligarchen Elon Musk gehört (und Gwynne Shotwell).

Angehörige der Three Percenters am 6. Januar 2021 in Washington D.C. Auch bei den Anhängern Trumps spielen, wie hier deutlich zu sehen ist, Themen aus dem Repertoire der Historiographie eine zentrale Rolle.
Elvert Barnes from Silver Spring MD, USA, CC BY-SA 2.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0, via Wikimedia Commons

Wie ich in dem Blogpost über Starlink schon festgestellt habe, ist es brandgefährlich, wenn genuin politische Domänen von nicht-politischen, sogar anti-politischen Akteur:innen beherrscht werden. Zu diesen Domänen gehört die Infrastruktur (z.B. die Versorgung mit Internetzugang, wie über Starlink/SpaceX) ebenso wie Gesundheit, Bildung, Klima, politische Rechte, etc. Nicht nur mit Blick auf das, was noch so an Unheil drohen mag, ist die Entwicklung hin zur Palattformoligarchie beunruhigend, bei all dem neopopulistischen Treiben, Storytelling und Werben unserer Zeit. Und wir dürfen nicht „nur“ über Russland und die USA reden. Unheil droht von überall her, mit je unterschiedlichem Eskalationspotenzial: so auch auf dem Balkan, in Frankreich — und natürlich in Deutschland. Gerade heute erreicht uns eine neue, leider zu erwartende Nachricht aus der Türkei, wo Osman Kavala nun lebenslang weggesperrt werden soll, nachdem er seit Jahren ohne Grund im Gefängnis sitzt, ebenso wie sehr viele weitere Politiker:innen, Journalist:innen und Minderheitenvertreter:innen. Auch das türkische AKP-Regime arbeitet mit massenhafter Verhetzung, Desinformation und Manipulation über Neue Medien und hat darüber das politische System zu einem einmännrigen, neopopulistischen Herrschaftsregime verschnitten. Dieses arbeitet intensiv mit Geschichtsrevisionismus, und zwar nicht „nur“, was die Genozidleugnung im Fall des Armeniergenozids betrifft: es ist auch sehr beunruhigend, was der Demagoge Erdoğan zum Vertrag von Lausanne von 1924 und zu den (früheren und künftigen) Grenzen der Türkei zu sagen hat.

Dann gäbe es da noch viele andere, größere (z.B. Brasilien) und kleinere (z.B. Serbien) Länder, die auf einem sehr ähnlichen Pfad unterwegs sind. The West and the Rest: Wie aus früheren Weltkriegen gewusst wird, spielten gerade sogenannte periphäre Räume oft keine geringe Rolle. Deshalb und weil bei Geschichtsrevisonisten die „inneren Angelegenheiten“ eines Staates schnell zum Problem für das „Äußere“ und die Nachbarländer werden, können wir es uns nicht leisten, nur selektiv hinzusehen. Geschichtsrevisionismus ist ein globales, kosmopolitisches Problem.

Im eigenen Innenhof beschäftigt mich in diesem Zusammenhang besonders die Frage der digitalen Mündigkeit und der Schutz der Freiheitsrechte vor manipulativer, öffentlicher Meinungsproduktion des Neopopulismus. Der Neopopulismus, worunter man all die oben genannten Beispiele subsummieren könnte, tritt faszinierenderweise so gut wie immer mit historischem Revisionismus auf; schon aus diesem Grund sollten beide Phänomene — digitale Mündigkeit und Geschichtsrevisionismus — heute immer gemeinsam betrachtet werden. Doch ich will noch einen Moment bei der Frage der digitalen Mündigkeit oder Souveränität bleiben, die eigentlich immer eine politische Frage ist — ein Teil des politischen Prozesses. 

Dies gilt besonders in demokratischen Systemen, wo vorgesehen ist, dass politische Prozesse auf Zustimmung, Ablehnung und Partizipation souveräner, mündiger Bürger:innen beruhen. Öffentliche Meinungen — ob zu Geschichte und geschichtlicher Legitimät staatlicher Souveränität, ob zu anderen politischen Fragen — sind deshalb alles andere als ein vernachlässigbarer Randbereich. Sie betreffen das Eingemachte: Sie sind das „Wie“, das „Wohin“ und das „Wofür“, die großen W-Fragen des politischen Betriebes. Dieser hat es an sich, dass er immer gestaltbar ist. Er verlangt sogar unbedingt nach Gestaltung, und dies kann die eigentlich beruhigende Folge haben, dass politische Prozesse nie einfach so „geschehen“ wie eine Naturkatastrophe, der man nichts entgegenzusetzen hätte. Wie der Soziologe Norbert Elias es formuliert hatte: alles ist erklärbar, auch die größten Katastrophen. Elias wusste, wovon er schrieb, denn er hat die Nazis erlebt. Diese lassen sich gar nicht anders erklären als über das Studium der Übernahme öffentlicher Meinungen und des Geschichtsrevisionismus, und wie heute spielten auch damals Massenmedien schon eine zentrale Rolle. Inzwischen hat eine kommunikationstechnologische Revolution stattgefunden, die uns theoretisch alles sogar erleichtern könnte: die ganze Welt kann über das World Wide Web miteinander kommunizieren. Eine Zeitlang hat man jedoch an den Trugschluss geglaubt, die eigentliche Wende habe Anfang der 1990er stattgefunden; seitdem, so die damalige Hoffnung, seien wir gewissermaßen viel näher dran am Ende der Geschichte und damit am Nirvana endloser Freiheit. Wie ich gleich noch zeigen werde, ist diese Haltung offenbar immer noch nicht ganz überwunden. Dennoch wissen wir es heute eigentlich besser: Nichts wird automatisch besser, wenn man die großen W-Fragen des politischen Betriebs sich selbst überlässt. Tut man es trotzdem, werden mit absoluter Sicherheit Akteure kommen, die sich dieser Fragen annehmen um sie zu viel Geld zu machen: die Plattformoligarchen des Plattformkapitalismus.

Ich habe meinen Blick die letzten Jahre über — wachgeschreckt durch das, was sich mir im Forschungsprozess dargeboten hat — verstärkt auf den betäubten Zustand der digitalen Mündigkeit in Deutschland gerichtet. Davor habe ich die Bedeutung von Digitalisierung für schier alles, was ich beruflich tue, sträflich unterschätzt. Ich hielt Digitalisierung in erster Linie für eine Angelegenheit der Informatiker:innen. Ist dies eine Art Déformation Professionelle? Oder hat es mit einem mangelnden Selbstvertrauen in die Möglichkeiten zu tun, sich als Geistes- und Sozialwissenschaftler selbst Wissen über die Prozesse der Digitalisierung aneigenen zu können? In meinem Fall hat es viel mit letzterem zu tun, und ich hoffe, dieses Problem zusammen mit einem befreundeten Blogger in einem Workshop über Science Blogging für Geisteswissenschaftler:innen bald bearbeiten zu können. Ich war in meinem Berufsfeld jedenfalls nicht allein mit meinem Fremdeln mit dem Bereich Tech. Ich kenne viele Geisteswissenschaftler:innen, Sozialwissenschaftler:innen und besonders Historiker:innen, die glauben, ihre Rolle sei einfach eine andere; sie könnten ihr Berufsfeld relativ getrennt von der Digitalisierung beackern, die zwar in Gestalt nützlicher Technologien und Methoden — Übersetzungssoftware, Zitierprogramme, Kommunikationstechnologie, Content Management, Digital Humanities — dienlich sei, aber eben eher aus der Perspektive verständiger Konsument:innen.

Und liegt das bei Historiker:innen nicht auch besonders nahe? Wieso sollten Historiker:innen nun Expert:innen über die Frage werden, wie ihr Berufsfeld grundlegend von der Digitalisierung transformiert wird? Die digitale Revolution wird manchmal für das Jahr 2002 angesetzt, das kaum eine Historiker:in als weit genug vergangen ansieht, als dass es als „historisch“ zu gelten hätte. Es ist das Jahr, von dem geschätzt wird, dass die Menschheit erstmals einen Zustand erreicht habe, in dem die Hälfte aller menschlich produzierten Information nicht analog, sondern digital produziert worden ist. Wir wissen auch aus unserem Alltag, was mit dieser epochalen, technologischen Wende gemeint ist: die rasende Geschwindigkeit unserer Zeit. Die krasse Fülle von Information. Das Kleben an den Touchscreens.

Myworkforwiki, CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons

Und damit komme ich zum untrennbar verbundenen Verhältnis zwischen Digitalisierung und Historiographie. Denn zu den unfassbaren Mengen von digital produzierter, gelikter, geteilter, konsumierter, „prosumierter“ Information und Desinformation neuer Medien gehören auch jene Informationen, die in der vorrevolutionären Zeit auf dem Berufsfeld der Historiker:innen produziert worden sind. Auch sie werden heute weitgehend irreguliert durch den Raum öffentlicher Diskurse gejagt. Natürlich gab es immer schon widersprüchliche historiographische Befunde — und auch Geschichtsrevisionismus gibt es, seit Geschichte geschrieben wird. Der Unterschied liegt eher in der Vehemenz des diskursiven Hin- und Hers. Wer einen Eindruck von dieser Vehemenz des Missbrauchs und der Manipulation bekommen möchte, braucht sich nur eine jener historisierenden TV-Serien aus der Türkei anzusehen, die das herrschende Regime seit einigen Jahren selbst produzieren lässt, und in denen sogar außenpolitische Aktionen angekündigt werden — wie zum Beispiel die militärischen Interventionen in Syrien. Auch historische Information wird zu Desinformation: dafür wird der Begriff Geschichtsrevisionismus gebraucht. Die Türkei ist dabei kein Einzelfall: historische Themen aller Art „boomen“ auf den Mediatheken und Plattformen. Mit populistischem Geschichtsrevisionismus werden anderswo bereits große Kriege legitimiert.

Bildquelle: Screenshot eines Propaganda-Videos des türkischen AKP-Regimes, URL: https://tccb.gov.tr/en/news/542/32623/president-erdogan-visits-set-of-dirilis-ertugrul (zuletzt abgerufen am 27.4.2022).
Das türkische Pendant zu Russia Today, TRT World, verbreitet über die Plattform Facebook geschichtsrevisionistische Inhalte, in diesem Fall ist es die Werbung für die pop-islamistische Serie Turki Lala. Eine Besonderheit des türkischen Geschichtsrevisionismus ist, dass er besonders stark auf nicht-türkische Öffentlichkeiten abzielt, die religiöse (islamische) oder panturkistische sowie stets antiwestliche Narrative bedient. Bildquelle: Screenshot vom 10.1.2021.

Nach meiner Dissertation habe ich mich das gesamte letzte Jahr hindurch im Projekt Histoire pour la liberté mit dem Diskurs über populärkulturelle Geschichtsklitterung, Revisionismus und Neopopulismus zwischen Südosteuropa und Deutschland beschäftigt. Nicht nur ich, sondern viele Kolleg:innen aus der Region haben immer wieder davor gewarnt, dieses Problem nicht ernst zu nehmen: es spricht wenig dafür, dass die Ankündigungen und Drohungen, Grenzen souveräner Staaten in Frage zu stellen und gewaltsam niederzureißen nicht zu konkreten Taten werden. Viele Historiker:innen haben aus diesem Wissen heraus etwas getan, wovor sie sonst eher zurückscheuen: sie haben sich mit ihren Warnungen außerhalb ihres angestammten Berufsfelds in Fernsehsendungen gesetzt, mit Politiker:innen gesprochen, öffentliche Deklarationen verfasst, wie jene unter dem Titel Lasst uns die Geschichte verteidigen (Odbranimo Historiju), und nicht über die Vergangenheit, sondern über wahrscheinliche Zukünfte gesprochen. Auf der empirischen Grudlage historischer Erfahrungen mit Geschichtsrevisionismus haben sie dabei von der „psychologischen Möglichkeit neuer Konflikte“ gewarnt.

Mit Professor Dr. Husnija Kamberović aus Sarajevo (links) und Dr. Branimir Janković aus Zagreb (rechts) am 26. 10. 2021 auf der von Dr. Ruža Fotiadis und mir organisierten Konferenz Vernetzte Historiographien in Südosteuropa und Deutschland an der Humboldt-Universität zu Berlin, die als vorletzte Teilveranstaltung des Programms Histoire pour la liberté stattfand. Daran war der Lehrstuhl für Südosteuropäische Geschichte von Professor Dr. Hannes Grandits als deutscher Partner beteiligt.

Wie konkret diese Gefahr auch von anderen neopopulistischen Regimen ausgeht, nämlich in der vom Putin-Regime beherrschten Russländischen Föderation, wird derzeit breit besprochen, nachdem sich diese Warnungen dort bewahrheitet haben. In der aktuellen Zeit (17/2022) gehen Jörg Lau, Anna Sauerbrey und Michael Thumann unter dem Titel Warum zögert der Bundeskanzler (Gewissensfrage I) ausführlich darauf ein, dass auch das Problem des Geschichtsrevisionismus — ähnlich wie das Thema der digitalen Mündigkeit — unterschätzt worden sei. Sie beziehen sich auf ein Gespräch mit Jens Plötner, dem politischen Direktor des Auswärtigen Amtes, sowie mit Russland-Expert:innen, die sich davor mit Plötner, Bundeskanzler Olaf Scholz und anderen zu einem Expertengespräch getroffen hatten:

Er habe die Fragen sehr seltsam gefunden, sagt ein Experte. Der Kanzler und seine Leute interessieren sich weniger für den aktuellen Truppenaufmarsch. Sie fragen nach dem russischen Kolonialismus, nach Putins Geschichtspolitik, dem russischen Faschismus. Scholz, Plötner und ihr Team befassen sich in den Tagen kurz vor dem Krieg mit Putins Denken, lesen einen Aufsatz, den der russische Präsident geschrieben hat. Der Kanzler versucht Mitte Februar, durch Pendeldiplomatie zwischen Kiew und Moskau den Krieg noch zu verhindern. Im Flugzeug kommt er vor Journalisten mehrfach auf Putins historische Abhandlung zu sprechen. Kann es sein, dass es Putin gar nicht um den Status des Donbass, die Nato-Osterweiterung oder Rechte für russischsprachige Ukrainer ging — sondern um ein imperiales Projekt? Scholz war der Zweifel anzumerken, die Verstörung eines rationalen Politikers, der auf die Macht von Ideologien und nationalen Mythen prallt. Auf Phänomene, die die deutsche Politik überwunden glaubte. 

Die Zeit Nr. 17, S. 4.

Historiker:innen ist natürlich bewusst, dass die Rolle von geschichtlichen Mythen immer schon grundlegend für die Geschichte von Nationalstaaten waren, so rational und sachlich sie sich auch geben mögen, wie es Deutschland hier zugeschrieben wird. In den Sozial- und Geisteswissenschaften gibt es zahlreiche Arbeiten über die Rolle dessen, was hier in der alten Aufteilung zwischen Ratio und Mythos der letzteren Sphäre zugeordnet wird, die als Gebiet der Nicht-Wissenschaft, der Nicht-Faktizität und des Irrationalen verstanden wird. Wie außerdem bekannt ist, haben gerade die Geisteswissenschaften, die jene nicht-rationalen, emotionalen, mythischen Aspekte des Sozialen erforscht, vergleichsweise wenig Rückhalt: welchen Wert sollte auch die Erforschung von Dingen haben, die man für „überwunden glaubte“? Genau das stellt sich jetzt jedoch als Fehler heraus:

Jetzt öffnen sich Scholz, Plöttner und Co. langsam dem Gedanken, dass diese Undenkbarkeit doch denkbar sein muss, und beeilen sich, ein Verständnis dafür zu entwickeln — zur Überraschung jener Experten, die davor seit Jahren warnen. Es ist eine Erkenntnis, die Jahre der Russlandpolitik zunichtemacht, auch für Plötner: Wie es seinem Land wirtschaftlich geht, ist Putin egal. Mit Verflechtung lässt er sich nicht einhegen. Für die Wahrwerdung seiner Ideologie ist er zum Blutvergießen bereit. Das stellt alle Gewissheiten von „Wandel durch Verflechtung“ auf den Kopf.   

Die Zeit Nr. 17, S. 4.

Wie über Putin bekannt ist, hält er mit seinem imperialen Geschichtsbild nicht hinter dem Berg. Das Putin-Regime ist dafür bekannt, unfreie, mehrsprachige Massenmedien wie Russia Today (RT) und Sputnik des staatlichen russischen Medienunternehmens Rossija Sewodnja zu nutzen, die in der Europäischen Union erst seit Februar 2022 verboten sind — insofern nun also reguliert sind. Die Reichweite dieser Propaganda-Medien, ihr gesamter Charakter und ihre Funktionsweise wären ohne die digitale Revolution nicht zu fassen. Geschichtsrevisionistische Behauptungen, die das Putin-Regime nutzt — etwa, indem behauptet wird, man wolle die Ukraine „entnazifizieren“, und dass der ukrainische Staat als Kleinrussland keinerlei historische Legitimation habe, also auch zerstört werden darf — werden über digitale Medien verbreitet. Deshalb kann die Frage, ob sich Historiker:innen nicht vielleicht doch vornehm zurückhalten können bei der Beschäftigung mit der Digitalisierung als „unhistorisches Thema“, ganz kurz beantwortet werden: Nein, Historiker:innen können sich nicht raushalten

Wladimir Putin beim Besuch der RT-Sendezentrale, 2013. Kremlin.ru, CC BY 3.0 https://creativecommons.org/licenses/by/3.0, via Wikimedia Commons

Noch weniger können sich Politiker:innen raushalten. Wie aber bekannt ist, gab es in der letzten Legislaturperiode in Deutschland kein Ministerium für Digitales. Immerhin seit 2018 gab es eine Staatsministerin — jedoch ohne Ministerium. Diese hieß Dorothee Bär, die von der bayerischen CSU nach Berlin geschickt wurde. Aus Interesse über ihre Tätigkeiten und ihr Verhältnis zu digitalen Plattformen folge ich Dorthee Bär auf Instagram, das wie Facebook zu Zuckerbergs Meta gehört. Bär ist eine ganz eifrige Nutzern und hat die Plattform sogar regelrecht angehimmelt: inzwischen hat sie es zwar aus ihrer Tagline genommen, aber dort bezeichnete sie sich früher als Instaloverin. Dort fanden sich allerlei Pink und Lack, Bilder mit einem immer gleichen Lächeln, Empfänge und öffentliche Auftritte in schönen Kleidern, und oft war auch der Hashtag #Heimatliebe dabei — meistens, wenn es um Wahlen in Bayern ging, wo ihr dieses Wort auch als einziger nicht-bildlicher Inhalt der Wahlkampfplakate ausreichte.

Heimat genügt in Bayern offenbar als Slogan, Bildquelle: eigene Aufnahme 2020.

Wer sich über ihre Auseinandersetzung mit Digitalisierung ein Bild verschaffen wollte, landete bald bei ihrem Podcast unter dem Titel „Bär on Air: Wandern durch das DigiTal„. Ernsthaft! Schnell kommt der Verdacht auf, Angela Merkels Rede vom Internet als „Neuland für uns alle“ im Jahr 2013 sei gar nicht so weit hergeholt gewesen. Das politische Deutschland — Neuland — ist quasi das genaue Gegenteil von Taiwan, worauf ich am Ende noch als positives Gegenbeispiel zurückkommen will.

Mit der neuen Bundesregierung wurde das Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) eingerichtet. Das ist erst einmal erfreulich (und überfällig). Ich frage mich jedoch, ob es sein kann, dass die Koppelung des Ressorts mit Verkehr, die zwar durchaus Sinn macht — aber eben soviel Sinn macht es, Verkehr mit Gesundheit oder Umwelt in ein Ministerium zu packen — nicht doch von der generellen Unterschätzung des Ressorts zeugt. Wieso gibt es eigentlich kein Superministerium Digitalisierung? Auch zum aufholen nach dem „Wandern im neuländischen DigiTal“ wäre dies vielleicht ein angemessenes Signal. Und ich frage mich, wieso eigentlich so wenig über Digitalsteuer und Meinungsproduktion mittels nicht-politischer Korporationen geredet wird. Angesichts der Twitter-Übernahme durch Elon Musk lassen sich die riesigen Ausmaße der Löcher durch nicht stattfindende Besteuerung erahnen. Und wieso wird so wenig über Plattformkapitalismus und Plattformoligarchien diskutiert?

Der Bundesminister für Digitales und Verkehr, Dr. Volker Wissing, gehört der FDP an — der Partei, die es nie geschafft hat, sich von der Ideologie des Neoliberalismus zu emanzipieren. Nur noch einmal schlagworthaft zusammengefasst: die neoliberale Ideologie — die eigentlich eher ein Ideologieverschnitt ist — geringschätzt den politischen Prozess, indem sie für weitgehende Deregulierung eintritt. Für den (regulierenden) politischen Prozess ist in der neoliberalen Ideologie eher der Sparstrumpf vorgesehen: genau wie für den wissenschaftlichen Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften, die allerdings genau hinsehen und analysieren könnten, welche strukturellen Probleme zwischen den Fehlleistungen einer abgehalfterten Ideologie, dem Problem des Plattformkapitalismus (der Plattformoligarchie) und dem um sich Greifen der geschichtsrevisionistischen Neopopulismen bestehen — und wie sie zu beheben wären. Diese Problematik ist natürlich sehr komplex: es ist nicht einfach, zu schnellen Lösungen zu gelangen, was die Regulierung von meinungsproduzierenden Plattformen angelangt. Regulierung bedeutet mindestens dreierlei: erstens, die Regulierung der Inhalte, was nämlich das Problem der Zensur aufwirft. Zweitens betrifft dies die Frage der Regulierung der Besteuerung (die Digitalsteuer), wie im aktuellen Fall der Übernahme Twitters durch Elon Musk. Und drittens handelt es sich bei Plattformoligarchen um Akteure im extraterritorialen oder transnationalen Raum, für die nationalstaatlich gebundene Gesetze schwer geltend zu machen sind. 

Audrey Tang, CC0, via Wikimedia Commons

Dennoch frage ich mich, wie lange man es sich noch leisten kann, der Verhökerung heißer Luft, dem Wucher an Desinformation und Geschichtsrevisionismus für weitgehend unversteuerte Milliardenbeträge tatenlos zuzusehen. Das Problem, so komplex es ist, ruft nach dringender Lösung, die keinen Aufschub tolerieren kann. Ich denke, gerade in diesem wichtigen Ressort kommt es auf fundierte Kenntnisse der digitalen Backends an. Und vielleicht auch ein bisschen auf Diskursanalyse. Auf jeden Fall also auf Multidisziplinarität — und auf best practice Beispiele. A propos, und weil man aber nicht nur kritisieren, sondern auch konstruktive Vorschläge machen und Beispiele anführen sollte, möchte ich zum Schluss ein solches nennen. Beeindruckend finde ich Audrey Tang, die taiwanesische Digitalministerin, in der Auseinandersetzung zwischen dem ebenfalls geschichtsrevisionistischen Regime der Volksrepulik China und Taiwan. Diese — bzw. dieser, denn Tang sieht sich als post-gender — programmiert seit ihrem achten Lebensjahr. Sie ist Star der Perl-Gemeinschaft, nach der plattformunabhängigen Programmiersprache Perl, die der Linguist Larry Wall 1987 entwickelt hat. Außerdem ist sie Vertreterin der Open-Source-Bewegung, die an und für sich ein Statement gegen Plattformoligarchien ist. Für Taiwan wird ein ähnliches Szenario wie für die Ukraine gefürchtet: Festlandchina könnte es militärisch überfallen. Den Ausschluss Taiwans durch Festlandchina auf internationalem Parkett umgeht sie gelegentlich, indem sie — zum Beispiel bei der UNO — als digitaler Avatar auftritt. Sie sagt übrigens, dass sie Anarchistin sei, die weder Befehle gebe noch entgegennehme. Vor so etwas haben autoritäre Regime abhorrente Furcht: zurecht. Wir sollten uns an ihr und Taiwan ein Beispiel nehmen.

Eine Antwort auf „[Neue Medien] Plattformkapitalismus und Historiographie: warum sich Historikerinnen nicht heraushalten können

Add yours

Hinterlasse einen Kommentar

Website bereitgestellt von WordPress.com.

Nach oben ↑