[Heine-Projekt] 5.3 Die Romantiker: Ressentiment oder Rebellion?

Hannah Arendt hatte für ihr Varnhagen-Buch ursprünglich den Titel „Die Melodie eines beleidigten Herzens, nachgepfiffen mit Variationen von Hannah Arendt“ vorgeschlagen, der sich jedoch weder bei ihrem deutschen Verleger Klaus Piper durchsetzen ließ, noch in der englischen Übersetzung wiederfindet.83 Die Bezeichnung des „beleidigten Herzens“ erscheint insofern als passend, als Rahel Varnhagen vor dem im letzten Kapitel beschriebenen Hintergrund des „antisemitic turn“ in Deutschland mit ihrem Versuch, „dem Judentum zu entkommen„, scheitern musste: „Rahel Levin, mit ihrem Mut zur Wahrheit, scheiterte an einer Gesellschaft, in der man nur Mensch sein konnte, wenn man nicht mehr Jude war.84 Bemerkenswerterweise sei ihr Heinrich Heines Rebellion zum Trost geworden:

Und wenn es die Ironie ihres Lebens war, daß sie mit genau den geistigen, gesellschaftlichen und psychologischen Mitteln, durch die sie versuchte, dem Judentum zu entkommen, eine jüdische Tradition gestiftet hat, so ist es doch die einmalige Rechtschaffenheit und große Ursprünglichkeit ihrer Person, die es ihr, als einziger unter ihren Altersgenossen, ermöglichte, schließlich als bewußte Jüdin zu sterben, (…) versöhnt mit ihrem Schicksal und getröstet in der Erkenntnis, daß Heines Rebellion gegen die Gesellschaft und das fröhlich-unbekümmerte Pariatum der „Traumweltherrscher“ (Heine) ihr Andenken bewahren würde.85

Wie Arendt weiter über Heine schreibt, habe sich dieser also für das Dasein als rebellischer Paria entschieden, und somit gegen quietistische Parvenühaftigkeit — auch, weil er es sich leisten konnte, da er sich auf die Unterstützung seines Onkels verlassen konnte. Sein Jüdischsein interpretiert sie gleichzeitig wie eine Legitimation seiner Rebellion:

Nun, Salomon Maimon wußte, daß er ein Paria war, und Heinrich Heine wäre nie aus der Reihe der mittleren Talente, welche das deutsche Judentum damals wie später zu Dutzenden produzierte, herausgetreten, um fast ein Dichter und sicherlich einer der großen deutschen Schriftsteller zu werden, wenn er nicht von Anbeginn an dem „Zufall seiner Geburt“ festgehalten hätte. Während die von ihm und Börne so bitter verhöhnten „Geldjuden“ sich in die hohe und höchste Politik mischten, obwohl sie sich heimlich als Juden dazu nicht berechtigt fühlten, sagten die großen Rebellen des 19. Jahrhunderts ihr Wort zu allen Angelegenheiten ihrer Zeit, weil sie Juden waren, weil sie die große Legitimation der Unterdrückung vorweisen konnten.86

Wie aus diesem Zitat hervorgeht, scheint Arendt der Rebellion Heines nicht eindeutig enthusiastisch gegenüberzustehen. Da es Arendt immer darum ging, politisch zu denken, ist dies wenig überraschend, denn sie deutet die „Fremdheit der jüdischen Individuen, auf die sie so stolz waren„, als nicht stärker politisch denn die Annahme des Schicksals durch den durchschnittlichen Juden, der auch keine große Wahl gehabt habe; sie fasste dies als „nur die ins individuell Psychologische gespiegelte Judenfrage“ auf, und befindet, es sei

schwer, auszumachen, wem diese psychologische Spiegelung mehr geschadet hat — einer vernünftigen Diskussion und Lösung des politischen Problems oder den jüdischen Individuen selbst. Ein politischer Konflikt kann nur entstellt werden, wenn er als seelischer gelöst wird; und die Seelen von Menschen werden sehr merkwürdige Gebilde, wenn Politik zum Erlebnis und öffentliche Wirklichkeit zu privatem Gefühl werden87

Es stellt sich freilich die Frage, ob denn Heine und Börne die Wahl gehabt hätten, sich anders zu entscheiden, als ihre Rebellen-Paria-Rolle anzunehmen, was allerdings mit dem Preis einherging, Deutschland zu verlassen und nach Frankreich zu gehen. Heine war ein Schriftsteller, der unter der Zensur enorm litt — und was wollte ein Schriftsteller anderes machen, als zu schreiben? Umso verständlicher wird dieser eigentliche Zwang, Deutschland zu verlassen — Zwang, da es oft hieß, Heines Exil sei selbst gewählt gewesen — an der zugespitzten Polemik, mit der Heine die Entwicklungen in Deutschland angriff und oft genug aufs Korn nahm. In diesem komplexen Sinne wäre es außerdem falsch, Heinrich Heine aufgrund seiner Außenseiterposition und seiner oft stark zugespitzten Polemik gegen die Romantische Schule, Deutschland und die Figur der Deutschen als deutschlandfeindlich misszuverstehen.

Bereits in der knappen Vorrede der Romantischen Schule wird Heines ambivalentes Verhältnis zu Deutschland deutlich: dieses nennt er zwar wiederholt „Vaterland„, spricht von „unserer Literatur„, empfiehlt aber gleichzeitig „das Heil des Vaterlandes und die schutzlosen Gedanken seiner Schriftsteller (…) dem Mitleid der ewigen Götter88 an. Einer der Hauptgründe für Heines Hang zur Satire und zur Polemik waren seine immer wieder gemachten Erfahrungen des Ausschlusses, und am konkretesten wiederfährt im dieser Ausschluss als Schriftsteller — freilich zusammen mit Antijudaismus und Antisemitismus — in der ständigen Zensur. Wie Heine in der Vorrede der Romantischen Schule weiter schreibt, seien seine vorangegangen Versuche, diesen und andere Texte, unter anderem Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, auf Deutsch in Deutschland zu veröffentlichen von seinem „Herrn Verleger (…) eigenmächtig verstümmelt“ worden.89

Sein Blick auf Deutschland — aus Frankreich — ist ein bedauernder, zuweilen melancholischer und nostalgischer, wie in seinem Gedicht In der Fremde deutlich zum Ausdruck gebracht. In diesem Gedicht verwendet er bereits die immer wieder bemühten Metaphern der Eiche, auf die ich noch ausführlicher zurückkomme, sowie des bereits genannten Veilchens:

Ich hatte einst ein schönes Vaterland.
Der Eichenbaum
Wuchs dort so hoch, die Veilchen nickten sanft.
Es war ein Traum.
Das küßte mich auf deutsch und sprach auf deutsch
(Man glaubt es kaum Wie gut es klang)
das Wort: „Ich liebe dich!“
Es war ein Traum.90

Das Deutschland, welches Heine bedauert und kritisiert, ist jenes der Romantiker, und als zentrale Figuren dieses Deutschlands der Romantiker treten für ihn „die Schlegeln“ auf– nämlich die Brüder Friedrich Schlegel und August Wilhelm Schlegel, letzterer sein ehemaliger Hochschullehrer aus Bonn. Über beide schreibt er das ganze Buch Die Romantische Schule hindurch in mehr oder weniger „klirrender Ironie„.91Die Schlegeln“ erscheinen dem Leser einerseits wie die beiden realen Personen, andererseits wirken sie synekdochisch, wie als Kollektivum, für die Romantiker insgesamt; und natürlich stellt sich hier die Frage, an welchen Stellen bei Heine die Grenzen zwischen Rebellion und Ressentiment gegen dem alten Lehrer verwischen und überlappen.

Allerdings ist es typisch für Heine, dass er auch die Meriten der ständig kritisierten Schlegeln hervorkehrt, wenn auch in der für ihn so typischen Ambivalenz und Ironie: so räumt er ein, dass Friedrich Schlegels Sanskrit-Studien „rühmlichste Erwähnung verdienen„, weil sie das Sanskrit Studium in Deutschland überhaupt erst etabliert hätten. Nach kurzem Verriss des Eigenlobs des „jüngeren Schlegels“ aber moniert er die Motivation beider, denn „[i]m ‚Mahabharata‘ und im ‚Ramayana‘ sahen sie gleichsam ein Elefanten-Mittelalter“ — sie hätten sich gar nicht bloß für die indischen Mysterien interessiert, sondern in diesen die „katholische Hierarchie“ und altbekannte Themen der eigenen Vorstellungswelt in anderem Gewand erblicken wollen.92 Mit dem „Elefanten-Mittelalter“ und der „katholischen Hierarchie“ sind auch schon die zentralen Allergene genannt, die Heine zu seinem zugespitztesten Spott treiben und Gegenstand des nächsten Kapitels sind.

Ebenso verhält es sich mit der Kritikunfähigkeit, die sich durch die Zensur äußert. Die Anhängerschaft der Schlegeln rückt er in die Nähe obrigkeitshöriger, sensationslüstiger und unkritischer Jasager:

Überhaupt kann man in Deutschland auf das Mitleid und die Tränendrüsen der großen Menge rechnen, wenn man in einer Polemik tüchtig mißhandelt wird. Die Deutschen gleichen dann jenen alten Weibern, die nie versäumen einer Exekution zuzusehen, die sich da als die neugierigsten Zuschauer vorandrängen, beim Anblick des armen Sünders und seiner Leiden aufs bitterste jammern und ihn sogar verteidigen. Diese Klageweiber, die bei literarischen Exekutionen so jammervoll sich gebärden, würden aber sehr verdrießlich sein, wenn der arme Sünder, dessen Auspeitschung sie eben erwarteten, plötzlich begnadigt würde und sie sich, ohne etwas gesehen zu haben, wieder nach Hause trollen müssten.93

Versetzt man sich in die Lage Heines Zeitgenossen, die von ihm geschmäht wurden, so wird immerhin nachvollziehbar, weshalb er zu Lebzeiten so häufig aneckte — wenn auch damit keine Zensur zu rechtfertigen sein soll. Ein besonders spitziger Hieb gegen die Schlegeln — und besonders gegen August Wilhelm Schlegel, der zu diesem Zeitpunkt im Gegensatz zu seinem Bruder Friedrich noch am Leben war und gar keinen Gefallen an Heines Schriften gefunden haben dürfte — findet sich in der Romantischen Schule an dieser Stelle:

Wurde nun die romantische Schule, durch die Enthüllung der katholischen Umtriebe, in der öffentlichen Meinung zugrunde gerichtet, so erlitt sie gleichzeitig in ihrem eigenen Tempel einen vernichtenden Einspruch, und zwar aus dem Munde eines jener Götter, die sie selbst dort aufgestellt. Nämlich Wolfgang Goethe trat von seinem Postamente herab und sprach das Verdammnisurteil über die Herren Schlegel, über diesen Oberpriester, die ihn mit so viel Weihrauch umduftet. Diese Stimme vernichtete den ganzen Spuk; die Gespenster des Mittelalters entflohen; die Eulen verkrochen sich wieder in die obskuren Burgtrümmer; die Raben flatterten wieder nach ihren alten Kirchtürmen; Friedrich Schlegel ging nach Wien wo er täglich Messe hörte und gebratene Hähndel aß; Herr August Wilhelm Schlegel zog sich zurück in die Pagode des Brahma.94

Polemik und Satire sind in diesem Sinne bei Heine besonders als literarisches Mittel des sich zur Wehr setzens und der Rebellion zu verstehen, da Heine die Ungerechtigkeit, die ihm widerfährt, klar erkennt und benennt und gar nicht willens ist, als Parvenü durch immer weiter betriebene, doch immer weiter scheitern müssende Assimilation hinzunehmen. Sein Weg ist der Weg des bewussten Paria, und er führt ihn nach Frankreich, genauer gesagt nach Paris, der „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“.95 Um die erweiterte Figuration Deutschland, Heinrich Heine und Frankreich soll es im nächsten Kapitel gehen.

Skizze der Figuration „Heine in Paris“, wie im nächsten Kapitel ausgeführt. Thomas Schad.

Fußnoten

83. An dieser Stelle sei auf die Entstehungs- und Publikationsgeschichte des Varnhagen Buches hingewiesen (ausführlicher im Arendt-Handbuch): Rahel Varnhagen war das letzte Buch, das Arendt zuerst auf ihrer Muttersprache Deutsch schrieb und dann hat ins Englische übersetzen lassen, ohne es noch einmal selbst neu zu schreiben. Dabei ist bis zur dritten englischen Ausgabe von 1997 in den USA untergegangen bzw. ignoriert worden, dass die zwischendurch verschollene Sammlung Varnhagen mit Originaldokumenten wie Briefen von Rahel Levin Varnhagen persönlich in den 1980er Jahren in der Krakauer Biblioteka Jagiellionska unbeschadet wieder aufgetaucht ist. Da Historikerinnen immer wieder Arendts Ergebnisse kritisiert haben, ist dies keine unerhebliche Information, denn in der deutschen Fassung der Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft in der 9. Auflage von 2003, auf die ich mich beziehe, ist diese wieder geschlossene Lücke in Arendts Quellenbezug ebensowenig überarbeitet worden: so bezieht sich Arendt auf einen Brief mit einem Varnhagen-Zitat aus dem Varnhagen-Archiv der Handschriften-Abteilung der Preußischen Staatsbibliothek, „das inzwischen verschollen ist“. Arendt, Hannah (2003): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 148-149. Weitere Einzelheiten zur Publikationsgeschichte des Varnhagen-Buches in Heuer, Wolfgang / Heiter, Bernd / Rosenmüller, Stefanie (Hg.)(2011): Arendt Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler, S. 23.

84. Heuer, Wolfgang / Heiter, Bernd / Rosenmüller, Stefanie (Hg.)(2011): Arendt Handbuch, S. 24.

85. Arendt, Hannah (2003): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 153. Arendt zitiert an dieser Stelle aus einem Text Rahel Varnhagens auf dem Sterbebett, in dessen letztem Satz sie schreibt: „Was so lange Zeit meines Lebens mir die größte Schmach, das herbste Leid und Unglück war, eine Jüdin geboren zu sein, um keinen Preis möcht‘ ich das jetzt missen.“, zit. nach Ebda.

86. Ebda, S. 167.

87. Ebda, S. 168.

88. Heine, Heinrich (1995 [1835]): Die Romantische Schule, S. 7.

89. Ebda, S. 7.

90. Heine, Heinrich: Neue Gedichte, in: Düsseldorfer Heine Ausgabe (DHA), Bd. 2, S. 9 ff., URL: http://www.hhp.uni-trier.de/Projekte/HHP/Projekte/HHP/werke/baende/D02/index_html?widthgiven=30 (zuletzt abgerufen am 6.8.2020).

91. August Wilhelm Schlegel: Cheftheoretiker der Romantiker, in: DLF vom 5.9.2017, URL: https://www.deutschlandfunk.de/august-wilhelm-schlegel-cheftheoretiker-der-romantiker.871.de.html?dram:article_id=395002 (zuletzt abgerufen am 3.8.2020).

92. Heine, Heinrich (1995 [1835]): Die Romantische Schule, S. 63-63.

93. Ebda, S. 38-39.

94. Ebda, S. 40.

95. Hannah Arendt zitiert ihren Freund Walter Benjamin mit dieser Bezeichnung, Arendt, Hannah (2003): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 190.

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