[NEOVOX] Brainfuck und Abschaffung der Demokratie

Dieser Beitrag, für den ich keinen passenderen Titel als Brainfuck gefunden habe, akkumulierte sich zuerst als Facebook-Post. Das passiert mir immer wieder einmal, obwohl ich diese Plattform doch für so problematisch halte. Und man kann wohl schlecht authentisch einen systemischen Brainfuck kommentieren, der immer wieder aus meinungskapitalistischen Plattformen geboren wird, indem man selbst auf einer solchen Plattform Inhalte in den Sautrieb stellt — und dadurch das System nicht verlässt, sondern bedient und anheizt. Aber dafür gibt es ja diesen vernachlässigten Blog. Und weil das hier schließlich ein Inkubator sein soll, darf ich meine Ausführungen länger oder auch kürzer gestalten. Sie dürfen ungegängelt und undiszipliniert sein, und noch wichtiger: sie müssen sich nicht sofort den Algorithmen und dem Gieren nach Sichtbarkeit aussetzen. Auf einem Blog muss man auch nicht zu einem „perfekten“ Ergebnis kommen, obwohl ich trotzdem versuche, meine Argumente so gut es geht zu untermauern, in der Kürze der Zeit.

Ich gehe auf einen medialen Zusammenhang ein, der schon seit gestern Abend an mir nagt, weil er die außermediale Wirklichkeit zerstört und deformiert. Etwas in mir wurmt sich hinsichtlich des Brainfucks schon viel länger — und unter Brainfuck ist der neopopulistische Progress zu verstehen, der sehr viel mit der ungebremsten Entfaltung der Sozialen Medien“ zu tun hat. Das Unbehagen damit zu tun, dass jetzt immer wieder zu lesen ist: „Die AfD ist auf TikTok so erfolgreich, und weil das so ist, sollten die demokratischen Parteien endlich auch auf TikTok aktiv werden“. Neuerdings ist also der Bundeskanzler Olaf Scholz auf TikTok, einer chinesischen Plattform mit hohem Suchtfaktor, die für die westlichen Öffentlichkeiten designt worden sein soll. Vielleicht als späte Rache für die Opiumkriege?

Ich halte diesen Schritt des Bundeskanzleramts für ausgesprochen töricht, aber auch ganz und gar nicht für überraschend.

Meine Erfahrung mit Einwänden gegen diese Art falscher Vorstellungen über digitale Mündigkeit — denn der Vorschlag, TikTok für demokratische politische Zwecke zu nutzen, geht zwangsläufig von digitaler Mündigkeit aus — zeigt mir aber, dass man in weiten Teilen der öffentlichen Verwaltungen Berlins und Deutschlands noch ganz hartnäckig einer überkommenen Lüge aufsitzt. Man glaubt, so habe ich es wieder und wieder gehört und gelesen, man müsse einen akzeptierenden Ansatz hinsichtlich der sozialen Medien verfolgen. Das erinnert schon sehr stark an die Haltung der ehemaligen Staatsministerin für Digitalisierung (Dorothee Bär), die ihren staatsministeriellen Aktivitäten zufolge unter Digitalisierung hauptsächlich das Posten von hübschen Bilderchen auf Instagram verstanden hatte. Gut, diese Zeiten sind vorbei, aber sehr viel scheint mir nicht dazu gelernt worden zu sein. Das Grundproblem der digitalen Mündigkeit bleibt weitgehend unangetastet.

Ein weiteres (schwaches) Argument gegen eine Eindämmung von „sozialen Medien“ — bzw. der Öffnung ihrer Quellcodes und Aligorithmen — referiert auf die Meinungsfreiheit. Man muss natürlich sagen: wir haben gerade in Deutschland erhebliche Probleme mit der Einhaltung der Meinungsfreiheit, auf ganz vielen verschiedenen Ebenen. Es ist aber haarsträubend und beängstigend, dass permanent über die symptomatische Ebene gesprochen wird: es soll verhindert werden, dass verfassungsfeindliche und volksverhetzende Aussagen getätigt werden, die zu weiteren Hassverbrechen usw. führen könnten. Das Was? — also was gesagt und was verbreitet wird — ist sicherlich eines der beiden zentralen Probleme. Gut. Aber was ist mit dem Wie? Wie konnte es soweit kommen, dass sich demokratiefeindliche Einstellungen und Handlungen ungebremst ausbremsen?

Nun wird gerade eifrig an Demokratiefördergesetzen gearbeitet, ob auf Bundes- oder Landesebenen. Das grundsätzliche Problem wurde erkannt: Ja, auch wenn wir uns das als Abiturienten Anfang des Jahrtausends im Traum nicht hätten vorstellen können — die Demokratie ist in Gefahr, und die Gefahr kommt digitalisiert daher. Alle Versuche, die gerade unternommen werden, dem populistischen Treiben Einhalt zu gebieten, scheinen erstens reichlich spät zu kommen, und zweitens — zumindest, insofern das zentrale Problemfeld der öffentlichen Meinungsbildung betroffen ist: sie machen alles nur noch schlimmer.

Mir kommt es so vor, als ob man die alten Gatekeeper des öffentlichen Meinungsbildungsprozesses für gute zwei Jahrzehnte beurlaubt oder deaktiviert hätte, um sie jetzt auf einmal auf dem Kenntnisstand von damals, also vor den Smartphone-tauglichen Internet-Generationen, wieder einzusetzen. Derweil wird weiterhin „Meinungsfreiheit“ gewährt, die mit dem ursprünglichen Begriff aber nicht mehr viel zu tun hat. Diese „Meinungsfreiheit“ bedeutet, dass so lange und so viele „Meinungen“ produziert werden, bis keine Freiheit mehr da ist.

Es gibt natürlich löbliche Ausnahmen. Die Unabhängige Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung Ferda Ataman hat sich zu Wort gemeldet und die Entscheidung des Bundeskanzleramts als Fehler und falschen Weg kritisiert. Die Tagesschau zitiert:

„Solange die Plattform TikTok und andere Plattformen sich nicht an die Regeln halten und junge Menschen vor Diskriminierung, Hassrede schützen und Desinformation nicht zurücknehmen oder bekämpfen, ist das keine Plattform für den Staat.“

Deiß, Matthias: Antidiskriminierungsbeauftragte Ataman kritisiert Scholz scharf | tagesschau.de vom 14.04.2024, URL: https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/ataman-tiktok-scholz-100.html (zuletzt abgerufen am 14.04.2024).

An dieser Stelle ärgert es mich, dass ich mein Response Paper zu Jaron Laniers Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst (Lanier 2020) nie zu Ende geschrieben habe. Daher führe ich nur kurz seine zehn Gründe auf, die ich weiterhin für zutreffend halte:

  1. Du verlierst deinen freien Willen (11 ff)
  2. Social Media ist BUMMER (39 ff). Mit diesem Akronym kürzt er folgende Formel ab, die aandereseits in englischer Umgangssprache auch so etwas wie „Mist!“ bedeutet: „Behaviors of Users Modified, and Made into an Empire for Rent“, auf Deutsch in etwa: „Verhaltensweisen von Nutzern, die verändert und zu einem Imperium gemacht wurden, das jedermann mieten kann“. die Übersetzung ist etwas ungeschickt, aber im Prinzip beschreibt er in diesem Kapitel, wie immaterielle Werte — unser Verhalten — kommodifiziert und ausgebeutet werden (S. 43).
  3. Social Media macht dich zum Arschloch (59 ff)
  4. Social Media untergräbt die Wahrheit (79 ff)
  5. Social Media macht das, was du sagst, bedeutungslos (93 ff)
  6. Social Media tötet dein Mitgefühl (107 ff)
  7. Social Media macht dich unglücklich (119 ff)
  8. Social Media fördert prekäre Arbeitsverhältnisse (135 ff)
  9. Social Media macht Politik unmöglich (153 ff)
  10. Social Media hasst deine Seele (177 ff)

Liest man Laniers Buch heute, so erscheinen einige Themen inzwischen wieder sehr weit weg, wie zum Beispiel damals eskalierende Konflikte und Verbrechen, wie die humanitäre Katastrophe der Rohingya. Längst haben andere humanitäre Katastrophen unsere Aufmerksam so schnell absorbiert wie wieder zerstreut. Andererseits ist vieles unverändert aktuell geblieben — nämlich die strukturellen Probleme (ergo: das Wie). Ein kurzer Blick auf Kapitel 9 (Social Media macht Politik unmöglich) lohnt sich besonders, auch und gerade für das Bundeskanzleramt:

„In den vergangenen Jahren sind in der Türkei, in Österreich, in den USA, in Indien und anderen demokratischen Staaten autoritär angehauchte Führer gewählt worden, die ihre Macht auf Stammesdenken gründen. Der Wähler wählt sich selbst ab. In all diesen Fällen hat BUMMER eine wichtige Rolle gespielt.“

Lanier 2020, S. 154

„Angehaucht“ erscheint aus heutiger Sicht wie eine Untertreibung; auf das Stammesdenken wird später mit dem Neotribalismus noch zurückzukommen sein. Lanier äußert seine Hoffnung, es möge sich nur um eine lernende Sequenz demokratischer Öffentlichkeiten und ihres Umgangs mit den eigentlich faszinierenden Möglichkeiten des Internets handeln; die Wirklichkeit vermittle aber ein anderes Bild, was auch heute noch so stehen bleiben kann:

„Etwas entfremdet junge Menschen von der Demokratie. Trotz all des hoffnungsvollen Eigenlobs der Social-Media-Unternehmen scheint es so, als ob durch die Schwächung der Demokratie auch das Internet hässlich und betrügerisch geworden ist.“

Lanier 2020, S. 154

Laniers Ausführungen zu den Social-Media-Unternehmern verdienen genauere Betrachtung und auch Kritik. Vieles von dem, was passiert ist, hatten klarsichtige Menschen wie der viel zu jung suizidierte Aaron Swartz („The Boy Who Could Change The World“) lange vorhergesagt. Andere Autoren benennen außerdem den ökonomischen Zusammenhang noch viel klarer, nämlich den Plattform-Kapitalismus, wie ihn Nick Srnicek (ohne genauere Analyse von Social Media) beschrieben hat (Srnicek 2017); Lanier hingegen steht sogar in direktem Gegensatz zur Open Access-Bewegung, die er gewissermaßen als Brandbeschleuniger beschreibt, weil offene Codes großen Monopolisten weite Umwege hin zu ihren geschlossenen, unter Hochsicherheitsbedingungen gehüteten Algorithmen erspart hätten. Aber das ist eine eigene (wichtige) Auseinadersetzung wert.

Ich mache an dieser Stelle einen inhaltlichen Sprung und komme zum konkreten Auslöser für diesen Beitrag, um ganz zum Schluss noch einmal diese Fragen aufzugreifen, wenn auch kurz.

Swartz, Aaron / Lessig, Lawrence (2017): Celui qui pourrait changer le monde. Aaron Swartz: Écrits. Introduction de Lawrence Lessig (Textes traduits de l’anglais (États-Unis) par Marie-Mathilde Bortoletti et Amarante Szidon. Paris: Éditions B42.

Eine Nachricht aus Australien hat gerade heute (13.04.2024) den Auslöser zu diesem Beitrag gegeben.

Der eigentliche Anlass aber waren acht Fotos aus Unterfranken, die mich gestern Abend (12.04.2024) erreicht haben, auf denen die Schändung des gemischt-konfessionell christlichen Friedhofs meines Heimatdorfes zu sehen ist. Zuerst traute ich meinen Augen kaum. Die Senderin schrieb dazu, dass es das Werk von Nazis sei: Das letzte Bild zeigt nämlich unverkennlich antisemitische Nazi-Parolen auf dem Aushang des Sportvereins. Trotzdem — und das mindert nichts — wirkte dieser Vandalismus einigermaßen wirr auf mich. Zerstörte Grabsteine sind darauf zu sehen, wie eine Übertötung der Toten; sogar das Leichenhaus wurde stark beschädigt. Außerdem sei noch in eine Privatwohnung eingebrochen worden. Dieser gewaltvolle Vorgang, der sich über zwei Tage hingezogen haben soll, ist etwas, was meines Wissens in diesem Dorf zu meinen Lebzeiten „nur“ durch einen schrecklichen Doppelmord überboten wird, der jedoch in einem ganz anderen Zusammenhang zu deuten ist (er fand vor den „sozialen Medien“ statt). Ich gebe nur eines der Bilder wieder, weil ich Grabsteine mit Namen zu persönlich finde und auch keine antisemitischen Parolen reproduzieren will.

Die Zerstörungen am Leichenhaus des Friedhofs. Hinter dieser Tür lagen aufgebahrt meine Großmutter, mein (bosnischer) Großvater, mein Vater und viele andere bekannte Menschen mehr.

Ich will sowohl zum Vandalismus im Dorf als auch zum australischen Massenmord eine Hypothese äußern, die vielmehr so eine Art erster Eindruck oder Verdacht ist, ohne Genaueres zu wissen: Mir kommt es zunehmend so vor, dass diese und andere Gewaltausbrüche unterschiedlichster Ausprägung und unterschiedlichsten Maßes, die gehäuft an Orten und zu Gelegenheiten stattfinden, wo man sie früher nicht erwartet hätte, mit dem medialen Irrsinn zu tun haben, der sich über das polarisierende Hin- und Her in den „sozialen Medien“ zusammengebraut hat.

Es geht mir im Folgenden nicht darum, die genauen (d.h. kriminologischen) Hintergründe zu benennen — denn dazu fehlt mir das Wissen. Es geht mir darum, solche Ereignisse, die sich unter dem Schlagwort menschenfeindlicher Gewalt häufen, in einem weiteren Zusammenhang zu deuten, den man womöglich auch bei vollständiger Kenntnis über den Tathergang und der Identität des Täters bzw. der Täter/Täterinnen nicht wird ergründen können. Gibt es so etwas wie einen Zeitgeist oder etwas Typisches unserer Zeit, was erklärend für diese Entwicklungen sein könnte? Ich würde sagen: Ja, und zwar sind das die Effekte der „sozialen Medien“ und das Nicht-Verstehen und Nicht-Intervenieren — oder zumindest das ineffektive Intervenieren — überzeugter Demokratinnen und Demokraten.

Ich bin bei Weitem nicht der Einzige, der hinter dem Progress, den ich in diesem Beitrag Brainfuck nenne, die Auswirkungen der sogenannten „sozialen Medien“ sieht. Gerade ist ein Interview mit Jonathan Haidt in der NZZ erschienen, in dem er über sein neues Buch Bildschirm Kinder. Der verheerende Einfluss sozialer Medien auf die psychische Gesundheit einer ganzen Generation spricht. Im Interview und im Buch spricht der Autor über seine Befürchtungen, wie die Internetnutzung Hirne von Kindern ändert sowie ganze Demokratien ins Wanken bringt.

Ich gebe es offen zu: die Bilder aus meinem Heimatdorf haben mich stärker schockiert als die australische Nachricht, obwohl es dort doch zu einem Massenmord gekommen ist, also einem viel drastischeren Gewaltverbrechen. Und ich gebe zu, dass die Hypothese, sowohl der Gewaltausbruch im Dorf wie jener in der australischen Metropole habe mit dem medialen Irrsinn und neopopulistischen Brainfuck zu tun, einigermaßen gewagt ist. Um nicht zu sagen: diese Hypothese hinkt stark.

Noch einmal: was hat ein Messerangriff mit sechs Toten in einem Shoppincenter am anderen Ende der Welt mit einem zweitägigen Vandalismusvorgang mit antisemitischer Sendung in Franken zu tun? Da wir alle — ob in fränkischen Dörfern oder Metropolen der Südhalbkugel — tagtäglich über die Touchscreens unserer Smartphones schmieren, also zweifellos in unserer großen Mehrheit mehr oder weniger ständig von den Effekten „sozialer Medien“ beeinflusst sind, vermute ich, dass heute tatsächlich hinter jedem Irrsinn und jeder Gewaltnachricht immer auch ein Zusammenhang mit den Effekten des Meinungsmarktes neuer Medien und des Neotribalismus steckt. Auf den Begriff Neotribalismus komme ich noch ausführlicher zurück.

Ich fange mit der Beobachtung der eigenen Aufmerksamkeitsökonomie an, die einen unblutigen Vandalismusvorfall stärker gewichtet als einen blutigen Masenmord, und beginne bei der Nachricht aus Australien. Ich hoffe, alle Enden dieser Stränge zum Schluss eingermaßen sinnvoll wieder verstricken zu können.

Aufmerksamkeitsökonmie und eigenes Weltwissen

Wenn irgendwo auf der Welt jemand durchdreht und mit dem Messer um sich herum einfach auf alle möglichen Leute einsticht, wie gerade in Sydney geschehen (und während ich das schreibe, ist offenbar nichts weiteres über den Tathintergrund und die Identität des Täters bekannt), dann wird das in der eigenen Wahrnehmung oft unter „ferner liefen“ registriert — so schlimm es für die Menschen dort auch sein mag. Es gibt und es gab schon immer ein Konto für Empathie und Emotionen, wenn es um Geschehnisse und Tragödien geht, die außerhalb unseres direkten Weltwissens und unseres persönlichen und sozialen Erfahrungshorizonts geht. Dass unsere Aufmerksamkeit einer ökonomischen Logik unterworfen ist und dahingehend Informationen sortiert und hierarchisiert, ist seit langem bekannt und vielfach beschrieben worden (vgl. Franck 1998).

Der sprichwörtlich gewordene „Sack Reis, der in China umfällt“ (und ich vermute hier einen kolonial-chauvinistischen Hintergrund), interessiert uns einfach viel weniger als Wissings Autobahnphantasien — auch wenn es hinsichtlich der globalen (und letztlich auch lokalen) Relevanz vielleicht umgekehrt sein sollte. Nicht selten kommen ideologische, weltanschauliche, religiöse und heute vor allem identitäre Rahmungen dazu. Diese Rahmungen und normativen Vorstellungen können die Wirklichkeit, so grausam sie sein mag, dermaßen in den Hintergrund drängen, dass dadurch so groteske Haltungen wie die Reisen westeuropäischer Intellektueller der 1960er Jahre nach China nachvollziehbar werden, wo hunderttausendfacher bis millionenfacher Mord geflissentlich übersehen oder relativiert wurde, weil diese Wahrnehmung der vermeintlichen Verwirklichung des eigenen Idealzustands im Wege gestanden hätte:

Die westliche Aufnahmebereitschaft für Ideen der chinesischen Kulturrevolution ist nur vor dem Hintergrund der weltpolitischen Konstellation des „Kalten Krieges“ zu verstehen. Chinas Kampf gegen beide Supermächte, die USA und die Sowjetunion, durchbrach die Logik einer bipolaren Welt. Die Volksrepublik wurde als aufsteigendes Land der „dritten Welt“ wahrgenommen, das „sich auf die eigene Kraft stützte“, statt die Industrialisierung durch ausländische Kredite zu finanzieren. China selbst inszenierte sich als bester Freund des Befreiungskampfes der „farbigen“ Völker (…) und propagierte einen ländlichen Entwicklungsweg, bei dem die Modernisierung nicht auf Kosten der Landbevölkerung gehen würde. Die Kulturrevolution erschien zudem als Versuch, durch eine Jugendrevolte gegen den Parteiapparat die kommunistische Revolution wieder zum Leben zu erwecken. Maos Kampagne wurde als Versuch einer neuen Form der Massendemokratie wahrgenommen, die vermeintlich die Ideale des jungen Karl Marx wieder in die Gegenwart holte (…).

Quelle: Wemheuer, Felix: Die westeuropäische Neue Linke und die chinesische Kulturrevolution. In: APuZ vom 93.06.2016. CC BY-NC-ND 3.0 DE

Seit sich mein Nachrichtengedächtnis erinnern kann — das zum Glück weit vor den Siegeszug der Smartphones und die jüngeren Internetgenerationen zurückreicht — waren die Reaktionen bzw. Nicht-Reaktionen zum Unglück Anderer von einer immer mehr oder weniger gleich lautenden Anklage begleitet: „Alle zeigen sich solidarisch, wenn es um X geht, doch wenn es um Y geht, schweigen sie.“ Immer wieder hieß es zur raschen Erklärung, und zwar gar nicht zu Unrecht: „Bei den Einen gibt es Öl und Gas, bei den Anderen ist nichts zu holen — also wird auch keine Träne vergossen.“ Oder, und dieses Argument hat Höchstkonjunktur (zumindest hatte es das bis zuletzt): „Die Einen sind wie wir, die Anderen sind anders. Nur weil die Opfer Andere und anders sind, wird keine Träne vergossen.“

Man kann diese Anklagen natürlich nachvollziehen: Auch wenn sie in ihrer Banalität fast schon wieder Stammtischqualität haben, drücken sie im Kern doch eine Selbstkritik aus. Man stellt nicht nur fest, sondern man fragt sich sogar (zumindest halbherzig), was es wohl damit auf sich haben könnte, wo wir doch im Grunde wissen, dass alle Menschen Menschen sind und jedes Leid identisches Leid ist.

Mit dem Neotribalismus der „sozialen Netzwerke“ hat sich aber etwas Entscheidendes geändert. Bereits Jaron Lanier hatte diesen Zusammenhang mit seinen Insider-Kenntnissen aus dem Silicon Valley ausführlich beschrieben (Lanier 2018; 2020; 2014); ich beziehe mich aber hier auf die Analyse von Samira El Ouassil und Friedemann Karig in ihrem Buch Erzählende Affen (El Ouassil/Karig 2023), weil ich es gerade zu Ende gelesen habe und darin dieser Vorgang ebenfalls beschrieben wird. Autorin und Autor erklären die digitale Lagerbildung teils über die Ausschüttung von Botenstoffen:

„Der Erhalt eines Likes setzt eine Miniportion Dopamin frei, da wir uns dadurch von unserem Stamm akzeptiert und geschätzt fühlen. Dieses quantifizierte Belohnungsprinzip verstärkt die Dynamik, bestimmte in unserer „Ingroup“ — also der Gruppe, zu der man sich zugehörig fühlt und die einen akzeptiert hat — anschlussfähige Erzählungen zu posten. Kritisiert hingegen jemand etwas, womit wir uns durch Identifikation verwoben haben, fühlen wir uns angegeriffen. Der Körper schüttet Adrenalin und Cortisol aus, wir sind gereizt, gestresst oder zumindest getriggert, wollen reagieren, attackieren, gewinnen.“

El Ouassil, Samira/Karig, Friedemann (2023 [2021]): Erzählende Affen. Mythen, Lügen, Utopien: Wie Geschichten unser Leben bestimmen. Berlin: Ullstein, S. 214.

Wie sie weiter ausführen, erklärten unter anderem diese hormonalen Ausschüttungen, warum sich Teilnehmer in rein virtuellen Debatten so stark emotionalisieren: weil ihrer Empfindung nach „alles auf dem Spiel zu stehen scheint“. Sie beziehen sich auf den italienischen Soziologen und Psychotherapeuten Alberto Melucci, der zum Verständnis neuerer sozialer Bewegungen die Begriffe der „kollektiven Identität“ (dies ist kein von ihm geprägter Begriff, Anm. TS) und des Neotribalismus vorgeschlagen hat (El Ouassil/Karig 2023, 214). Ich will das einmal an einer eigenen Beobachtung nachvollziehen, die schon ein paar Jahre zurückliegt.

Während meiner Feldstudien zur Dissertation war ich Mitglied einer Graduiertenschule. Nutzerinnen und Nutzer meiner damaligen Bubble, allesamt eifrige Facebook-Nutzer, haben sich regelmäßig bis aufs Äußerste echauffiert, wenn sich auf der Welt — und vornehmlich im Nahen Osten, denn dort liegt der regionale Beschäftigungsschwerpunkt vieler Mitglieder der Bubble oder Ingroup — etwas ereignete, für das es ihrer Meinung nach nicht nur an und für sich erwartbar wäre, dass es in der weiteren Öffentlichkeit zu Ausschüttungen von Emotionen und Empathie käme; die Nicht-Ausschüttung, das Nicht-Posten wurde sogar regelrecht beanstandet und moralisch eingeordnet. Eine amerikanische Geisteswissenschaftlerin, die sich über ihre eifrigen Online-Aktivitäten den Beinamen Facebook professor eingefangen hat, erkannte darin nicht nur Unterlassung, sondern regelrecht das Böse. Es ging jetzt nicht mehr um Selbstkritik: es ging um Kritik an den Anderen, die nicht nur falsch lagen und Dinge unterließen, die redlich gewesen wären; diese Anderen waren grundsätzlich böse, rassistisch und hatten eine Doppelmoral. Ihre und anderer Ingroup-Mitglieder Posts waren grundsätzlich von vielen Herzchen und Likes geziert. Kommentierende Mitglieder der sogenannten Ingroup folgten den Ansichten, Kommentare in ellenlangen threads ergossen sich vor allem in schön formulierten, englischen Sätzen. Echte Kritik oder abweichende Meinungen suchte man dort vergebens.

Folgt man El Ouassil/Karig (2023) und Melucci, so kann man dieserlei Äuerßungen und Gefolgschaft mit einer Logik der Investition in die eigene Ingroup interpretieren (welche eine kollektive Identität bedeutet):

„Laut Melucci erfordert kollektive Identität eine emotionale Investition, da sie es dem Einzelnen ermöglicht, sich als Teil einer gemeinsamen Einheit zu fühlen. Diese neue Form des Tribalismus basiert nur noch eingeschränkt auf ethnischen, religiösen, ideologischen, geschlechtlichen oder geografischen Kategorien, sondern vor allem auf Einstellungen, Emotionen, bestimmten Lebensstilen, Hobbys, Marken, auf Humorgeschmack, Popkultur und anderen Aspekten unserer Existenz.“

El Ouassil/Karig 2023, S. 214.

Genau diese Beobachtungen konnte ich auch bei oben genannter Ingroup machen, die sich inzwischen entweder verkapselt und entfernt oder aufgelöst zu haben scheint; ich bekomme jedenfalls nichts mehr von ihr mit (vielleicht auch aus dem Grund, dass ich nie wirklich Teil dieser Ingroup war). Vor allem ethnische, religiöse und ideologische Kategorien waren weiterhin durchaus kennzeichnend für die Ingroup — aber eher als Referenzen, weniger als Identitätsmerkmale, da es sich um eine international und ethnisch völlig heterogene Gruppe handelte, deren verbindendstes persönliches Element eine gewisse Ähnlichkeit im Bildungshabitus darstellte. Mehr und mehr waren oben genannte Emotionen und Einstellungen charakteristisch, aber auch merkwürdige Formationen von Popkultur, die ich oft als Pop-Islamismus bezeichnet habe (dazu an dieser Stelle nichts weiter).

Ich will aber weg von jener Ingroup und noch ein letztes, langes Zitat anfügen, das direkt an die Logik von Ingroups im Allgemeinen anschließt — weil es an die Aggressivität des Brainfucks heranführt, über den es ja in diesem Beitrag eigentlich geht:

Die sozialen Netzwerke verstärken solche tribalistischen Tendenzen auf beispiellose Weise. Sie schaffen Online-Tribes, man könnte sie mit dem Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen auch „Konnektive“ nennen (aus Kollektiv und Konnektivität), die um eine kollektive Identität organisiert sind. Diese Tribes respektieren unsere Individualität und bieten uns zugleich Schutz durch Zugehörigkeiten, die wir dort für uns oftmals selbst schaffen oder auswählen, zum Beispiel bei Fankulturen.

El Ouassil/Karig 2023, S. 215

Soweit lassen sich diese neuen Identitätskonstruktionen über Meinungsplattformen noch nachvollziehen, ohne, dass diese Online-Tribes unbedingt problematisch sein müssen. Allerdings bleibt es dabei nicht:

Das Verteidigen der eigenen Mitgliedschaft zu einem solchen Stamm wird Ausdruck einer identitätsstiftenden Selbstbehauptung, die sich aus dem Gefühl eines imaginierten „Wirs“ ergibt. Es reicht also für das eigene Selbstverständnis nicht mehr aus, bloß Teil einer Fanbase, einer Berufsgruppe oder einer Subkultur zu sein, nein, erst durch das Verteidigen dieser Gruppenzugehörigkeit wird sie real.

El Ouassil/Karig 2023, S. 215

Alle, die schon einmal beobachten konnten, wie sich ein Online-Tribe um ihre gefolgte Twitterin scharrt, um zum aggressiven Bellen und Beißen anzusetzen, werden dies schnell nachvollziehen können.

Ich muss jetzt zum Schluss kommen, denn draußen geschieht gerade etwas Magisches, das sich Frühling nennt und sich nur sehr vorübergehend einfangen lässt. Jetzt bin ich mir selbst noch schuldig geblieben, die offenen Enden dieses Blog-Strangs zusammenzufügen. Ich werde durch meine Annäherung an den Brainfuck weder den antisemitischen Vandalismus im fränkischen Dorf noch den Massenmord von Sydney im Detail aufklären können, und das war ja auch gar nicht mein Ziel.

Vielleicht darf ich vorerst folgende Schlüsse ziehen:

  • Bei allen öffentlich kommunizierten, wahrgenommenen, mit Kommentaren versehenen, menschenfeindlichen Gewaltereignissen, die sich irgendwie in das Phänomen des Brainfucks einordnen lassen, sollten heute immer die „sozialen Medien“ zentrale Berücksichtigung finden. Keiner der größeren und kleineren Erdrutsche des Brainfucks — ob die Trump-Wahl, die Putinisierung Russlands, der Progress der AfD, die Autokratisierung der Türkei durch das AKP-Regime, u.v.m. — sind heute ohne die „sozialen Medien“ erklärbar, die das Prinzip von Staatlichkeit effektiv zerstören.
  • Autokratische wie demokratische Staaten sind davon gleichermaßen betroffen, wobei demokratische, meinungsliberale Gesellschaften besonders vulnerabel erscheinen, weil dort das Prinzip der Meinungsfreiheit einerseits mit dem Gewährenlassen rücksichtsloser Plattformkapitalisten verwechselt wird, andererseits die Meinungsfreiheit genau darüber peu à peu abgeschafft wird.
  • Viele Menschen, die sich noch vor ein paar Jahren so eifrig auf dem plattformkapitalistischen Meinungsmarkt „engagiert“ haben, haben das Feld inzwischen verlassen: sie haben erkannt, dass es sich bei den sogenannten „sozialen Medien“ um einem gierigen Staubsaugerschlund handelt, der Emotionen auffrisst, Beziehungen und letztlich politische Gemeinwesen zerstört.
  • Andere gerieren sich weiterhin als „Kämpfer für die Entrechteten“ — und zwar nicht, weil es ihnen ernsthaft um die Rechte Anderer bestellt wäre oder sie grundsätzlich ein paar Dinge mehr verstanden hätten, sondern weil es sich mit der identitären Demagogie des Online-Neotribalismus immer noch bequem wirtschaften lässt.

Die gute Nachricht ist:

Es gibt mittlerweile zum Glück mehr Hoffnung als noch vor wenigen Jahren. Es häufen sich die unterschiedlichsten Interventionen von Wissenschaftlerinnen, Autoren und Journalistinnen. Darunter finden sich Jaron Lanier, Paul J. D’Ambrosio, Hans-Jörg Meoller, die zitierten Samira El Ouassil und Friedemann Karig, Adrienne Fichter, Constanze Kurz, Susan Neiman, Nick Srnicek, Justin E. H. Smith, Omri Beohm und viele weitere, die aus ganz unterschiedlichen Perspektiven dekonstruieren, was sich vor unseren Augen abspielt und zunächst einen tückischen, harmlosen und sogar erfolgversprechenden Weg gegangen ist: die Abschaffung der Freiheit und die flächendeckende Durchsetzung des Brainfucks über sogenannte „soziale Medien“.

Referenzen

  • D’Ambrosio, Paul J. and Moeller, Hans-Georg: From Authenticity to Profilicity: A Critical Response to Roberto Simanowski and Others, in: New German Critique 137, Vol. 46, No. 2, August 2019, S. 1-25.
  • El Ouassil, Samira/Karig, Friedemann (2023 [2021]): Erzählende Affen. Mythen, Lügen, Utopien: Wie Geschichten unser Leben bestimmen. Berlin: Ullstein.
  • Fichter, Adrienne: Facebook bedroht Demokratie. Podcast Eine Stunde Talk von DLF Nova vom 14.2.2018 (Moderation: Sven Preger), URL: https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/politik-facebook-bedroht-demokratie-sagt-adrienne-fichter (zuletzt abgerufen am 7.10.2022).
  • Franck, Georg (1998). Ökonomie der Aufmerksamkeit: Ein Entwurf. Berlin: Hanser.
  • Grasnick, Belinda: Wie die deutsche Politik mit Twitter umgeht, in: Tagesschau vom 15.11.2022, URL: https://www.tagesschau.de/inland/twitter-abschied-101.html  (zuletzt abgerufen am 15.11.2022).
  • Helmore, Edward: ‚Extinction is on the table‘: Jaron Lanier warns of tech’s existential threat to humanity, in: Guardian vom 27.11.2022, URL: https://www.theguardian.com/technology/2022/nov/27/jaron-lanier-tech-threat-humanity-twitter-social-media (zuletzt abgerufen am 1.2.2023).
  • Hoffmann, Timo: Populisten-Hochburg Facebook: Teile und herrsche, in: taz vom 23.10.2020, URL: https://taz.de/Populisten-Hochburg-Facebook/!5719912/ (zuletzt abgerufen am 7.10.2022).
  • Inside Facebook’s Secret Rulebook for Global Political Speech, in: The New York Times vom 27.12.2018, URL: https://www.nytimes.com/2018/12/27/world/facebook-moderators.html (zuletzt abgerufen am 28.12.2018)
  • Kurz, Constanze: Desinformation mit technischen Mitteln, Vortrag von Dr. Constanze Kurz, Sprecherin des Chaos Computer Club [CCC], 4.12.2018, URL: https://www.ub.uni-koeln.de/events/2018/fakenews/index_ger.html (zuletzt abgerufen am 7.10.2022).
  • Kurz, Constanze: Wie Soziale Medien uns manipulieren (Teil der Veranstaltungsreihe „Wahrheit, Populismus, Internet — FAKE NEWS und Macht im digitalen Zeitalter), in: Dlf Nova vom 5.12.2018, URL: https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/h%C3%B6rsaal-wie-soziale-medien-uns-manipulieren (zuletzt abgerufen am 7.10.2022).
  • Lanier, Jaron (2014). Wem gehört die Zukunft? Du bist nicht der Kunde der Internet-Konzerne, du bist ihr Produkt. Hamburg: Hoffmann und Campe.
  • Lanier, Jaron (2018). Ten arguments for deleting your social media accounts right now. New York: Henry Holt and Company.
  • Lanier, Jaron (2020). Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst. Hamburg: Hoffmann und Campe.
  • Neiman, Susan (2023). Links ist nicht woke. Aus dem Englischen von Christiana Goldmann. Hanser Berlin Verlag
  • Podiumsdiskussion „WAS GESCHIEHT? — Fake News und bedrohte Demokratie. Moderation: Dr. Michael Köhler (WDR3). Podium:  Dr. Jürgen Hermes [Institut für Digital Humanities],  Dr. Patrick Honecker [Dezernat 8 Kommunikation und Marketing],  Professorin Dr. Sandra Kurfürst [Südasien- und Südostasienstudien],  Professorin Dr. Anke Ortlepp [Amerikanische Geschichte],  Professor Dr. Karl-Nikolaus Peifer [Medienrecht], Teil der Veranstaltungsreihe „Wahrheit, Populismus, Internet – Fake News und Macht im digitalen Zeitalter“ der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln,, URL: https://www.ub.uni-koeln.de/events/2018/fakenews/index_ger.html (zuletzt abgerufen am 7.10.2022).
  • Smith, Justin E. H. (2022). The Internet Is Not What You Think It Is: A History, A Philosophy, A Warning. Princeton & Oxford: Princeton University Press.
  • Srnicek, Nick (2018 [2017]): Plattform-Kapitalismus. Hamburg: Hamburger Edition.
  • Swartz, Aaron / Lessig, Lawrence (2016): The Boy Who Could Change The World: The Writings of Aaron Swartz (Introduction by Lawrence Lessig). New York/London: Verso Books. 
  • Swartz, Aaron / Lessig, Lawrence (2017): Celui qui pourrait changer le monde. Aaron Swartz: Écrits. Introduction de Lawrence Lessig (Textes traduits de l’anglais (États-Unis) par Marie-Mathilde Bortoletti et Amarante Szidon. Paris: Éditions B42.
  • Wemheuer, Felix: Die westeuropäische Neue Linke und die chinesische Kulturrevolution. In: APuZ vom 93.06.2016. CC BY-NC-ND 3.0 DE

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