Fragmentierte Wenden

[Fragmentierung] von Geschichte war eine Forderung von Walter Benjamin und Hannah Arendt, die zwar beide keine Historiker waren, sich aber in ihrem Denken und in ihren Schriften ausführlich mit Geschichte auseinandergesetzt haben. Besonders prominent unter ihren Schriften mit Geschichtsbezug sind Arendts Auseinandersetzung mit der Biographie der Salonnière Rahel Varnhagen im Berlin des 19. Jahrhunderts sowie ihre Auseinandersetzung mit Antisemitismus, Totalitarismus und Faschismus in ihrem Monumentalwerk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Walter Benjamin, der mit Arendt befreundet war, beschäftigte sich in der letzten seiner Schriften unter dem Titel Über den Begriff der Geschichte aus geschichtsphilosophischer Perspektive mit der Frage nach dem Wesen von Geschichte. Beide waren direkte Opfer des Nationalsozialismus: Arendt als Überlebende, Benjamin als Flüchtender, der sich im Jahr 1940 das Leben nahm. Angesichts ihrer Zeitzeugenschaft und Erlebnisse verwundert es daher kaum, dass sie kein lineares, an „positivem“ Fortschritt orientiertes — und schon gar kein besonders optimistisches Geschichtsbild vertraten. Um zu einem Verständnis der „Pathologien der Menschheit“ zu gelangen, forderten sie, Geschichte „gegen den Strich zu bürsten“, um die Pathologien „herauszusprengen“ bzw. zu fragmentieren.

Das Bild Angelus Novus von Paul Klee aus dem Jahr 1920 hatte Walter Benjamin erworben. Es hatte ihn beim Verfassen seiner Geschichtsbetrachtungen in Über den Begriff der Geschichte inspiriert.

Die Vorstellung, dass Geschichte als linearer Verlauf zu sehen sei, und dass der Geschichtsverlauf dabei nicht horizontal-linear, sondern in einer hierarchisierten Bewegung von unten nach oben, von unterentwickelt zu entwickelt verlaufe — kurzum: dass Geschichte von Fortschritt geprägt sei — ist eine Vorstellung von Zeit, die eng mit der (von Europa ausgehenden) Moderne und einer positivistischen Sicht auf die Welt zusammenhängt. Ordnung und Fortschritt (Ordem e Progresso) — das hat sich der moderne Staat Brasilien sogar im wörtlichen Sinne auf die Fahne geschrieben. Fortschrittsvisionen verlaufen dabei keineswegs immer streng linear, wie zum Beispiel im historischen Materialismus und im weiteren Sinne im dialektischen Prinzip; dennoch nehmen sie dabei von einem positiven Fortschrittsgedanken keinen Abstand.

Doch diese Sicht auf Geschichte ist immer wieder in Frage gestellt und zurückgewiesen worden. Manche wollten in „sexy“ Buchtiteln, die erwartungsgemäß zu Verkaufsschlagern wurden, das „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) erreicht sehen: mit dem Ende des Kalten Krieges habe der westliche Liberalismus gesiegt. Doch heute steht der Kaiser völlig ohne Kleider in den Weiten des WWW: die schrille Karrikatur des US-Präsidenten Trump, aber auch die „Erfolgsbilanz“ illiberaler Führerfiguren wie Erdoğan, Putin, Modi, Duterte, Bolsonaro und zahlreicher weiterer, männerischer Führerfiguren liegen in destruktiver Bilanz bar. Sie künden von einer ganzheitlichen Krise, Rat- und Planlosigkeit. Dies findet seinen Ausdruck im permanenten Rückgriff auf Geschichte und Vergangenheit — während es an brauchbaren Zukunftsvisionen mangelt. Fast wirkt es, als fehlte nur noch das Kind, welches den Zeigefinger hebt und ruft: „Schaut hin, der Kaiser ist nackt“.

Doch die Kinder haben sich längst freitäglich zum Protest erhoben, wodurch die verzweifelte Brisanz der gegenwärtigen Denkfallen nur noch gesteigert wird. Ihre Gründe liegen auf der Hand, denn die Welt brennt und flutet: wir sind ganz offensichtlich Teil eines katastrophischen Progresses. Liegt dies womöglich am Paradigma — also an der Rahmung, wie wir über Zeit und Geschichte denken? Bereits Walter Benjamin kam über das Meditationsobjekt des oben abgebildeten Bildes Angelus Novus von Paul Klee zu einem katastrophischen Befund über den Fortschrittsgedanken, der als zentrales Paradigma gesehen werden kann:

Er [der Engel des Fortschritts, Anm. TS] möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.

Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte (9. These)

Der verheerende Sturm ist mittlerweile mehr als eine Metapher: er ist eigentlich geworden, nämlich zum täglichen Wetter selbst.[1] Inzwischen ist eine lange Reihe von Forschungsarbeiten und Meinungsbildern entstanden, die Benjamins Interpretation einer an Fortschritt orientierten Geschichte, deren Ergebnis Zerstörung sei, empirisch belegen. Der Soziologe Ulrich Beck hat zum Beispiel über Jahrzehnte beobachtet und beschrieben, wie die fortwährende Produktion von Risiken — zum Beispiel Umweltverschmutzung — zuerste eine „Risikogesellschaft“ erzeugt hat, die außerdem zunehmend und unausweichlich global und kosmopolitisiert ist; dies müsse aber auch dazu führen, dass die „erste europäische Industriemoderne“ an ihrem eigenen Ende mitwirke und ihre Transformation hin zu einer „Zweiten Moderne“ vorantreibe, die nur eine Chance habe, wenn sie ihren normativen Handlungszwang begreife und einsehe, dass die Welt als das behandelt werden müsse, was sie ist: als eine Kosmopolis. Dies bedeutet nicht, dass die ganze Welt eine einzige Weltregierung bräuchte, die den gesamten Planeten „managet“: diese Feststellung besagt zunächst einmal, dass jede Form der Politik, der Energiegewinnung, der Sicherheit, der Mobilität, der Freizeitgestaltung oder zusammengefasst des „Wirkens in der Welt“ über die erdumfänglichen Klimasysteme unzertrennlich miteinander verbunden sind. Deshalb ist es zwingend notwendig, dass sich ein neues Weltbild durchsetzt, das als normativer Wirkungsrahmen jede einzelne der oben genannten Politikformen leitet.

Doch für die Durchsetzung dieses neuen, notwendigen Weltbildes sind neo-populistische Führergestalten, die unter Rückgriff auf Geschichte destruktiven Tendenzen weiter den Weg bereiten, nur als Antithese geeignet. Nicht nur haben sie nichts beizusteuern: sie perpetuieren den katastrophischen Progress der Gegenwart sowie der immer schneller eintretenden, nahen Zukunft. Ob hinsichtlich des Klimawandels, der Energiewende, der Covid19-Pandemie, der Friedenssicherung und des Zusammenlebens in Differenz: keiner der oben genannten, männerischen Neo-Populisten hat nenneswerte Erfolge vorzuweisen. Dennoch genießen sie die irrationale Unterstützung einer beträchtlichen Zahl von Menschen, weshalb das Phänomen des in die (wie auch immer konstruierte) Vergangenheit gerichteten Neo-Populismus mit seinen untauglichen Versprechungen hier erforscht werden soll. Was bringt Menschen massenhaft dazu, in die falsche Richtung zu stürmen? Welche Dynamik steckt dahinter, sich Sicherheit ausgerechnet von denjenigen zu versprechen, deren Handlungen mit absoluter Sicherheit in weitere Unsicherheit führen? Inwiefern „wiederholt sich die Geschichte“ — wenn auch nicht im wörtlichen Sinn, so doch in Gestalt wiederkehrender Tropen, Stereotypen, Verhaltens- und Denkweisen?

Von der Forderung Benjamins und Arendts, Geschichte zu fragmentieren — und zwar über eine Phänomenologie der Tropik (genauere Erklärung folgt) — ist auch dieses Buchprojekt geleitet. Ich gehe von drei Prämissen und Vorarbeiten aus:

1 Erstens habe ich im Zuge meiner Dissertationsforschung festgestellt, dass der Neo-Populismus zwischen der Türkei und Bosnien-Herzegowina nur einen Teilaspekt einer globalen Wendezeit darstellt. Während der plebiszitäre Cäsarismus (oder auch: Sultanismus) in diesem spezifischen Fall rund um die männerische Führergestalt des türkischen Präsidenten und Autokraten kreist, stellt er phänomenologisch gesehen keinen Ausnahmefall dar: Er reiht sich ein in eine Vielzahl gegenwärtiger Führerkulte, Geschichtsrevisionismen und irrationale, wissenschafts- und faktenabgewandte Sicherheitsversprechungen. In Echtzeit lassen sich diese Entwicklungen beim Schreiben dieser Beiträge anhand des Umgangs mit der Covid19-Pandemie sowie der Meta-Katastrophe der Klimakatastrophe beobachten und beschreiben. Was all diese globalen Phänomene über ihre spezifischen Unterschiede hinweg vereint, sind ihre relative Gleichzeitigkeit, ihre medialen Vektoren der Neuen Medien sowie die darüber hervorgebrachte, prosumentische Produktion öffentlicher Meinungen — und ihr gleichzeitiges, widersprüchliches Zurückstreben in geschichtsrevisionistische Zukunftsperspektiven. Aufgrund dieser Eigenschaft eines widersprüchlichen Hin- und Hers zwischen Neuen Medien und Vergangenheit habe ich als Arbeitsbegriff die Bezeichnung Neo-Re vorgeschlagen.

2 Zweitens habe ich mich in der Endphase meiner Promotionszeit mit der sogenannten Holznot des 19. Jahrhunderts in Mitteleuropa beschäftigt: diese war einerseits eine Umweltkrise, in der es noch vor der massenhaften Umstellung auf Kohle als Leitenergiequelle zu einer Verknappung von Holz als primärer Energiequelle kam. Dies ging einher mit einem nach der letzten Eiszeit nie dagewesenen Ausmaß der Entwaldung Mitteleuropas. Gleichzeitig bzw. in Wechselwirkung mit diesem Prozess entfaltete sich die deutsche Romantik, die berühmt für ihre Überhöhung urtümlicher Naturschönheit, aber auch für ihr Streben in die Vergangenheit, zur (Neo-)Gotik und weg von neuzeitlicher Reformation ist. All dies wird von Heinrich Heine aus der Perspektive eines gesellschaftlichen Außenseiters persifliert, scharfsinnig beobachtet und kritisch kommentiert. Aus all diesen Gründen weist das 19. Jahrhundert — und zwar bereits vor der Industriellen Revolution, die allgemeinhin als die entscheidende Wende erinnert wird — zahlreiche Parallelen zu den neo-populistischen Rückwärtswenden der Gegenwart auf, die als Fragmente beschrieben und in Beziehung gesetzt werden können.

3 In einem dritten Schritt soll der Blick auf historische Wenden im europäischen Kontext weiter vertieft werden. Wer die Erste Europäische Industriemoderne (Beck) und die ihr inhärente, generelle Auffassung über die „Machbarkeit der Welt“ in Gestalt des Fortschritts- und Wachstumsgedankens verstehen will, gelangt unweigerlich zurück zur letzten großen, zurückliegenden Wendezeit, angesiedelt zwischen dem ausgehenden Mittelalter und der Neuzeit: die Rede ist von der Renaissance, die in Oberitalien ihren Anfang genommen hat und bereits in der Bezeichnung ‚Wiedergeburt‘ (Rinascimento/Renaissance) die Trope der Ende enthält. Wie die deutschen Romantiker*innen und die Neo-Re-Populist*innen der Gegenwart ist die Renaissance oberflächlich betrachtet stark von einer Hinwendung zu einer verklärten Vision der Vergangenheit geprägt: ausgehend von Niccolò Machiavellis Schriften, in denen die Römische Republik idealisiert dargestellt wird, soll auch hier das Zusammenspiel untersucht werden, das zwischen dem Blick in die Vergangenheit und dem Hervorbringen genuin neuer Zukunftsvisionen bestand.

Um die Übersichtlichkeit zu bewahren, halte ich alle drei Teilprojekte der Fragmentierten Wendezeiten so lange getrennt, bis am Ende die Synopse und Synthese erbracht werden kann.

Fußnoten

[1] Die hier gebrauchte Formulierung der Eigentlichkeit des Sturms bezieht sich auf die Unterscheidung zwischen der eigentlichen und der uneigentlichen Ebene in der Metaphernanalyse, die wiederum auf Theorien des Verstehens, Fremdverstehens und Übersetzens bzw. Übertragens aufbaut. Demnach ist die sprachliche Ebene grundsätzlich uneigentlich und abstrakt, indem sie das Eigentliche, hier den Sturm und das Wetter — das Klima — über das meta-phorein bzw. transferre (translatio) uneigentlich und damit metaphorisch macht. Im Fall der Betrachtung der Benjamin’schen Metaphorik aus heutiger Sicht, die sich nicht auf den Faschismus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bezieht, ist es so, dass die Metapher des Sturms der Veheerung zunächst über Jahrzehnte hinweg ignoriert wurde, weil Fortschritt paradigmatisch positiv besetzt war. Fortschritt wurde nicht als Sturm betrachtet, sondern als Hoffnung spendendes Prinzip und Motor von Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und zahlreicher anderer Aspekte. Diese Sicht ist heute anachronistisch geworden, sofern die Beziehung zur eigentlichen Umwelt, die vom Fortschrittsparadigma verheert ist, nicht entfremdet ist. Es wird also gewissermaßen nicht die eigentliche Umwelt uneigentlich und metaphorisch — sondern die Metapher verlässt die Ebene der Abstraktion und wird „echt“, das heißt: eigentlich.

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