[Rückblick 2020] Alle Beiträge (I-VI) des Jahresrückblicks

  1. Nicht tröstlich — aber vielleicht erbaulich?
  2. Corona als Mastertrope von 2020. Und 2021.
  3. Das Jahr beginnt und endet als Zwischenzustand: uneindeutig
  4. War 2019 wirklich besser?
  5. Idiotie aller Orten
  6. Storytelling mit Bildern
  7. Erstes Quartal
  8. Zweites Quartal
  9. Drittes Quartal
  10. Viertes Quartal
  11. Epilog zum Zeitgeist: Die Fresswelle ist jetzt vorbei
  12. Vom Jahreszeitenzyklus zum Stimmungsbild der Zeit
  13. Natalität, Vitalität — oder Morbidität?
  14. Die Welt ist ein Fenster
  15. Der Zeit mehr Leben hinzufügen — and I call it a year

1) Nicht tröstlich — aber vielleicht erbaulich?

Vorab: meine Gedanken zum zurückliegenden Jahr 2020 sind nicht tröstlich. Aber sie sind, wie ich finde, erbaulich — was auf mehr als Trost hinausläuft. Und in diesem Fall ist mehr wahrscheinlich tatsächlich besser als weniger. Oft ist zu hören, unsere Zeit sei geprägt von „Ambiguitätsintoleranz“: die Dinge seien entweder grundsätzlich schlecht oder gut — aber nie könne es das richtige Leben im falschen geben. Es ist wie mit den fürchterlichen icons und buttons unter den posts und tweets der online social media (OSN), die sich das Attribut „sozial“ im Ganzen ebenso wenig verdient haben wie die DDR die Einstufung als vielstimmige Demokratie: in einer ambiguitätsintoleranten Umgebung gibt es immer nur eine klare Antwort. Daumen hoch, Daumen runter. Innerhalb der eigenen Wahlverwandtschaft wird sich in den OSN darüber versichert, was und wer gut oder böse ist. Nur eine Wahrheit — die eigene bzw. die der Wahlverwandtschaft — ist die richtige, ist anständig. Nicht nur gibt es keine Grauzonen: man muss in dieser zweigeteilten Wirklichkeitswahrnehmung scheinbar nicht damit zurecht kommen, dass die Echtzeit (aber auch die Vergangenheit) voll von Widersprüchen war und ist. Streit wird unerträglich und vermieden — denn die anderen liegen nicht nur falsch, sondern sie sind auch noch böse.

2) Corona als Mastertrope von 2020. Und 2021.

Um also in diesem binären Entweder-Oder-Geplänkel gleich auf die Mastertrope des Jahres 2020 zurückzukommen — natürlich ist das die Covid19-Pandemie, vulgo: Corona — so lautet das Urteil vieler Zeitgenossinnen, dass es sich bei 2020 ohne jeden Zweifel um ein schlechtes Jahr gehandelt haben muss. Und hat es eigentlich je ein schlechteres gegeben? Eine Freundin hat sich vor kurzem beklagt, sie habe das Gefühl, man hätte ihr durch Corona Lebenszeit gestohlen, die ihr auch niemand mehr werde zurückgeben können. Die vielen verpassten Chancen, Gelegenheiten, Treffen… Da ist auf jeden Fall was dran — aber wie soll man damit umgehen? Die „Beschissenheit der Dinge“ (ich gebe nur den Titel eines schlechten belgischen Films wieder) in ihrer schieren Beschissenheit einfach anerkennen? Und wenn ja, was wird dadurch besser? Oder sollte man sich stattdessen von der hyggeligen Sofalandschaft aus anschicken, das Gegenteil zu behaupten, um in diesem unglaublich entschleunigten Jahr nur noch Gutes zu sehen? Wäre letzteres nicht von vorneherein zum Scheitern verurteilt — eine Pandemie ist eine Pandemie ist eine Pandemie — könnte man auf diese Weise womöglich Trost suchen. Eine andere, gerade sehr angezeigte Möglichkeit wäre, aufzuhören, sich Anfang des Jahres ein „Frohes Neues“ zu wünschen. Oder wenn, dann eingedenk der Möglichkeit, dass alles durchaus noch viel schlimmer kommen könnte; dass das alles nur ein Vorgeschmäckle war. Aus epidemiologischer Sicht ist jedenfalls jetzt schon klar, dass 2021 vorerst ebenso krank weiter geht, wie 2020 aufgehört hat:


Quelle: Screenshot von Facebook

3) Das Jahr beginnt und endet als Zwischenzustand: uneindeutig

Aus meiner Sicht begann das Jahr bereits vor der Pandemie mehrdeutig, abgedämpft, ungeklärt und schlecht einschätzbar — und tatsächlich auf einer Sofalandschaft: körperlich und psychisch ausgelaugt von der Abgabe meiner Dissertation am 12.12.2019 hatte ich mich noch irgendwie in die Rhön geschleppt, wo ich den Heiligabend bei 40 Grad Fieber auf der Couch meiner Zwillingsschwester verbrachte. An diese wegmarkige passage erinnert auch das erste Foto der Bildbeiträge zum Januar, die ich nach Monaten zu Collagen sortiert habe. Ich hatte seit 2016 keinen Urlaub mehr gemacht, und zwischen 2017 und 2019 lagen Tage hinter mir, die damit begannen — und das ist wörtlich zu verstehen — dass ich erst einmal laut „Scheiße!“ rief. An diese Tage möchte ich mich lieber nicht genauer erinnern, und auch meiner Nachbarin begegne ich seither verschämt. Ende 2019, Anfang 2020 hatte ich so viel Ruhe nötig, dass ich mir wünschte, die Rauhnächte zwischen den Jahren mögen dieses Mal doch bitte gleich in ein paar Wochen Verlängerung gehen. Doch aus der erwünschten Ruhephase wurde ein ganzes Jahr pandemischen Zwischenzustands, was mir auf eine schwer einzugestehende Weise also tatsächlich teilweise entgegenkam. Und das Jahr 2020 endete über eine lange Fastenzeit und fast völligen Nahrungsentzug fast ebenso zwielichtig (siehe Bilder von Dezember 2020), wie es begonnen hatte: in einem pandemischen Lockdown. Mit viel Sofalandschaft.

Doch ein wesentlicher Unterschied zwischen Anfang und Ende 2020 besteht darin, dass ich nach dem ersten Drittel des Jahres in eine ausgesprochene Aktiv- und Kreativphase geraten war. Dadurch hatte sich mein Sein-in-der-Welt einer Klärung erheblich angenähert. Ich glaube, ich weiß jetzt wieder, was zu tun ist. I know what I am after. I know what is behind me. Das Gewässer fließt jetzt wieder. Ist da still und heimlich ein Damm gebrochen? Angesichts der Zustände des Planeten, die auch durch die folgenden Bildercollagen dringen werden, wäre es natürlich völlig übertrieben, zu sagen, das Jahr sei am Ende großartig gewesen, oder es habe gar in „Glücklichsein“ geendet, auch ungeachtet der Pandemie. Abgesehen davon, dass ich Glücklichsein für kein erstrebenswertes oder erreichbares Ziel, sondern für eine leidverursachende und aufzugebende Illusion halte, war es für mich jedenfalls auch kein eindeutig schlechtes Jahr. Meine 82jährige Oma in Bosnien hat eine Krebsoperation und Corona überlebt. Mein bester Freund hatte Corona, doch nach seiner Genesung haben ihm meine Käsetorte und die selbst gemachte Hagebuttenmarmelade trotzdem wieder geschmeckt (und man sagt, das sei nicht bei allen Covid19-Patienten der Fall — auch Monate später nicht). Niemanden in meinem direkten Umfeld hat es also wirklich schlimm erwischt.

4) War 2019 wirklich besser?

Wirtschaftlich war ich bereits vor der Pandemie so tief im Keller, dass mich kaum noch etwas erschüttern konnte — und wenn, dann hätte die Pandemie „das Kraut auch nicht mehr mager gemacht“. Das Jahr 2019 war aus meiner Sicht zumindest insofern viel schlimmer als 2020, als es keine Pandemie gab, auf die man jede Schlechtigkeit hätte zurückführen können. Ich verstehe natürlich, dass es bei anderen Menschen anders lief. Freilich ist es unschön, jetzt aus finanziellem Unbill oder pandemiebedingter Schließung nicht mehr ganz selbstverständlich im Lieblingsrestaurant essen gehen zu können — doch da kommt die Mehrdeutigkeit der pandemischen Zeit ins Spiel: wie viele Menschen haben es denn der Pandemie zu verdanken, dass sie jetzt endlich wissen, wie ein Nudelteig zu behandeln ist, um ihn auf einem Tuch über zwei Quadratmeter so dünn auszuziehen, dass man darunter eine jugoslawische Zeitung lesen kann, um ihn danach mit einer Herzensfüllung einzurollen und in einer Tepsija (Backblech) zur Proto-Jugo-Leibspeise zu backen? Wie die Augustbilder beweisen können, gehöre ich auf jeden Fall zu jenem Schlag Menschen, die sich seit 2020 sehr viel besser darauf verstehen, die rar gewordenen, anderen Menschen mit Nahrungszubereitung zu beeindrucken. All die gemusterten Sauerteigbrote auf Instagram, all die Berichte über das vorübergehende Versiegen der Hefepilzvorräte: sie beweisen, dass es sich bei diesen Backexzessen um etwas durchaus zeitgeistiges, massenhaftes handelte, was uns die Vorjahre schlichtweg nicht bieten konnten.

5) Idiotie aller Orten

Da gibt es auch die massive, bisweilen selbstgefällige Kritik an den Entwicklungen der Corona-Zeit, dass sich die Leute gewissermaßen vorauseilend in sich selbst zurückgezogen hätten: Idiotie, Rückzug ins Private, „Entsolidarisierung“, Verbiedermeierung, Realitätsflucht oder so ähnlich lauten einige Einwände. Natürlich besteht diese Gefahr: sich einfach zurückzuziehen, dabei aber aus den Augen zu verlieren, dass die Welt durch die Pandemie keine bessere geworden ist und auch nicht wird, wenn niemand etwas unternimmt, und letzteres ist absolut das Gebot der Stunde: die Klimakatastrophe schreitet weiter voran. An den kältesten Orten der Nordhalbkugel herrschten im Juni 2020 erstmals unglaubliche 38 Grad Celsius. Es werden weiterhin massenhaft Verbrennungsmotoren gefahren, sogenannte Pop-up Radwege wieder in Frage gestellt. Flüchtlinge rund um den Swimmingpool des afrikanisch-europäisch-levantinischen Mittelmeers werden entweder sich selbst überlassen, verfolgt, getötet oder auch noch in bizarren Agitprop-Bilderschlachten missbraucht, wie Anfang des Jahres durch angeheuerte, professionelle Fotografen der Agentur Anadolu, worauf auch zahlreiche professionelle Journalisten hereingefallen sind. In der Türkei hat sich das herrschende Regime immer weiter auf eine vorhersehbare Klimax des Wahnsinns bewegt — doch aus Deutschland werden trotzdem weiterhin Waffen dorthin geschickt, auch wenn die Kriegstreiberei der Türkei im Jahr 2020 (Bergkarabach, Ägäis, Libyen, Syrien) eigentlich allzu offensichtlich war. In Berlin demonstrierten sogenannte „Covidioten“ und träumten davon, mit Reichskriegsflaggen den Bundestag zu stürmen. In den USA ist der katastrophische Progress, angeführt durch den Trash-Präsidenten des Landes, schier atemberaubend. Die Liste ließe sich unendlich fortsetzen — wir alle wissen, was gemeint ist. Es stimmt: das Jahr 2020 hat uns den Neologismus der Covidiotie gebracht, und die zur Schau gestellte Existenz einer beträchtlichen Anzahl von Covidioten gehört definitiv zum Tatsachenbefund des Jahres. Nur glaube ich nicht, dass dies etwas mit der Pandemie und den Maßnahmen an sich zu tun hat. 

6) Storytelling mit Bildern

Aber bevor ich hier meine LeserInnen durch weiteren Text zermürbe, lasse ich in den folgenden vier Einzelbeiträgen Bilder sprechen — was ich nicht zuletzt aufgrund meiner ständigen Beschäftigung mit Metaphernanalyse und Storytelling für einen passenden Ansatz halte. Die vier Einzelbeiträge sind jeweils ein Quartal des Jahres (z.B. Januar-März), denn ich wollte keinen extrem riesigen, bildlastigen Einzelbeitrag erstellen. Die Bilder sind in den meisten Fällen eigene Aufnahmen. Manche sind Screenshots, abfotografierte Dokumente oder wurden mir per Messenger von Verwandten zugeschickt (die Bilder aus Bosnien). Im Januar befindet sich ein Bild aus einem früheren Winter, im März eine frühherbstliche Rhön aus 2016, doch ansonsten sind die Bilder mit größter Wahrscheinlichkeit auch immer in dem jeweiligen Monat des Jahres 2020 entstanden (manchmal kann es sein, dass sie mir im Monat verrutscht sind, damn). Jeder Monat innerhalb eines Quartals hat einen Textabschnitt bekommen, und ich habe mich selbst dazu verpflichtet, nicht auszuschweifen. Ganz zum Schluss ziehe ich noch einmal ein längeres Resümee und komme auf Themen wie „den“ Zeitgeist und die Mastertrope der Pandemie zurück — und warum ich den Jahresrückblick erbaulich (wenn auch nicht tröstlich) finde.

7) Erstes Quartal

Januar

In die Haßberge [3] und in die Rhön [2] verschlug es mich Ende Januar erneut, wo ich nach abgegebener Dissertation [1] meinen vierzigsten Geburtstag mit meiner Zwillingsschwester verbrachte. Obwohl auf dem Farnsberg (786 m. NHN) zaghafter Frost gefallen war, können diese Bilder nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Winter insgesamt viel zu mild und nahezu vollkommen frostfrei verlaufen ist. Im Flachland fiel der erste ernsthafte Frost im Mai zu den Eisheiligen, weshalb es trotz Mittelmeerwinter ein stellenweise nuss- und obstarmer Sommer werden würde.

Februar

Nachdem ich im Februar das Theater der „Fahrenden Gaukler“ in Friesenhausen besuchte, beschloss ich, an einem Buch mit dem Titel Acta Francorum [1] zu schreiben. Nach dem rassistischen Terroranschlag von Hanau sowie durch das Elend der Flüchtlinge auf den griechischen Inseln kam es im Februar und im frühen März zu den letzten Demonstrationen vor der Pandemie auf dem Hermannplatz [2] und in Mitte [3], an denen ich teilnahm. Aus Bosnien kamen unterdessen schlechte Nachrichten: meine Oma hatte Nierenkrebs und musste im Krankenhaus von Zenica [4] eine Niere entfernt bekommen. Meine Mutter und die Frau meines Onkels gerieten dadurch Anfang März in eine frühe häusliche Quarantäne [5] in Bosnien, was das gesamte Familiensystem ins Wanken brachte. Auf der Hermannova in Berlin wollte der Februar lieber April sein [6]; Hagel war der einzige weiße Niederschlag.

März

Im März dann der Schock: das Klopapier war alle! [1] Corona war jetzt vollkommen da. Die Krankenhäuser stellten sicherheitshalber weiße Zeltpavillons vor den Eingängen auf. Die Leute waren schockiert von den Bildern aus Italien, wo Militär-LKWs die Leichen abtransportierten. Niemand wusste genaueres — außer, dass das neoliberale „Sparen“ am Gesundheitssystem gescheitert war. Social Distancing und der Hashtag #StayTheFuckHome [2] avancierten kurzzeitig zum Gebot der Stunde, die EuropäerInnen klatschten dem Krankenhauspersonal von den Balkonen, und ich fuhr in einem gespenstisch leeren ICE durch gleißenden Sonnenschein in die Rhön. Mit dem Minihund [4] — der so heißt, weil er eigentlich ein großer ist, nur dass er klein ist — trieb es mich dort täglich stundenlang in die Wälder [3]. Meine Zwillingsschwester ging weiterhin unerschüttert auf die Arbeit: Frauen, die Opfer von Gewalt sind, brauchten jetzt erst recht Unterstützung. Mein Neffe war nicht so begeistert von der Idee des „Homeschoolings“ mit seinem Onkel als Hauslehrer. Seine Schulen und Sportvereine blieben geschlossen — aber Luftsprünge [5] konnte man ja trotzdem machen.

8) Zweites Quartal

April

Der April brachte Höchsttemperaturen und große Trockenheit. Im Osternest [1] lag dieses Mal wertvolles Desinfektionsspray für die Hände, und auch ansonsten war alles anders. Am zweiten Ostertag war es plötzlich kalt und ich fuhr mit dem Minihund auf den Kreuzberg [2], wo ich das Auto versteckt hinter einem Abhang parkte, denn ganz erlaubt war das womöglich nicht. Wir waren die einzigen Besucher des Kreuzbergs: unvorstellbar an allen vorherigen Osterfesten, wo die Klostergaststätte aus allen Nähten platzt! Im April wuchs Bärlauch [3] in großen Massen. Es zeigte sich ein Supervollmond [6]. Die Natur erwachte mit voller Kraft, und der Anblick der Schlüsselblumen [4] bewirkten bei mir eine innere Zeitreise zurück in die Kindheit — und auch zur ersten selbst erlebten Katastrophe: Tschernobyl.

Mai

Im Mai wurde allmählich klarer, wann ich meine Dissertation würde verteidigen können — es lief auf Juli hinaus. Ich ging weiter in die Wälder [1] und bereitete mich auf die drei Thesen vor. Was lag da näher, als sich mit dem „deutschen Wald“ zu beschäftigen? Ich las wieder viel über das Neunzehnte Jahrhundert, in Heinrich Heines Schriften, über die Italienische Renaissance und Machiavelli; ich analysierte Waldmetaphern, stellte Geschichtsbilder und Zeitregime in Frage. Allmählich kamen dann die ersten Lockerungen, und ich fuhr in meine Geburtsstadt Schweinfurt [2], wo ich meinen Lieblingsbuchladen besuchte und mich über ein teuer erstandenes Buch ärgerte (nicht im Bild), das seinen Preis nicht wert war und doch über den grünen Klee gelobt wurde. Was wohl der maskierte Friedrich Rückert [2] dazu gesagt hätte?

Juni

Im Juni hatte es das Blühen der Waldpflanzen — hier Lupine und Purpurdigitalis [1] — auf eine unerhörte Spitze getrieben. Andererseits zeigten sich in den niederen Lagen des trockenen Unterfrankens zahlreiche Leichen [2]: es waren die Koniferen, die alten „Brotbäume“ der Wirtschaftsforste, die es nicht über die zwei Dürrejahre geschafft hatten. Die Klimakatastrophe schreitet überall voran, sie ist im wahrsten Sinne spürbar — spürbarer als die Pandemie — und die Zukunft der Wälder wird definitiv anders aussehen als auf den gewohnten Bildern. Für mich kam im Juni die Zeit der Fortreise [3] von Familie und Minihund: ich fuhr nach Berlin [4], wo mir die Verteidigung endlich bevorstand. Vom zum Bersten aufgeladenen Himmel drohte eine böse, gelbe Wolke [5] herab auf das Tempelhofer Feld, wo ich unter „meiner“ Platane lag und nach Jahren erneut in Roger Willemsens (R.I.P.) Buch „Der Knacks“ las. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen, und es gelang mir, mich mit einem alten Trauerfall neu auseinanderzusetzen: nach 25 Jahren erinnerte ich mich zum ersten Mal am 19. Juni an den Todestag meines Vaters. 2020 war insgesamt auch das Jahr der morbiden Jahrestage: am 11. Juli waren 25 Jahre seit dem Fall Srebrenicas und des Genozids vergangen. 

9) Drittes Quartal

Juli

Am 7. Juli schließlich war es soweit: ich habe verteidigt [1]. Es waren keine Gäste dabei, es gab kein Buffet und keine Feier — dafür gab es aber auch keinerlei Nervosität, kein Lampenfieber und keinen Stress. Es war, wie es war — und jetzt war es um. Heinrich Heine [2] aber blieb: ich las und schrieb immer weiter. War das eine Art Phantomschmerz? Aus meinen drei Thesen entstand ein weiteres Buchprojekt über Zeit- und Geschichtsbilder in Umbruchsphasen. Heine sitzt in Berlin als Denkmal übrigens gewissermaßen am Katzentisch, eingeklemmt zwischen Humboldt-Universität [3] und Gorki-Theater, im Hintergrund spitzt das Collegium Hungaricum durch. Nun hatte ich auch wieder mehr Zeit, über mein Forschungsprojekt Hermannova [4] nachzudenken und konnte die Homepage umarbeiten. Das Urlaubsgejammer derer mit Geld und hohen Ansprüchen ging mir allmählich auf die Nerven. Sehr gut war es dagegen, mit Anna ins Baruther Urstromtal zu fahren: nach Glashütte [5], wo unsere Freiwilligenkollegin Dascha mit ihrer Familie wohnt, und wo uns am Ende eine hornlose Kuhherde durch einen tropischen Hitzefilm anstarrte [6]. Ich fing an, mich nach alternativen Wohnmöglichkeiten umzuschauen.

August

Dass der Lockdown auch abseits streng akademischer Diskurse nennenswerte Lerneffekte zeitigte, beweisen die ersten Bilder [1]: ich kann jetzt ohne Schwierigkeiten Pita (und meinetwegen auch Burek) zubereiten, beherrsche mehrere Techniken und weiß um so einige Tricks, die erst mit der Erfahrung kommen. Während man die Pita als Soul Food bezeichnen könnte, die ich seit meiner frühesten Kindheit kenne und liebe, könnte die Sevdah-Musik als eine Art Soul Music gelten, obwohl sie durch ihren hybriden und uneindeutigen Charakter doch meistens eher mit dem Blues verglichen wird. Es war mir ein großer Genuss, im Berliner August einen [3] Beitrag über dieses Genre zu schreiben, den ich später noch weiter veröffentlichen konnte (s. Dezember). In Berlin [2] trieb es nun alle ins Freie, die sich vorher lieber im Club getroffen hätten, und unser nun mediterranes Sommerwetter bescherte der Hermannova fast Strandatmosphäre [2]. Der August hatte noch eine krönende Abschlusswoche parat, die mich wieder ins Francorum brachte — diesmal allerdings ins thüringische: dort wohnt meine Freundin Else aus der Schulzeit, und zwar ganz vornehm auf einer Johanniterburg [4]. Ich bin sehr froh, sie nach so langer Zeit wieder getroffen zu haben. Ich habe viel über das sogenannte Henneberger Land gelernt, und auch hinsichtlich der Metaphernanalyse bin ich weiter gekommen, zum Beispiel auf dem Gebiet der Heraldik und redenden bzw. sprechenden Wappen: und im Henneberger Land redet tatsächlich die Henne [5] — wobei es übrigens auch Füchse gibt.

September

Im September — im Unklaren über die zweite Welle, ihr genaues Eintreten sowie die Ausmaße der Maßnahmen — blieb ich erst einmal im Francorum, wo sich am 1. September ein außergewöhnlicher Doppelregenbogen [1] zeigte: und das, obwohl das Symbol des Regenbogens im Laufe des Jahres 2020 von immer zahlreicheren, verrückt gewordenen, neo-populistischen Regimen offiziell verboten wurde! Ich habe unter anderem eine Radtour [2] nach Schweinfurt unternommen, wo mir die Fußgängerzone jedes Mal ein bisschen mehr leid tut und an eine alte Balkan-Čaršija [3] erinnert. Unterwegs habe ich mich mit dem Wandel des ländlichen Raums beschäftigt: die Veränderungen der letzten zwei Jahrzehnte, während der ich nicht mehr dort wohne, sind sehr groß — und sie werden (natürlich) umso größer, je weiter man zurückblickt. Zum Beispiel war Unterfranken bis in die Nazizeit stark vom Landjudentum geprägt, wovon ich zwar immer wusste, womit ich mich aber seit langem nicht mehr beschäftigt hatte. Ich beschloss, dies zu ändern, und ging den Spuren der 2017 verstorbenen Bibliothekarin und Lokalhistorikerin Cordula Kappner nach, die ich als Schüler ganz gut kannte. Die Schautafeln im Dorf Kleinsteinach [4], wo es einen jüdischen Friedhof gibt, sind ihren Recherchen zu verdanken. So konnte ich einen Teil des Kapitels über das fränkische Landjudentum des Buches Acta Francorum füllen.

10) Viertes Quartal

Oktober

Kann es für den Oktober der gemäßigten Zone der Nordhalbkugel einen besseren Namen geben als „Listopad“? Wohl kaum: so heißt er auf Kroatisch, denn es ist der Monat des Blatt- (list) -falls ([o]pad) [1]. Immer noch im Francorum, setzte ich die Recherchen zum unterfränkischen Landjudentum fort — und zwar in Burgpreppach, wo ich zwei Mal Frau Flachsenberger [2] getroffen habe. Diese hat sich in einem extrem beeindruckenden Maß um die Dokumentation der jüdischen Geschichte des Ortes verdient gemacht, und ihr über Jahrzehnte hinweg erstelltes Archiv (das Flachsenberger-Archiv) [3] ist ein wahrer Traum für DoktorandInnen, die zu einem solchen Thema forschen. Wahnsinn! Mir war nicht bewusst, dass sich in dieser heute recht abgeschiedenen Gegend am alten Zonenrand eine jüdische Präparandenschule befunden hatte, die von europaweiter Strahlkraft war und Schüler aus dem Elsaß, der Schweiz, dem Russischen Reich und allen deutschen Gebieten anzog; eine Mazzenbäckerei, die nicht nur viele Frauen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit beschäftigte, sondern das gesamte umliegende Francorum mit ungesäuertem Brot versorgte. In den Haßbergen erfuhr ich im Oktober außerdem, dass auch Holz — nachdem es nun klimakatastrophenbedingt in zunehmendem Ausmaß dem Borkenkäfer zum Opfer gefallen ist — in Quarantäne muss: in Holzquarantäne [4]. Wie merkwürdig nur das Wort „Holzquarantäne“ mit dem der „Holznot“ aus Heinrich Heines Tagen korreliert, am Vorabend der großen Einheizerei, die uns dahin bringen sollte, wo wir heute stehen: Mensch wie Wald in Quarantäne. Der Monat endete mit einem Online-Workshop über neue Perspektiven der Türkeiforschung im deutschsprachigen Raum, den ich zusammen mit drei wunderbaren Kolleginnen organisieren durfte [5]. 

November

November war ein bald gelber, bald orangeroter Monat. Ich eröffnete ihn mit der vierten Fastenwoche, nachdem mir der Frühjahrslockdown die Fastenzeit zersaut hatte, und kümmerte mich um das nun schon stark herabgefallene Laub. Ich beobachtete dabei, wie eine fränkische Kirsche den aufgestauten Dürrestress aus sich herausfließen fließ [1.1] — doch dabei orakelte sie auf abhorrente Weise das Antlitz des US-amerikanischen Trash-Präsidenten [1.2] und der aufdringliche Zirkus der Zwei-Parteien-Wahlen wollte nur schleppend zu einem Ende kommen. Es war auch ein Monat der Feldarbeit — denn ich durfte zwei Veranstaltungen der Berlin Science Week der HU Berlin [2] moderieren und dabei wunderbare Menschen kennenlernen — den Veranstaltern sei sehr gedankt. Feldarbeit hieß auch Schnäppchenjagd nach der linguistic landscape auf der Hermannova [3], und auf dem Tempelhofer Feld regte mich dabei ein Ginkgo-Ensemble [4] zu einem Berlin-Haiku an. Doch das Feld hatte noch soviel mehr zu geben: Hagebutten allerorten [5]! Das war ganz schön viel Arbeit.

Das Gelb ist gar:
Was vor zwei Tagen war,
Noch in diesem Jahr,
Ist das Gelb:
Es ist gar.

Berlin-Haiku, 
Thomas Schad 2020
Dezember

Der Dezember ist gar nicht der zehnte Monat (decem, decembris): wie der Januar steckt er zwischen den Jahren, und so heißt er auch im Türkischen: Aralık (dazwischen), wie mir zu einem Foto [1] des pandemisch fast leergefegten Pariser Platzes eingefallen ist. Der Dezember begann mit einem weiteren Talk aus der Reihe Ming(R)A Talks [2], den mein alter Freund Chaspa aus Travnik/Minga in Minga organisiert hat: es ging dabei um Erinnerungskultur und 25 Jahre Srebrenica/Dayton. Im Dezember konnte auch mein im August entstandener (und noch einmal erheblich überarbeiteter) Beitrag über Sevdah in den Südosteuropa-Mitteilungen [3] erscheinen — und da ich gerade bei der Poesie bin, passt an dieser Stelle ein Mural in Berlin-Kreuzberg [4], das ich auf einem rauhnachternen Fahrradritt neu entdeckt habe. Es zeigt ein Gemälde mit einem Gedicht von Nazım Hikmet (1902-1963), das noch einmal beweist, wie verbreitet Baum- und Waldmetaphern sind, mit denen ich mich in diesem Jahr so intensiv beschäftigt habe (auf dem Mural zweisprachig, hier habe ich die deutsche Übersetzung etwas abgeändert). Wie bereits angesprochen: der Monat mit den kürzesten Tagen und längsten Nächten — das Gelb war bekanntlich gar — endete im Zwielicht [5].

Leben
wie ein Baum
einzeln und frei
und wie ein Wald
geschwisterlich verbunden
das ist unsere Sehnsucht

Nazım Hikmet 

11) Epilog zum Zeitgeist: Die Fresswelle ist jetzt vorbei

Das berüchtigte, angebliche Nichtreisenkönnen des Jahres 2020 kam mir gar nicht so vor, denn ich bin gefühlt sehr viel herumgekommen, besonders inhaltlich und in unterschiedlichen geschichtlichen Zusammenhängen. Die permanente Geldlosigkeit und die damit doch real eingeschränkte Möglichkeit zur Ablenkung hat vielleicht bestimmte Kreativitätspotenziale frei gesetzt, die im vielen Unterwegs der vorpandemischen Zeit „verschütt“ gegangen waren: man musste jetzt nicht mehr unbedingt in ein Retreat fahren, um zu schreiben. Und um ernsthafte Denkvorgänge anzutreten, eignet sich besonders das Schreiben, denn — wie Hannah Arendt es in ihrem berühmten Gaus-Interview formuliert hat — „bestimmte Dinge stehen dann fest“. Doch neben dem Schreiben gehörten auch (das Hören von und Schreiben über) Musik, Fotografie und das Zeichnen zu den „verlorenen Mußen“.

Wie ich im Austausch mit anderen Menschen mitbekommen habe, ob aus dem engeren persönlichen Umfeld oder auf Online-Plattformen, war ich nicht der einzige, der sich gerade während des ersten Lockdowns sowie der pseudo-katastrophischen Katerstimmung danach seinem inneren Kind und seinen „echten Leidenschaften“ angenähert hat. Andere hingegen erzählten — wie die in der Einleitung erwähnte Freundin — dass sie quasi ins Haus verordnete, unerwartete Zwangs-Introspektive hart getroffen hat. Eine meiner eigenen, persönlichen Beobachtungen dabei war jedoch, dass mich der Lockdown alles andere als in eine depressive oder destruktive Stimmung gerissen hat: ganz im Gegenteil habe ich verstanden, dass ich in Zeiten der äußeren Krisen über eine enorme Resilienz verfüge. Es ging mir nicht schlecht. Das mag mit den erlebten, äußeren Turbulenzen der 1990er Jahre zu tun haben, und vielleicht auch mit einem gewissen Erfahrungsvorsprung im Umgang mit dem Thema Sterben und Tod — denn in der Todesfurcht steckt ja der innerste Kern der Morbidität der Pandemie. Gerade die von außen — und nicht aus meinem Inneren — eingetretene Krise der Pandemie hat wiederum scheinbar rückgewirkt, dass ich auf einigen inneren Baustellen habe aufräumen können, die mit genau diesen Themen zu tun haben.  

Während des vielen Schreibens — und nur ein Bruchteil davon befindet sich auf meinem Frontend, dem Blog — habe ich viel über meinen roten Faden verstanden. Es ist ein wenig wie mit dem Genre des Personal Essays, der in den letzten Jahren in Büchern wie Didier Eribons Rückkehr nach Reims so beliebt geworden ist: der Essay ist wohl tatsächlich das Genre der Krise. Mit Eine Textgattung als Sanitäter hat Deutschlandfunk Kultur einen Beitrag der Sendereihe Essay und Diskurs über das Genre Essay übertitelt und ihn passend in unserer Zeit verortet:

„Der Essay ist ein Krisenphänomen“, das schrieb dort der Literaturwissenschaftler Wolfgang Müller-Funk und meinte damit: In Zeiten des Umbruchs, ja, da liegt das einfach in der Luft. Der suchende, tastende, abwägende Essay, der erkundet gerne unsicheres und neues Terrain mit viel Subjektivität, die vielleicht doch zu allgemeineren Erkenntnissen vordringt. So will es diese Form.

Eine Textgattung als Sanitäter (Deutschlandfunk)

Das noch nie dagewesene, völlig außergewöhnliche Geschehen der sozialen und naturräumlichen Welt während einer Pandemie ist nichts anderes als eine Krise. Diese habe ich versucht, nicht aus den Augen zu verlieren — auch wenn die schiere Masse öffentlich gemachter „Corona-Tagebücher“ zuweilen begann, offensiv langweilig zu werden. Wenn es richtig ist, wie in dem Zitat festgestellt wird, dass es essayistisch möglich ist, über das Persönliche zum Allgemeinen vorzudringen, dann möchte ich mich vorsichtig zum steilen Ergebnis vorwagen, mit einem (zunächst persönlich) erweiterten Weltwissen aus dem letzten Jahr gegangen zu sein. Vielleicht als indirekter „spin-off“ Effekt der Pandemie.

12) Vom Jahreszeitenzyklus zum Stimmungsbild der Zeit

Doch was davon sollte relevant für andere Menschen sein (können)? „Weil es diese Form so will„, will ich zum Ende also noch etwas zum Stimmungsbild „unserer Zeit“ bemerken, womit ich natürlich keinerlei Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebe. Wenn ich „unsere“ Zeit schreibe, meine ich nicht nur mein, sondern unser Sein-in-der-Welt, denn ich bin ja nicht allein hier; unter Welt (und damit unserer Zeit) ist also das zu verstehen, was Hannah Arendt auch eine Welt des Zwischen genannt hat (ich zitiere der Einfachheit halber aus dem ganz hervorragenden Arendt-Handbuch von Heuer/Heiter/Rosenmüller):

Welt als gemeinsame Welt: Welt ermöglicht Gemeinsamkeit. Umgekehrt ist sie nur als gemeinsame Welt denkbar, wenn Arendt „Welt“ als das „Zwischen“ beschreibt, das sowohl verbindet wie trennt (…). Dies meint sie „in dem gleichen Sinne, in dem etwa ein Tisch zwischen denen steht, die um ihn herum sitzen; wie jedes Zwischen verbindet und trennt die Welt diejenigen, denen sie jeweils gemeinsam ist“ (…). Sofern Welt „zwischen uns“ steht, sind wir nicht unmittelbar miteinander verbunden; da wir uns aber gemeinsam auf unsere „gemeinsame Welt“ beziehen, stehen wir in einem über Sprache, Institutionen usw. vermittelten Kontakt zueinander.


Wolfgang Heuer/Bernd Heiter/Stefanie Rosenmüller (Hrsg.)(2011). Arendt Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler, S. 333.

Oft kann einem unsere Welt (oder: Gesellschaft) wie eine zigmillionenfache Ansammlung spleaniger Einzelwesen und Untergruppen vorkommen, die quasi alle in ihren je eigenen, mentalen Ländern und Welten leben und darüber hinaus nicht viel mehr als eine staatlich-administrative Struktur gemein haben: eine Massengesellschaft — und [e]ine „Massengesellschaft“ dagegen sei deshalb so unerträglich, weil hier die Welt diese verbindende und trennende „Kraft verloren hat“ (…). (Ebda.) Hmmm… ob die Welt also ihre verbindende und trennende Kraft verloren hat?

Seit Arendts Tagen sind ja einige Jahrzehnte vergangen. Das Jahr 2020 war auch mit Hinblick auf das Zwischen uns ziemlich bemerkenswert, da nun jede_r Einzelne (unser Massengesellschaft) dazu aufgerufen war, ausgerechnet durch weniger Kontakt mehr für das Gemeinwesen zu tun — und darüber hinaus auch noch global (weil pandemisch) vernetzt zu denken. Ich bin mir unsicher, ob der schwierige Begriff des Zeitgeists zur Beschreibung dieser fast unausweichlichen Kollektiverfahrung der richtige ist: doch es kommt mir so vor, als sei durch die Pandemie so etwas wie der Zeitgeist greifbarer geworden, und zwar über alle einander oft feindselig gegenüberstehenden Lager hinweg (z.B. „Coronaleugnerschaft“ versus „Drostengefolgschaft“). Während normalerweise in der erlebten Zeit eine bestimmte Epoche beim Namen genannt werden kann, die bereits vergangen und dadurch quasi in die Hand nehmbar geworden ist — scheint sich genau dieses in der Gegenwart ereignet zu haben: das Hier und Jetzt wurde über die epidemiologischen Befunde und anti-pandemischen Maßnahmen überstürzt zu einer Art Mini-Epoche, mindestens aber zu einer plötzlichen und gewiss historischen Zäsur, über die fortan immer in ein „vor Corona“ und „seit/nach Corona“ unterschieden werden wird. Deswegen war hinsichtlich der Corona-Zeit auch so oft von einem disruptiven, also wörtlich heraus-reißenden (von lat. disrumpere), Ereignis zu lesen. Hannah Arendts Freund Walter Benjamin hätte wahrscheinlich seine bizarre Freude an unserem disruptiven Moment gehabt und sinngemäß gesagt, die Zeit sei als Fragment aus sich selbst herausgerissen worden.

Aber langsam… Einem jeden Jahresrückblick liegt ein Zyklus zugrunde: dieser beginnt und endet jeweils im Winter. Bietet es sich also nicht vielleicht eher an, sich über den sogenannten Zeitgeist von 2020 ebenfalls zyklische Gedanken zu machen? Und wo schon der Zeitgeist beschworen wird — was war (oder ist) dieser überhaupt, oder wie kann er genauer beschrieben werden? Ich verstehe den Zeitgeist als eine irgendwie hintergründige, aber anwesende Grundstimmung. Doch wie kann eine Beschreibung dieser Grundstimmung zur Möglichkeit beitragen, über unser Sein-in-der-Welt und unsere Welt als unser Zwischen nachzudenken? Das Wort Zeitgeist selbst ist natürlich eine Metapher, also etwas uneigentliches; das passt, weil er sich — sofern es ihn gibt — nicht wie die Temperatur oder der Wind als etwas eigentliches feststellen und messen lässt. Die einzige Möglichkeit, ihn zu erfassen, besteht darin, ihm auf der uneigentlichen Ebene der Sprache nachzustellen, und über die Rück-Übersetzung von Metaphern auf die Ebene der eigentlichen Phänomene — wie zum Beispiel der eigentlichen Coronaviren — zu einer Art Feststellung über die Mentalitäten unserer Zeit zu gelangen.

Um zuerst auf die Frage des Zyklus einzugehen, würde ich nicht direkt aus der Metaphorik der Jahreszeiten als Zyklus von Frühling, Sommer, Herbst und Winter übertragen, der wieder und wiederkehrt. Passender als Ausgangspunkt halte ich eine abgespeckte Variante dieser Metaphorik, nämlich die der zunächst linear gedachten Spanne der individuellen Lebenszeit des kapitalistischen Bildungsromans und der modernen Karriere. Diese linearen Spannen spiegeln sich in unseren millionenfach niedergeschriebenen, verschickten, bewerteten und herunterladbaren Lebensläufen, und haben somit nicht nur mehr mit „real existierenden“ Lebensentwürfen zu tun, sondern auch mit dem verbreiteten Gefühl der allgemeinen, oft genug nihilistischen Todesfurcht, welche so typisch für den ersten Lockdown war: während der Jahreszyklus eine vorhersehbare, einplanbare und regelmäßige Wiederkehr verspricht, sodass der eher unwirtliche Winter als etwas vorübergehendes hinnehmbar und sogar genießbar wird („hyggelig“), war an 2020 gar nichts geplant, geschweige denn gewollt. Selten finden sich in den öffentlichen Meinungen Stimmen, die laut sagen, sie hätten den Lockdown genossen — denn mit Corona schien sich plötzlich und für Viele ganz und gar aus dem Nichts der Tod breitbeinig in den Raum der Öffentlichkeit zu stellen und zu rufen:

Lockdown!

Game over!

#StayTheFuckHome !

Wenn Ihr Pech habt, nehm’ ich Eure Eltern oder Großeltern mit!

Dann seid Ihr dran!

Nun findet der Tod generell keinen Platz im Bildungsroman der Industriemoderne, die noch am Nachhallen ist — und mit einer weit um sich greifenden Entchristianisierung bzw. „De-Monotheisierung“ einher gegangen war. Für post-monotheistische Menschen, die vorzeitig auf die Endlichkeit ihres eigenen Lebens, aber auch auf das nun jederzeit drohende Sterbenkönnen ihrer Anderen blicken müssen, gibt es keinerlei zyklische Gewissheit über irgendwelche Wiederauferstehungen oder gar ein ewiges Leben jenseits von „Staub zu Staub“. Monotheistische, religiöse Menschen, die noch etwas mit traditionellen Transzendenzvorstellungen und Eschatologien anfangen können, die also das unlösbare Kontingenzproblem immerhin einigermaßen für sich klären konnten, mag dies weniger betreffen.

Dabei ist es bemerkenswerterweise unwesentlich, welcher der drei großen, abrahamitischen Religionen sie anhängen: für sie bedeutet der Tod keineswegs das Ende aller Dinge und jeden Seins. Auch in nicht-theistischen Traditionen wie dem Buddhismus sind Sterben und Tod kein Horror — sondern als Zwischenzustand (tibetisch „Bardo“) Teil des Lebens; dies wird im Bardo Thödröl, dem sogenannten „Tibetischen Totenbuch“ ergründet, dessen richtige Übersetzung „Befreiung durch Hören im Zwischenzustand“ lautet. Doch diese Fragen betreffen nicht „nur“ die individuelle, sondern auch die gesamtgesellschaftliche Ebene: deshalb ist es auch üblich, dass sich zum Beispiel HistorikerInnen über die Verwendung ganz ähnlicher Begriffe versuchen, eine Vorstellung von einer bestimmten Epoche zu machen.

13) Natalität, Vitalität — oder Morbidität?  

Egal, mit welchen Glaubensvorstellungen (oder Nicht-Vorstellungen) man der Frage des Lebens (oder Nicht-Lebens) nach dem Tod begegnet: überträgt man die in Deutschland weit verbreitete Vorstellung der linearen Lebensspanne eines Menschen von der Geburt (bzw. Empfängnis) über die Vita Activa bis zum Tod auf das (vorgestellte) Stimmungsbild der Zeit, so könnte man dieses Bild wie ein großes Triptychon in drei Aspekte gliedern: der erste Flügel zeigte das Geborensein oder die Natalität: unsere Kindheit; im Mittelteil wäre die Lebensblüte oder Vitalität abgebildet: unsere Berufstätigkeit; und drittens, in der Jetzt-Zeit, ginge es um das Lebensende, wo eine Stimmung der Morbidität vorherrschte: Rente, Ende des Systems und Tod.

Natalität oder Geborensein könnte die typische Stimmung für eine Gesellschaft im Aufbruch sein. Deshalb wird auch oft Geburts- und Wiedergeburtsmetaphorik verwendet, wenn Texte verfasst werden, in denen sich Nationen oder andere Gemeinschaften angeblich selbst wahrnehmen — was sie natürlich nie tun, denn immer gibt es eine Autorschaft eines Textes, von dem später behauptet werden kann, er drücke eine Art „Volksgeist“, Zeitgeist oder volonté générale aus. Dementsprechend tragen zahlreiche Bücher so metaphorische — und genauer betrachtet: pathetische und vermarktbare — Titel wie „The Birth of Modern Turkey“ (Handan Nezir-Akmese), „Bulgarische Wiedergeburt“ (Nikolaj Gentschew), „Die Geburt der modernen Welt“ (Christopher A. Bayly) und dergleichen mehr. Natalität, Geborensein und Aufbruch scheinen mir das genaue Gegenteil vom gegenwärtigen Zeitgeist zu sein.

Lebensblüte oder Vitalität dagegen würde ich für eine angebrachte, nun aber hoffnungslos verbrauchte Metapher halten, um die Zeit zu beschreiben, die der Pandemie direkt voraus gegangen war: eine Zeit der Prosperität, der „Fresswellen“ und des Wirtschaftswachstums, in der es um ständige Aktivität, Unterwegssein, Wachstum, Betriebssamkeit und erfolgreiche Karrieren ging — auch wenn der Lack im Prinzip schon längst ab war, um es nicht weniger metaphorisch zu ergänzen.

Bild von der Fresswelle zur Mitte des letzten Jahrhunderts. Attribution: Deutsche Fotothek‎, CC BY-SA 3.0 DE https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en, via Wikimedia Commons

Dass es so wie bisher ohnehin nicht wird weitergehen können, unterstrichen sowohl die Schrillheit der sogenannten „Klimaleugnerinnen“, als auch die aufsehenerregende Tatsache, dass der Zeitgeist zuletzt massenhaft Kinder und Jugendliche auf die Straßen trieb, denen längst instinktiv klar war, dass die fetten Jahre vorbei sind.

Bild von einer #FridaysForFuture Demonstration in Berlin Mitte, Herbst 2019. Quelle: Thomas Schad

Nachdem das alte und verbrauchte „Normalnarrativ“ ewiger Vitalität, ständigen Wachstums und Prosperität zuletzt in den „Roaring Nineties“ (Joseph E. Stiglitz) noch einmal verheerende Hochkonjunktur hatte, ist diese Erzählung heute längst ein Fall für den Schrotthaufen. Die neuen Erzählungen werden Themen wie die australischen Waldbrände von nie dagewesenen Ausmaßen, amerikanische, türkische, ungarische und unzählige andere Trash-Regierungen, die immer wieder aufs Neue ertrinkenden Hundertschaften im Mittelmeer, die sich ausweitenden, sogenannten inhabitablen (unbewohnbaren) Zonen, die Hitze- und Dürreperioden bis hinauf nach Skandinavien und Sibirien verhandeln müssen, um glaubwürdig zu sein. Vielleicht sehen also Bilder unserer Zeit eher so aus wie die folgenden drei Schnappschüsse aus Berlin (2019): 

Nein: Vitalität ist nicht die vorherrschende Stimmung — eher ist es Morbidität. Ihr wisst/Sie wissen schon, was damit gemeint ist: jene Stimmung, die Anfang 2020 von den Fernsehbildern aus Oberitalien ausging, wo Militärfahrzeuge eingesetzt werden mussten, um die vielen Leichen abzutransportieren. Um nun also erneut von der sprachlichen Metaphorik zu konkreten Bildern zu gelangen, könnte man versucht sein, in den Memento Mori- und Vanitasbildern des Mittelalters, der Frühen (Europäischen) Neuzeit und des Barock nach Parallelen zu suchen: in ihnen geht es schließlich explizit um Morbidität. Doch es gibt sowohl Gemeinsamkeiten, als auch sehr große Unterschiede zwischen unserer Zäsur und den alten Gemälden, die über eine gewisse Aussagekraft über den damaligen Zeitgeist verfügen — wenn man sie, wie gesagt, mit der eben zurückliegenden Periode der Jetztzeit vergleichen möchte: im Normalnarrativ des ständigen Wachstums und der ständigen Prosperität, welcher der kapitalistischen Ideologie inhärent ist, kommt keine Aufforderung vor, sich ein Lebtag mit der eigenen Sterblichkeit zu beschäftigen. Worte wie Sterblichkeit und „Übersterblichkeit“ haben erst seit Corona Hochkonjunktur, behandeln aber das Thema nur als statistischen Faktor.

Attribution: Philippe de Champaigne, Public domain, via Wikimedia Commons

Das heißt natürlich nicht, dass die Alten keine Angst vor dem Sterben hatten. Auf den alten Bildern, besonders des Barock, kommen zum Beispiel keine Leerstellen vor: keine weißen, nicht am Gemälde beteiligten Flecken, was in der Kunstgeschichte als horror vacui — als Angst vor der Leere — bezeichnet wird. Zwar blenden die Kunstwerke des Barock den Tod ständig ein, doch gleichzeitig lassen sie nicht zu, dass die Frage des Jenseitigen unbeantwortet bleibt oder gar in Zweifel gezogen wird: das Christentum sitzt in jener Zeit scheinbar relativ fest im Sattel. Gleichzeitig war die Frühmoderne (in die der Barock fällt) die Zeit der Hexenverfolgungen war, also systematischer Frauen- und Außenseiterverfolgungen, was von einer tiefen, einsetzenden Verunsicherung über die endgültigen Gewissheiten des Glaubenssystems zeugt. Der Tod bedeutet in den alten Glaubenssystemen jedenfalls keineswegs Leere, sondern Übergang. Die naturwissenschaftlichen Revolutionen stellten all das offenbar dermaßen abhorrend in Frage, dass fanatische und fundamentalistische Regressionen einsetzten. Daran sollten wir uns heute erinnern.

14) Die Welt ist ein Fenster

Ein Vanitasbild des niederländischen Malers Joos van Cleve trägt den Titel Der heilige Hieronymus im Gehäus (ca. 1520-25): es zeigt den alten Hieronymus, wie er mit einem ehrlich verzweifelten Blick über seinen christlichen Büchern hängt, umgeben von Gegenständen der Wissenschaft und des Glaubens. Im Hintergrund, an der Wand zwischen den zwei Fenstern, hängt ein verzierter Rahmen mit der Aufforderung Cogita mori: „Bedenke dein Sterben“. Dem entsprechen die Symbole der Sanduhr, der erlöschenden Kerze, des Totenschädels und des Glasgefäßes, das gefährlich nahe an der Kante des Fensterbretts steht und jederzeit droht, herunterzufallen und zu zerbersten, woraufhin sich die Flüssigkeit (das rationierte Leben) verlaufen würde. Das Fenster im Rücken des alten Hieronymus zeigt die Welt, aber scheint gleichzeitig die Geschichte des Christentums anzudeuten: es sind sowohl europäische Stadthäuser, als auch Ruinen, antik wirkende Bögen, für Mitteleuropa exotische Dromedare aus dem Mittleren Osten sowie Turban tragende Männer abgebildet. 

Attribution: Follower of Joos van Cleve, Public domain, via Wikimedia Commons

Das Leben als Fenster: das erinnert an den Titel und Liedtext Bu Dünya Bir Pencere (Diese Welt ist ein Fenster) des türkischen Sängers Emin İgüs:

Dereler akar gider
Taşları yıkar gider (ey güzel)
Bu dünya bir pencere
Her gelen bakar gider (ey güzel)
Bäche fließen und vergehen
waschen Steine, ihre Steine vergehen (Hey Schöne_r)
Diese Welt ist ein Fenster
Alle die kommen schauen und gehen (Hey Schöne_r)
Dere akar bulanık
Köpüğünden alalık (ey güzel)
Ha bu ışıklı dünya
Oldu bize karanlık (ey güzel)
Der Bach fließt trübe
Schäumt vor Schlamm (Hey Schöne_r)
Ha diese strahlende Welt
Wurde uns (zur) Finsternis (Hey Schöne_r)
Gidelim değirmene
Öğütelim unları (ey güzel)
Güneşe çevirelim
Bu karanlık günleri (ey güzel)
Lass uns zur Mühle gehen
Mehl lass uns mahlen (Hey Schöne_r)
Zur Sonne lass uns wenden
Diese finstren Tage (Hey Schöne_r)

15) Der Zeit mehr Leben hinzufügen — and I call it a year

Ich erwähnte im Prolog, dass ich diese Betrachtungen zum Jahr 2020 vielleicht nicht unbedingt tröstlich fände — aber erbaulich, und dass letzteres mehr (Wert) sei als ersteres. Verständlicherweise wird es schwer möglich sein, die genannte „Beschissenheit der Dinge“, welche gewissen Dingen innewohnt, schön zu reden und dadurch Trost zu finden. Doch was soll an all dem jetzt eigentlich erbaulich sein, nachdem ich dem Zeitgeist nun eine generelle Morbidität attestiert habe? Nun, ich finde es immerhin erbaulich, dass Zeiten wie diese zu eigen ist, dass sich die Perspektive ändern kann, dass sich neue und verschiedene Perspektiven bilden können, zum Beispiel auf unser einfach hingenommenes, aber völlig zu hinterfragendes Weltbild des linearen Bildungsromans voller erfolgreicher Karrieren, die am Ende drohen, in Nihilismus abzustürzen. Und verschiedene Perspektiven sind, zumindest laut Hannah Arendt, nötig, um Welt entstehen zu lassen:

„Welt“ stellt sich überhaupt nur durch die Verschiedenartigkeit der Perspektiven auf sie her. „Nur wo Dinge, (…) von Vielen in einer Vielfalt von Perspektiven erblickt werden“ gibt es „weltliche Wirklichkeit“ (…). Und umgekehrt: „Eine gemeinsame Welt verschwindet, wenn sie nur noch unter einem Aspekt gesehen wird; sie existiert überhaupt nur in der Vielfalt ihrer Perspektiven“(…).

Arendt Handbuch, S. 333.

Dies dürfte ganz besonders für eine Welt in Metamorphose (Ulrich Beck) gelten, wo das Leben im Kokon vielleicht noch nicht so recht weiß, was es ist und was es wird. Passenderweise habe ich beim Fertigstellen dieses Textes eine Art zweites Weihnachtspaket mit Postkarte von meiner Tante erhalten, der dieser Epilog auch gewidmet ist. Wie der Text der Postkarte feststellt, sind Perspektiven veränderbar. Wer zum Beispiel gerade noch in der Fresswelle feststeckt, muss das nicht bleiben:

Und ganz zum Schluss möchte ich meiner in der Einleitung erwähnten Freundin noch einen Vers aus dem Buch einer anderen, bereits verstorbenen Freundin anfügen — da sie vom Gefühl geplagt wird, man habe ihr in diesem zwielichtigen Jahr des Zwischenzustands Zeit weggenommen:

Man kann seinem Leben nicht mehr Zeit hinzufügen, aber seiner Zeit mehr Leben.


Autorin: Melanie Götz. Zitiert nach der früh verstorbenen Weggefährtin und Mit-Freiwilligen Meike Schneider (Dies., 2006: Ich will mein Leben tanzen. Tagebuch einer Theologiestudentin, die den Kampf gegen Krebs verloren hat. Mit einem Vorwort von José Carreras. Medienverband der Evangelischen Kirche im Rheinland gGmbH: Düsseldorf, S. 124.

And now, I call it a year.

Eine Antwort auf „[Rückblick 2020] Alle Beiträge (I-VI) des Jahresrückblicks

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