Neo-Populismus

Neo-Populismus ist ein Begriff, unter dem ich zeitgenössische Formen des grenzübergreifenden Populismus beobachte. Doch was soll eigentlich so neu am Neo-Populismus sein? Immerhin ließ sich Populismus, wenn auch der Begriff nicht verwendet wurde, schon in der Antike beobachten. Ganz besonders bekannt sind Populismus-Bewegungen aus dem 20. Jahrhundert, als zahlreiche ungefestigte oder instabile Demokratien durch plebiszitäre Mobilisierung aus der Fassung gerieten. Populisten agitieren stets im Namen des einfachen, angeblich unverdorbenen, hintergangenen Volkes — das im Gegensatz zu einer dekadenten Elite konstruiert wird. Das ist bis heute so geblieben. Doch im Gegensatz zum „klassischen“ Populismus ist der Neo-Populismus ein grenzüberschreitendes Phänomen, das mehr als eine nationale Öffentlichkeit anspricht: es ist gar nicht mehr ohne weiteres klar durch nationale Grenzen eingefasst, wer und wie viele eigentlich das Volk sind. Um zu einem tieferen Verständnis des (Neo-)Populismus der Gegenwart zu gelangen und schließlich Alternativen und Lösungsmöglichkeiten zu erarbeiten, beobachte, sammle und verarbeite ich in diesem Teil der Inkubators Metamorφ unter sechs Kategorien Material aus (Südost-)Europa, der Türkei und weltweit. Ein Teil dieses Materials habe ich in den Projekten Histoire pour la liberté und Illiberal City Diplomacy bereits weiter verarbeitet.

NEOPOP

Alle Formen des Populismus nehmen Bezug auf das Volk, die Stimme des Volkes, die einfachen Leute und den angeblichen Willen des Volkes. In der nationalstaatlichen Epoche wurde (wird) das Volk dabei im Singular vorgestellt: als das Selbst der Nation. Wie die populistische Strömung des Nativismus, der nicht bewältigte Rassismus in all seinen Spielarten sowie gruppenspezifische Feindlichkeiten zeigen, ist diese Tendenz keineswegs irrelevant geworden. Andererseits sind zu altbekannten Dynamiken national argumentierender Populisten (z.B. Rassemblement National in Frankreich) neue, grenzübergreifende Kulturdiplomatien mit ebenso neuen Populismus-Strömungen hinzugekommen: Diese sprechen mehr als ein nationales Volk an: ihre Sendung ist zwar populistisch, aber gleichzeitig global.

Bildquelle: Pixabay.

VerstehDieWeltNichtMehr

Politische Organisation

Die substanziellen Veränderungen des Populismus geschehen nicht abgeschlossen für sich — etwa auf einer abstrakten Ebene der Ideen und Ideologiebildung: sie sind durch die Veränderungen der (naturräumlichen) Welt, der medialen und technologischen Möglichkeiten, sie zu betrachten, und durch sich abzeichnende, globale (kosmopolitische) Herausforderungen wie Ressourcenkämpfe, Migrationsdruck und das Schwinden alter Gewissheiten informiert. Deshalb werden hier Beobachtungen zum Globalisierungs- und Kosmopolitisierungsprozess gesammelt — mit einem Schwerpunkt auf globalen Verflechtungen populistischer Strömungen.

Abbildung: Graffito in Berlin-Neukölln, Corona-März 2020. Bildquelle: eigene Aufnahme.

Public Opinion

Öffentliche Meinungen (Public Opinions), Öffentliche Diplomatie (Public Diplomacy) bzw. Kulturdiplomatie (Cultural Diplomacy) sowie die linguistischen Interpretationsmethoden der Tropen- und Metaphernanalyse haben sich zu einem meiner Forschungsschwerpunkte entwickelt. Unter diesen Unterkategorien sammle ich Beiträge vor allem zur gezielten Herstellung öffentlicher Meinungen, zum Beispiel mittels Propaganda- und Desinformationskampagnen in den Online Social Networks, in populärkulturellen Produktionen und in öffentlichen Sprechakten.

Abbildung: Pixabay

Geschichte & Revisionismus

Geschichte ist auf mehreren Ebenen wichtig für das Verständnis des Populismus: zum einen ist das Studium geschichtlicher Populismusbewegungen aufschlussreich, und zum anderen wird Geschichte als Repertoire von PopulistInnen dienlich gemacht. Unter den Kategorien Geschichte und Revisionismus finden sich Beiträge, die zeigen, was konkret in der Praxis unter Hinwendung zu Vergangenheitsimaginationen zu verstehen ist (oder war). Hier geht es mir nicht nur darum, Phänomene der Geschichtsinstrumentalisierung oberflächlich zu dokumentieren, sondern zwischen den Zeilen zu lesen und zu verstehen, für welche „eigentlichen“ Veränderungen und Krisen das „uneigentliche“ Beschwören der Vergangenheit eine Stellvertreterfunktion einnimmt. Es geht mir hier nicht „nur“ um die Aufklärung darüber, wie die Geschichte „wirklich war“, sondern welche Wirklichkeit mit Hilfe einer bestimmten Geschichte hergestellt werden soll.

Abildung: Ein Propagandaplakat der AKP in Istanbul aus dem Februar 2016. Hier wird der türkische Führer mit dem osmanischen Eroberersultan Mehmet II. in Beziehung gesetzt. Bildquelle: eigene Aufnahme.

Glaube & Emotion

Auffällig am zeitgenössischen und historischen Populismus ist der starke Gebrauch religiöser Themen, Symbolik, Bildersprache und die religiöse und mythologische Untermauerung gesellschaftlicher Wert- und Ordnungsvorstellungen. Besonders stark kommen religiöse Tropen zur Anwendung, wenn das Geschlechterverhältnis in einem neokonservativen Sinn „bewahrt“ werden soll, aber auch, um die „aus den Fugen geratene“ Welt in eine generelle und zuverlässige Binarität zu setzen: Religion wird dann nicht als spiritueller Pfad mobilisiert, um Transzendenzfragen zu beantworten, sondern zu identitären Zwecken, um zwischen Selbst und Anderen zu unterscheiden. Eng verbunden mit Glaubenssystemen ist der Gebrauch von Emotionen und Affekten, die ebenfalls in diesem Teil des Inkubators gesammelt und beobachtet werden.

Abbildung: Auf dem Times Square in New York City (2015) unterhalten sich Spiderman und ein Christ. Bildquelle: eigene Aufnahme.

Sprache & Diskurs

Mit kognitiv-linguistischen Theorien des Verstehens und der Metaphorik kann gezeigt werden, dass sich PopulistInnen nicht nur zum Erhalt der eigenen Macht der Vergangenheit und den relativ robusten Gewissheiten von Glaubenssystemen hinwenden: sie bäumen sich damit auch gegen das Nichtverstehen (-können) der Welt auf, was auch ihre relativ hohen Zustimmungswerte in oft gezielt hergestellten öffentlichen Meinungen zu erklären hilft. Unter Tropik ist auch die Logik der Binarität zu verstehen, welche dem „Hin- und Herrennen“ (running to and fro) der öffentlichen Meinungen zueigen ist.

Abbildung: Der heilige Hieronymus im Gehäus (ca. 1520-25). Bildquelle/Attribution: Follower of Joos van Cleve, Public domain, via Wikimedia Commons.

Website bereitgestellt von WordPress.com.

Nach oben ↑