[Heine-Projekt] 1-3 Einleitung: eine Metaphernanalyse

Für Sare, die weiß, weshalb.

Vorbemerkung (eingefügt am 28.7.2020): ich nehme hin und wieder einige kleinere Veränderungen in diesem Text vor, weil hier nur Teil 1, 2 und 3 von insgesamt 9 Kapiteln zu lesen sind. Beim Schreiben der restlichen Kapitel ändert sich immer wieder etwas, weil der Text ursprünglich sehr viel kürzer war und quasi „über sich hinaus wächst“, so dass sich plötzlich in einem späteren Kapitel Inhalte finden, die besser in der Einleitung aufgehoben wären etc. Nach Fertigstellung des Gesamttextes werde ich noch einen gesonderten Beitrag schreiben, in dem ich alle Teile zu einem Gesamttext zusammenfüge.

Doch wie kann man das im Text [Zur Disputation] formulierte, auf den ersten Blick vielleicht etwas ambitioniert erscheinen wollende Postulat, die Geschichte gegen den Strich zu bürsten, einlösen? Wie kann man sich die Fragmentierung von Geschichte, wie etwa von Walter Benjamin vorgeschlagen, am konkreten Beispiel vorstellen?1 Ich will dies im Folgenden anhand der zweiten von mir verteidigten These veranschaulichen. Dort habe ich argumentiert, dass Heine eine Außenseiterfigur des deutschen Literaturbetriebs der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war, was über die Fragmentierung der von ihm verwendeten Waldmetaphern (und weiterer Vegetationsmetaphern) ermittelt werden kann. Die Art, wie er diese Metaphern verwendet, und welche teils offenen, teils subtilen Botschaften sie transportieren, unterscheiden Heine stark von anderen Schriftstellern und Künstlern seiner Zeit — und zwar ganz besonders von den Romantikern. Ob Maler, ob Dichter, die deutschen Romantiker machten zwar ebenfalls Gebrauch von Wald- und Naturmetaphern; sie taten dies jedoch in einem anderen Sinn als Heinrich Heine.2

In diesem Argument steckt aber zugleich eine weitere, gewissermaßen verdeckte These: nämlich die, dass über die Analyse metaphorischer Sprache Aussagen über eine historische Wirklichkeit getroffen werden können, welche im geschichtlichen Dunkel des selbst nie mehr nacherleben Könnens liegt. Gerade unter Historikerinnen — und in dieser Disziplin habe ich schließlich verteidigt — mag eine solche These natürlich erst einmal Stirnrunzeln hervorrufen. Dies umso mehr, als Heines Texte nicht in die Kategorie historiographischer Texte fallen — was jedoch wiederum nicht bedeutet, dass sie keine historischen Zeitzeugen wären. Außerdem, wie noch genauer zu sehen sein wird, ist die hier gewählte Textquelle kein fiktiver Text.

Deshalb sind für diese Herangehensweise im zweiten Teil meiner Ausführungen (2)Zur Metaphernanalyse) weitere Erläuterungen zum Thema Metaphern- bzw. Tropenanalyse nützlich: was kann über die Methode der Metaphernanalyse ermittelt werden? Welche Texte eignen sich dafür, und inwiefern hat diese Methode überhaupt außerhalb der Literaturwissenschaft — hier in der Geschichtswissenschaft — ihre Berechtigung? Und was ist unter Vegetationsmetaphern zu verstehen (3) Vegetationsmetaphern)? Im vierten Teil (4) Biographisches) müssen einige Schlaglichter auf die wichtigsten und in der Sekundärliteratur ausführlicher als hier beschriebenen, biographischen Informationen zu Heinrich Heine und zur Ereignisgeschichte seiner Zeit geworfen werden, wodurch auch verständlicher wird, weshalb Heine oft polemisch und satirisch schrieb (5) Heine, der Polemiker und Satiriker): ohne diese Informationen können die besonders in den anschließenden zwei Kapiteln (6) Religion und Mittelalter sowie 7) Zwischen Frankreich und Deutschland) präsentierten Metaphern nämlich nicht sinnvoll verstanden werden.

Durch diese Triangulierung unterschiedlicher Quellen wäre bereits eine offensichtliche Brücke in andere Teilfelder der Geschichtswissenschaft geschlagen. Ich entnehme die beschriebenen Metaphern hauptsächlich dem in Paris geschriebenen Text Die Romantische Schule, obwohl Heine freilich auch in anderen, zum Beispiel lyrischen Texten wie der Waldeinsamkeit seines Zyklus Romanzero Vegetationsmetaphern verwendet hat.3 Da es sich aber bei der Romantischen Schule um einen — wenn auch polemisch-satirischen — Prosatext handelt, der sich durchweg auf nicht-fiktive historische Personen, Ereignisse und die Romantik bezieht, bietet sich dieser Text ganz besonders an: er ist zwar kein historiographischer Text, aber als prosaische Literaturkritik eine historische Quelle, in der reale historische Personen und ihre Werke kritisiert werden: darunter Goethe und Schiller, Friedrich und August Schlegel, Ludwig Tieck, Novalis, Schelling, Achim von Arnim und Ludwig Uhland (u.v.a.m.).4

Bei der Romantischen Schule aus dem Jahr 1835 handelt es sich um eine überarbeitete Version ursprünglich auf Französisch erschiener Texte, welche der Autor unter dem Titel Zur Geschichte der neueren schönen Literatur in Deutschland bereits in Deutschland hatte veröffentlichen wollen. Darin tauchen immer wieder drei große Themen Heinrich Heines auf, die er von seiner Außenseiterposition aus betrachtet: erstens, sein oft polemisch-satirisch formuliertes Verhältnis zu den deutschen Romantikern und deren permanenter Rückgriff auf das Mittelalter (Kapitel 5). Das Thema Mittelalter hängt zweitens eng mit dem Thema der Religion zusammen: in diesem Zusammenhang übt Heine Kritik an der Rückbesinnung der Romantiker auf ein mittelalterlich und katholisch eingefärbtes Religionsverständnis (Kapitel 6). Drittens schließlich schreibt Heine die Romantische Schule in Frankreich, und zwar gerichtet an sowohl Franzosen als auch Deutsche, weshalb seinr Rolle als Kulturmittler gesondert Beachtung finden muss (Kapitel 7).

Ganz zum Schluss will ich noch einmal Möglichkeiten und Grenzen aufzeigen, in welcher Weise die bei Heine fragmentierten Tropen und Themen wie Wald, deutscher Wald, aber auch korrelierende Themen wie Heimat und Zugehörigkeit aus heutiger Sicht in aktuellen Debatten von Nutzen sein können, und an welcher Stelle andererseits Vorsicht und Achtsamkeit geboten ist, scheinbar identische Tropen (Wald, Heimat etc.) durch ihre je spezifischen, historischen Kontexte nicht vorschnell in ein und dieselbe Sinnschublade zu stecken. Dieser letzte Teil ist jedoch eher als ein offenes Ende geschrieben, an dem weiter gedacht werden kann: über die generelle Nützlichkeit der Metaphernanalyse, sowie über die Kontextgebundenheit aller Verstehens- und Übersetzungsprozesse metaphorischer Sprache.5

2) Zur Metaphernanalyse

Die Metapher als Über-Tragung, nämlich als das meta-phorein von der eigentlichen Ebene der Wirklichkeit auf die uneigentliche Ebene der abstrakten Sprache — im Lateinischen entspricht ihr das trans-ferre der trans-latio, im Deutschen das Über-tragen der Übersetzung — gilt insgesamt als Ausdruck des Uneigentlichen, Unpräzisen und Unsachlichen. In einem positivistischen Sinn steht die Verwendung von Metaphern deswegen der Vorstellung von Faktizität entgegen. Da Metaphern zudem häufig als Stereotypen auftreten6, gelten sie in einem verbreiteten Verständnis davon, was Fakten zu sein haben (und was sie nicht sein können oder dürfen) nicht als empirische Einheiten. Dies ist natürlich gerade in Zeiten, da sogenannte alternative facts und Desinformation eine immer breitenwirksamere Rolle in der Konstruktion von Wirklichkeit und sogenannter Pseudo-Umwelten spielen, ein berechtigter Einwand.7

Dennoch kommt Metaphern eine nicht zu leugnende Funktion in jedem Bereich von Sprache zu. Die Linguisten George Lakoff und Mark Johnson betonen in ihrem Werk Metaphors We Live By (Dt.: Leben in Metaphern)8 die schiere Bedeutung von Metaphern und anderer Tropen folgendermaßen:

Die Metapher ist für die meisten Menschen ein Mittel der poetischen Imagination und der rhetorischen Geste – also dem Bereich der außergewöhnlichen und nicht der gewöhnlichen Sprache zuzuordnen. Überdies ist es typisch, dass die Metapher für ein rein sprachliches Phänomen gehalten wird – also eine Frage der Worte und nicht des Denkens oder Handelns ist. Aus diesem Grunde glauben die meisten Menschen, sehr gut ohne Metaphern auskommen zu können. Wir haben dagegen festgestellt, dass die Metapher unser Alltagsleben durchdringt, und zwar nicht nur unsere Sprache, sondern auch unser Denken und Handeln. Unser alltägliches Konzeptsystem, nach dem wir sowohl denken als auch handeln, ist im Kern und grundsätzlich metaphorisch. […] Unsere Konzepte strukturieren das, was wir wahrnehmen, wie wir uns in der Welt bewegen und wie wir uns auf andere Menschen beziehen. Folglich spielt unser Konzeptsystem bei der Definition unserer Alltagsrealitäten eine zentrale Rolle. Wenn, wie wir annehmen, unser Konzeptsystem zum größten Teil metaphorisch angelegt ist, dann ist unsere Art zu denken, unser Erleben und unser Alltagshandeln weitgehend eine Sache der Metapher.9

Wenn unser Leben in Metaphern jedoch bedeutet, wie von Lakoff und Johnson betont, dass sich in Metaphern unser Konzeptsystem, unser Denken und Handeln wiederspiegeln, dann stellen Metaphern in ihrem jeweiligen Kontext eine äußerst wichtige Quelle des Verstehens eines Autors (hier Heinrich Heines), seiner Umwelt und seiner Zeit dar.

Das Rück-Setzen von Metaphern — das Übersetzen und Verstehen — ist alles andere als unkompliziert, und zwar wegen der Kontextgebundenheit der Entstehung und Verwendung der jeweiligen Metapher: es gibt keineswegs eine feste, bestimmte Art und Weise, wie Vegetationsmetaphern wie „deutsches Veilchen“ oder „hundertjährige Eiche“ verstanden werden können. Was also ist Verstehen? Ronald Hitzler definiert Verstehen als „jenen Vorgang […], der einer Erfahrung Sinn verleiht.“10 — wobei dieser Sinn immer ein subjektiver Sinn ist. Das heißt: eine Kommunikantin, die ein einem gegenwärtigen, deutschen Kontext versteht und Sinn herstellt, versteht notwendigerweise anders, als eine Leserin Heines in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Kruse/Biesel/Schmieder stellen zu diesem Problem fest:

Hierbei muss aber betont werden, dass dieser ‚subjektiv gemeinte Sinn‘ nie rein idiosynkratischer Art ist, da jeder Mensch ja einer Wirklichkeit gegenübertritt, der er und vor allem auch andere Menschen zuvor schon Sinn verliehen haben, wodurch sie sozial konstruiert geworden ist. Der Prozess des Verstehens, d. h. der Bedeutungsverleihung zur Herstellung subjektiv gemeinten Sinns, impliziert somit zahlreiche vorangegangene Verstehensleistungen, die gerade auch durch andere vollzogen worden sind. Die Zuschreibung von Sinn bezieht sich dann auf eine soziale Wirklichkeit, also auf eine bereits durch andere mit Sinn versehene Wirklichkeit. Soziale Wirklichkeit stellt somit im Grunde genommen ein Gebilde aus geronnenem kommunikativen Sinn dar. Bereits Alfred Schütz (1974) hat darauf hingewiesen, dass damit Verstehen stets ein Fremdverstehen darstellt.11

Unter Fremdverstehen ist hier nicht das Verstehen und Übersetzen aus einer Fremdsprache zu verstehen, obwohl dieser Prozess natürlich ebenso Fremdverstehen bedeutet; und auch über Sprachgrenzen hinweg findet der Austausch von Metaphern (vor allem ikonischer/graphischer Metaphern) statt, was den Prozess des Verstehens und Übersetzens noch weiter verkompliziert.12

Im vorliegenden Fall bedeutet Fremdverstehen im Grunde genommen aber zunächst, dass in jedem Verstehensprozess immer die Möglichkeit des Nichtverstehens oder zumindest Andersverstehens erhalten bleibt: durch den Versuch der Rezipientin, die von der Senderin verwendete Metapher ihrem eigenen Sinnsystem anzugleichen, wird aus dem (metaphorisch) Gesagten und von der Senderin in einem bestimmten Sinn Gemeinten oder verstanden wissen Gewollten etwas Anderes – außer, was durchaus häufig vorkommt, die Senderin beabsichtigt Vieldeutigkeit. Die Rezipientin wird im Prozess des Verstehens in jedem Fall nie genau dasselbe System zur Verleihung von Sinn verwenden wie die Senderin, da beide mit unterschiedlichem Weltwissen ausgestattet sind, dem sie das Unbekannte anzugleichen versuchen. Exaktheit gibt es in diesem Sinne nicht, wie Kruse/Biesel/Schmieder folgern:

Wenn also Verstehen immer ein Fremdverstehen von bereits (durch andere) Verstandenem ist, wie kann man sich dann sicher sein, dass das Fremdverstandene so verstanden wurde, wie es zuvor bereits verstanden wurde? Einfacher ausgedrückt: Wie können wir uns sicher sein, dass unsere Sinnzuschreibung von etwas zu Verstehendem mit der Sinnzuschreibung identisch ist, die durch andere bereits vollzogen worden ist? In dieser Hinsicht gibt es schließlich keine Sicherheit; Fremdverstehen ist im erkenntnistheoretischen Sinne im Prinzip gar nicht möglich (vgl. hierzu auch Kurt 2009)!13

Metaphern und andere Tropen sind auch in historiographischen Texten verbreitet. In Metahistory hat Hayden White historiographische Texte (z.B. von Ranke, Michelet, Burckhardt und Tocqueville) wie literarische Texte behandelt, analysiert und dabei ihre Dramatik und Tropen wie Metaphern, Metonymien, Synekdochen und Ironie herausgearbeitet.14 Hayden White hat sich in seinen Essays zum Thema Historiographie, Sprache und Wirklichkeit (ebenso wie bereits lange vor ihm Wilhelm von Humboldt) mit dem wesentlichen und unausräumbaren Hindernis beschäftigt, mit dem sich alle Historiographen auseinanderzusetzen haben: nämlich mit dem epistemologischen Problem, über nie selbst Erlebtes und auch durch niemanden sonst mehr Erlebbares schreiben zu müssen, dabei jedoch Sinn herzustellen. Das heißt aber nicht, dass Historiographie überflüssig oder nicht ernst zu nehmen sei — sondern nur, dass ihre Aufgabe eine andere sei, als zu einer letzverbindlichen Wahrheit über Ereignisse zu führen, die nicht mehr „wahrheitsgemäß“ nachvollziehbar sind:

All of this means that, as a component of what Reinhart Koselleck calls a community’s „space of experience,“ its „archive“ of practical knowledge, historical knowledge is pretty weak. We have long since given up „learning from history“(cf. Gumbrecht) because the knowledge with which history provides us is so situation-specific as to be irrelevant to later times and places. This does not mean that historical knowledge is of no use at all; on the contrary, it has a vital function in the construction of community identity.15

In jedem Fall also müssen zwei Dinge für das Verstehen eines historischen Sinnzusammenhangs bedacht werden: erstens, die nicht aus der Welt zu schaffende Möglichkeit des nicht genau wissen Könnens, und zweitens, das Bemühen um Verstehen, welches dem Verstehen (bzw. dem Meinen) des ursprünglichen Sinnzusammenhangs — in diesem Fall Heinrich Heines — möglichst nahe kommt. Man mag die Unmöglichkeit echten Fremdverstehens bedauerlich finden oder unter Berufung auf „objektive“ Fakten und Dokumente sogar zurückweisen; ich plädiere jedoch für größtmögliche Sorgfalt beim Versuch, gesicherte geschichtliche Ereignisse, wie zum Beispiel die dokumentierten Geschehnisse seit der Juli-Revolution von 1830 und des gesamten als Vormärz bezeichneten Zeitraums mit den literarischen Quellen aus Heines Feder zu triangulieren und zu vervollständigen.16

Ein weiterer Grund für die Relevanz von Metaphern und ihre Mehrdeutigkeiten kommt jedoch außerdem hinzu: Metapherngebrauch stellt besonders in Zeiten der Zensur, welche ein wesentliches Charakteristikum des Vormärz in Deutschland war, eine Möglichkeit für Autoren dar, „zwischen den Zeilen“ zu schreiben und Sinnzusammenhänge zu transportieren, die sogar absichtlich nicht kernprägnant dargestellt sind. Diese Eigenschaft von Zeit und Zeitgeist könnte wiederum untergehen, wenn man sich bei einer Betrachtung Heines oder auch anderer Texte auf ausschließlich angeblich „sachliche“ Fakten oder nur die Ebene der Ereignisgeschichte beschränkte.

3) Vegetationsmetaphern

Tropen wie Metaphern, die in historiographischen und literarischen Texten vorkommen, sind in einer sehr großen Bandbreite vorstellbar, von der nur einige wenige exemplarisch genannt seien. So werden in Buchtiteln häufig Geburtsmetaphern verwendet, wie zum Beispiel in Gestalt der „Geburt der modernen Türkei17 — aber auch immer dann, wenn von einer Nation die Rede ist, wenngleich in letzterem Fall die Bedeutung ‚Geburt‘ (natio) der Nation lexikalisiert und gar nicht mehr als solche erkennbar sein muss.

Eng mit den Geburtsmetaphern korrelieren Familienmetaphern, wie etwa im Buchtitel „Mrs. Atatürk“ (Dt.: Frau Vatertürke)18 oder auch in der verbreiteten Rede von der „europäischen Familie“ oder dem „gemeinsamen Haus Europa.19 Ländernamen oder Kontinente sind im weiteren Kontext nicht nur Metaphern, sondern auch Metonymien und Synekdochen, wenn zum Beispiel in älteren europäischen Monographien vom „Fortgang der Türkei [aus Europa]“ oder vom „Kranken Mann vom Bosporus“ die Rede ist.

Ein besonders eindrückliches Beispiel einer Metaphernanalyse, in deren Zentrum Vegetationsmetaphern stehen, stellt das Buch The Seed and the Soil (türk. Tohum ve Toprak) der amerikanischen Anthropologin Carol Delaney über eine zentralanatolische Dorfkosmologie dar, deren Hauptdynamik die Autorin zwischen der Vorstellung eines monogenetisch-monokreativen, männlichen Samens (Tohum) und eines passiv-austragenden, weiblichen Bodens (Toprak) beschreibt, deren Zusammenwirken sinnstiftend für die Herstellung und Organisation von Gemeinschaft sei.20 Wie die Autorin feststellt, wirkt sich dieselbe Metaphorik nicht nur auf die Organisation der Familie und des Dorfes, sondern bis auf den Nationalstaat aus, weshalb Kategorien desselben metaphorisch als „Mutterland“ (türk. Anavatan) und „Vater Staat“ (türk. Devlet Baba) bezeichnet werden.21

Die letztgenannten Beispiele genetischer Familienmetaphern sind zugleich Vegetationsmetaphern, zu denen auch die hier behandelten Metaphern Heines gehören, wenn auch in einem wiederum anderen Sinn, der im nächsten Teil der Arbeit ausführlicher dargestellt wird.

In seiner Verwendung von Vegetations- und Naturmetaphern tritt Heine unter den Romantikern bereits hervor. Susanne Scharnowski, die als Literaturwissenschaftlerin Kennerin der deutschen Romantik ist, schreibt in ihrem letzten Buch Heimat: Geschichte eines Missverständnisses (2019), dass Natur gemeinhin als essentieller Bestandteil der deutschen Heimat und als zentral für die Romatik gälte. Doch die Natur der Romantiker sei vage, immateriell, religiöses Zeichensystem oder ferner, schemenhafter Projektions- und Resonanzraum der Seele. Pflanzen würden meist nur generisch benannt, als Wald, Bach, Fluss, Fels, Berg, Hügel, Baum oder Vogel.22 Ganz anders sieht es hingegen bei Heinrich Heine aus, der zum Beispiel Goethes west-östlichen Divan bis ins Detail mit Blumenmetaphern würdigt:

(…)[E]s ist ein Selam, den der Okzident dem Oriente geschickt hat, und es sind gar närrische Blumen darunter: sinnlich rote Rosen, Hortensien wie weiße nackte Mädchenbusen, spaßhaftes Löwenmaul, Purpurdigitalis wie lange Menschenfinger, verdrehte Krokosnasen, und in der Mitte, lauschend verborgen, stille deutsche Veilchen. (S. 57)23

Die von Heine genannte „Purpurdigitalis wie lange Menschenfinger“, (Digitalis purpurea) aufgenommen von Thomas Schad 2020 in der Rhön.

Bei den Romantikern mögen Vegetationsmetaphern vage und geheimnisvoll formuliert sein, wie Scharnowski feststellt – darunter am prominentesten die Figur der „blauen Blume“, die auch in Heines Romantischer Schule hie und da auftaucht, zumeist mit ironisch-spöttelndem Unterton; das bedeutet jedoch nicht, dass der Natur insgesamt eine irgendwie verminderte Bedeutung zukäme. Der Stellenwert von Natur ist sogar außerordentlich zentral, wie Claudia Köpfer in ihrer Betrachtung der Figur der blauen Blume schreibt:

Der Romantik liegt ein organischer Naturbegriff zugrunde, der sich auf Kants Naturphilosophie und seinen Organismusbegriff stützt. Demzufolge ist der Kosmos kein statischer, maschinenartiger Mechanismus, kein Perpetuum Mobile, sondern ein dynamischer Organismus. Damit wird der Entzauberung, die die Aufklärung mit ihrem rationalistisch-technischen Blick mit sich brachte, entgegen gewirkt. Das Universum ist für die Romantiker immer im Entstehen und alles ist Teil von allem Anderen. Samenkörner, Blumen, Pflanzen und Bäume sind zentrale Metaphern dieser organischen Weltauffassung, die den ewigen Kreislauf von Leben und Sterben betont.24

Allerdings sind die Übergänge zwischen dieser Begeisterung für die Natur und der von Heine verspotteten Gefühlsduselei (weiter unten) fließend, was nicht zuletzt an der Überbetonung alles „natürlich gewachsenen“ liegen mag, das sich dann auch noch sprachlich (in der Dichtung) zu äußern habe:

Die menschliche Bewusstseinsentwicklung ist eng mit dem Verständnis dieses Universums verbunden. Für die Romantiker ist das Hauptinstrument für dieses Verständnis die Dichtung und das subjektive Empfinden. In Natürlichkeit, Urwüchsigkeit und intensiven, stark aus dem Unterbewussten drängenden Gefühlen sehen sie den Ursprung dichterischer Kreativität. Diese Gefühle standen in ihrer Direktheit und Klarheit in starkem Kontrast zu als gekünstelt und verfälscht empfundenen zivilisierten Verhaltensweisen. Noch heute klingen viele dieser romantischen Ideen in der Umweltbewegung nach.24

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Fußnoten

1. Die Vorstellung einer diskontinuierlichen oder aufzusprengenden Geschichte geht vor allem auf Walter Benjamins geschichtsphilosophischer Schrift Über den Begriff der Geschichte zurück. In Paragraph XIV schreibt er: „Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit, sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet. So war für Robespierre das antike Rom eine mit Jetztzeit geladene Vergangenheit, die er aus dem Kontinuum der Geschichte heraussprengte.“ (XIV, S. 701) Er konkretisiert gleich im Anschluss seine Vorstellung der ‚Jetztzeit‘ mit der Möglichkeit des ‚Aufsprengens‘, was seine Freundin Hannah Arendt als Nativität bezeichnen wird: „Das Bewußstsein, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen, ist den revolutionären Klassen im Augenblick ihrer Aktion eigentümlich. Die große Revolution führte einen neuen Kalender ein. Der Tag, der in Gestalt der Feiertage, die Tage des Eingedenkens sind, immer wiederkehrt. Die Kalender zählen die Zeit also nicht wie die Uhren. Sie sind Monumente eines Geschichtsbewußstseins, von dem es in Europa seit hundert Jahren nicht mehr die leisesten Spuren zu geben scheint. Noch in der Juli-Revolution hatte sich ein Zwischenfall zugetragen, in dem dieses Bewußtsein zu seinem Recht gelangte. Als der Abend des ersten Kampftages gekommen war, ergab es sich, daß an mehreren Stellen von Paris unabhängig von einander und gleichzeitig nach den Turmuhren geschossen wurde. Ein Augenzeuge, der seine Devination vielleicht dem Reim zu verdanken hat, schrieb damals: Qui le croirait ! on dit qu’irrités contre l’heure, De nouveaux Josués, au pied de chaque tour, Tiraient sur les cadrans pour arrêter le jour.‘“ Benjamin, Walter (1991): Über den Begriff der Geschichte, in: Gesammelte Schriften Bd.I/2. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 701-702.

2. Am bekanntesten dürften vor allem die Gedichte von Joseph von Eichendorff sein, der den Wald als eine Art „Hallraum der Seele“ begriff. Vgl. Schütz, Erhard: Dichter Wald, in: Breymayer, Ursula und Bernd Ulrich (Hg.) (2011): Unter Bäumen. Die Deutschen und ihr Wald. Dresden: Sandstein Verlag, S. 111, zit. nach Wikipedia (Deutscher Wald); Scharnowski, Susanne (2019): Heimat: Geschichte eines Missverständnisses. Darmstadt: wbg Academic, S. 25; Wagner, Annette: „Natur als Resonanzraum der Seele“, in: Buchholz, Kai u.a. (Hg.)(2001): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. Darmstadt: Institut Mathildenhöhe, S. 165-184, zit. nach ebda, S. 25; 238.

3. Vgl. Heine, Heinrich (1995): Romanzero und andere autobiographische Spätschriften. Werke in fünf Bänden (Bd. 5). Köln: Könemann.

4. Heine, Heinrich (1995 [1835]): Die Romantische Schule und andere Schriften über Deutschland. Werke in fünf Bänden (Bd. 3). Köln: Könemann.

5. Als ergiebigstes Handbuch zur Metaphernanalyse hat sich die gemeinsame Arbeit von Jan Kruse, Kay Biesel und Christian Schmieder erwiesen: Kruse, Jan/Biesel, Kay/Schmieder, Christian (2011): Metaphernanalyse. Ein rekonstruktiver Ansatz. Wiesbaden: Springer VS Verlag für Sozialwissenschaften.

6. Der Begriff ‚Stereotype‘ selbst ist eine weitgehend lexikalisierte Metapher, die in ihrer heutigen Bedeutung von Walter Lippmann (1889-1974) geprägt worden ist. Lippmann hat die eigentliche Stereotype in Gestalt der metallischen Druckmaschinenstereotype seiner Zeit in die uneigentliche, metaphorische (sprachliche) Stereotype übertragen, vgl. Lippmann, Walter (2009): Public Opinion. New Brunswick/London: Transaction Publishers.

7. Auch der Begriff der „Pseudo-Umwelt“ (pseudo environment) geht auf Walter Lippmann zurück. Die Pseudo-Umwelt sei charakterisiert von einer gehörigen Portion Fiktion, worunter jedoch unterschiedlichste, konstruierte Abweichungen von der ‚realen‘ Umwelt zu verstehen seien: „By fictions I do not mean lies. I mean a representation of the environment which is in lesser or greater degree made by man himself. The range of fiction extends all the way from complete hallucination to the scientists‘ perfectly self-conscious use of a schematic model, or his decision that for his particular problem accuracy beyond a certain number of decimal places is not important.“ (S. 15-16); Die Pseudo-Umwelt sei dabei zwar eine Vereinfachung und Abweichung, korreliere aber notwendigerweise mit der ‚realen‘ Umwelt und mache diese überhaupt zugänglich: „For the real environment is altogether too big, too complex, and too fleeting for direct acquaintance. We are not equipped to deal with so much subtlety, so much variety, so many permutations and combinations. And although we have to act in that environment, we have to reconstruct it on a simpler model before we can manage it. To traverse the world men must have maps of the world.“ Lippmann, Walter (2009): Public Opinion, S. 16.

8. Lakoff, George und Mark Johnson (1980): Metaphors We Live By. Chicago and London: The University of Chicago Press. Auf Deutsch: Lakoff, George/Johnson, Mark (2003): Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern. 3. Aufl. Heidelberg.

9. Lakoff, George/Johnson, Mark (2003): Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern. 3. Aufl. Heidelberg, S. 11, zit. nach Kruse/Biesel/Schmieder, S. 7-8.

10. Hitzler, Ronald (1993): Verstehen: Alltagspraxis und wissenschaftliches Programm. In: Jung, Thomas/Müller-Dohm, Stefan (Hg.): „Wirklichkeit“ im Deutungsprozess. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 223 f., zit. nach Kruse, Jan/Biesel, Kay/Schmieder, Christian (2011): Metaphernanalyse, S.12.

11. Kruse/Biesel/Schmieder (2011): Metaphernanalyse, S. 12-13.

12. So stellt zum Beispiel meine Dissertation in weiten Strecken eine Metaphernanalyse dar, in der Metaphern wie jene der Brücke permanent in unterschiedlichen Sprachsystemen (Türkisch, Jezik* und andere) verwendet werden – ohne, dass die Kommunikantinnen deswegen unter der scheinbar identischen (eigentlich aber ’nur‘ gleichen) Metapher dasselbe verstehen müssten. Sie kommunizieren trotz oder gerade wegen der harten Sprachgrenze hauptsächlich über Metaphern und stellen über Metaphern Sinn her, auch wenn eine Gegenüberstellung der unterschiedlichen Sinne den Schluss nahelegen mag, dass sich die Komunikantinnen eigentlich permanent missverstehen.

13. Kruse/Biesel/Schmieder (2011): Metaphernanalyse, S. 16-17.

14. White, Hayden (1975): Metahistory. The historical imagination in nineteenth century in Europe. Baltimore and London: The Johns Hopkins University Press; Vgl. außerdem Ders. (1986): Tropics of Discourse. Essays in Cultural Criticism. Baltimore and London: The Johns Hopkins University Press sowie Ders. (1980). The Value of Narrativity in the Representation of Reality, in: Critical Inquiry, Vol. 7, No. 1, On Narrative (Autumn, 1980), S. 5-27. Über White vgl. Korhonen, Kuisma (Hg.)(2006): Tropes for the Past: Hayden White and the History / Literature Debate (Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft. Amsterdam/New York: Rodopi.

15. White, Hayden: Historical Discourse and Literary Writing, in: Korhonen, Kuisma: Tropes for the Past, S. 29.

16. Gleichzeitig muss ich an dieser Stelle aus Zeitgründen auf eine ausführliche Darstellung der Ereignisgeschichte verzichten, die jedoch gut erforscht ist und über die Sekundärliteratur erschlossen werden kann.

17. Vgl. Nezir-Akmese, Handan (2015): The Birth of Modern Turkey: The Ottoman Military and the March to WWI. London: I.B. Tauris.

18. Vgl. Çalışlar, İpek (2008): Mrs. Atatürk – Latife Hanım. Berlin: Orlanda.

19. Ausführlich schreibt dazu (auf Serbisch) Petrović, Tanja (2012): Yuropa. Jugoslovensko nasleđe i politike budućnosti u postjugoslovenskim društvima [Yuropa. Das jugoslawische Erbe und politische Zukunftsvisionen in den postjugoslawischen Gesellschaften]. Beograd: Edicija REČ.

20. Delaney, Carol (1991): The Seed and the Soil. Gender and Cosmology in Turkish Village Society. Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press. Delaneys Buch ist unter dem Titel Tohum ve Toprak auch ins Türkische übertragen worden und findet in der türkischen Sozialwissenschaft breiten Wiederhall. Nach ihrer Arbeit, die auf der Grundlage ihrer Feldstudien Anfang der 1980er Jahre in einem Dorf in der Nähe von Ankara entstanden ist, sind weitere Forschungsarbeiten entstanden, die anatolische Gebräuche mithilfe der Samen-Boden-Metaphorik beschreiben, wie z.B. Salman, Meral (2013). Tohum ve toprak metaforu üzerinden bir olağanüstü doğum ritüeli: buğday oğullar, mercimek kızlar [Ein außergewöhnliches Geburtsritual über die Samen-und-Boden-Metaphorik: Weizen sind Söhne, Linsen sind Töchter], in: folklor / edebiyat, cilt: 19, sayı: 74, 2013/2.

21. Vgl. Delaney, Carol: Father State, Motherland, and the Birth of Modern Turkey, in: Sylvia Yanagisako und Carol Delaney (Hg.)(1995): Naturalizing Power. Essays in Feminist Cultural Analysis. New York/London: Routledge, S. 177-199.

22. Scharnowski, Susanne (2019): Heimat: Geschichte eines Missverständnisses. Darmstadt: wbg Academic, S. 25.

23. Heine, Heinrich (1995 [1835]): Die Romantische Schule, S. 57.

24. Köpfer, Claudia: Erinnerungsort „Die blaue Blume“, URL: http://umweltunderinnerung.de/index.php/kapitelseiten/verehrte-natur/35-die-blaue-blume (zuletzt abgerufen am 27.7.2020).

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