3. Pandemos

Noch eine Essaysammlung zur Pandemie: was für eine abgedroschene Idee, wäre womöglich mein eigener, erster Gedanke: wo man auch hinsieht, es wimmelt zur Zeit nur so vor Corona-Tagebüchern, Facebook-Gruppen, Blog-Threads und anderweitig Feuilletonistischem zum Thema Covid19-Pandemie, kurz: Corona. Doch als Corona anfing, rasch alles auf den Kopf zu stellen, bestand auch mein allererstes Bedürfnis darin, zu schreiben. Ich muss schreiben, denn sonst gerät mir die Welt noch ganz aus den Fugen, dachte ich mir irgendwie unscharf im Hinterkopf. Die Schriftstücke, die dabei heraus kommen, nenne ich vielleicht etwas vorschnell Essays – obwohl ich mir über die richtige Genrezuordnung dieses Blog-Threads gar nicht im Klaren bin. Sind diese Blogbeiträge nicht eher Tagebucheinträge oder eine Art persönliches Seuchenjournal – als Essays?

Mit „Eine Textgattung als Sanitäter“ hat Deutschlandfunk Kultur den jüngsten Beitrag der Sendereihe Essay und Diskurs über das Genre Essay übertitelt:

„Der Essay ist ein Krisenphänomen“, das schrieb dort der Literaturwissenschaftler Wolfgang Müller-Funk und meinte damit: In Zeiten des Umbruchs, ja, da liegt das einfach in der Luft. Der suchende, tastende, abwägende Essay, der erkundet gerne unsicheres und neues Terrain mit viel Subjektivität, die vielleicht doch zu allgemeineren Erkenntnissen vordringt. So will es diese Form.0

Suchend, abwägend, subjektiv, unsicheres Terrain – das passt erst einmal alles auf die folgenden Beiträge, die aus anderen Gründen wiederum nicht unbedingt in das Genre Essay passen, stärker Tagebuchcharakter haben. Ich habe sie mit Pandemos überschrieben, diese Beobachtungen während der COVID19-Pandemie. Die Zeit der Pandemie ist eine spannende Zeit, weil viele Symptome des Nichtverstehens der Welt – einer Welt in Metamorphose, wie Ulrich Beck zuletzt befand – besonders deutlich zu tage treten. Im Wort Pandemos (wie auch in Pandemie) steckt Pan– für insgesamt oder weltweit, da die Pandemie ein kosmopolitisches Phänomen ist, und -Demos für Volk oder Gemeinwesen, weil es mir hauptsächlich um soziale Beobachtungen geht. Auch dann, wenn die Natur – zum Beispiel der mich umgebende Wald – im Zentrum steht, was ich jedoch gar nicht scharf vom Sozialen trennen kann und will. Von der Pandemie sind alle und alles, einschließlich der Natur, betroffen. Doch wie nähert man sich allen und allem an? Indem man seinen eigenen Blick teilt, wäre mein Vorschlag, und verschiedene Fokussierungen vornimmt. Doch zu den Blickrichtungen meiner Beiträge später mehr.

Corona im Strickmuster

Ganz zu Beginn des Pandemos-Threads frage ich mich rückblickend, wie es sich eigentlich ergeben hat, dass ich in der ersten Maihälfte immer noch nicht zurück in Berlin bin: dort wohne ich zwar, hatte aber bereits Ende März coronabedingt entschieden, die Stadt vorübergehend zu verlassen. Ich bin zu meiner Schwester und zu meinem achtjährigen Neffen gefahren. Die beiden wohnen in einem kleinen Ort in der Rhön, direkt an der bayerisch-hessischen Landesgrenze, wo ich mich seitdem immer noch aufhalte.

Zunächst einmal liegt das daran, dass meine Schwester in einem sogenannten systemrelevanten Beruf arbeitet und alleinerziehend ist – weshalb unser Plan war, dass ich sie dabei unterstütze. Meine derzeit unklare Tätigkeit in Berlin gilt offiziell alles andere als systemrelevant, weshalb ich also entweder in Berlin vor mich hin tingeln oder die Nestwärme der Familie suchen kann. Ich gebe es sofort zu: ich bin gar nicht ausschließlich aus altruistischen Gründen so lange hier geblieben. Und wie nützlich ich bin, weiß ich auch nicht. Ich genieße jedenfalls gleichzeitig die Gesellschaft der Familie, die Ruhe, die Natur und den Wald, worüber noch in einem anderen Beitrag zu lesen sein wird. Man könnte also sagen, dass ich mein Homeoffice von Neukölln in die Rhön verlagert habe, wo ich mich schreibend, wandernd, kochend und reflektierend auf meine anstehende Disputation und eine ganze Reihe weiterer Zukunftsfragen vorbereite: ich arbeite an einem Forschungsproposal, schreibe Bewerbungen – und an diesem Thread.

Eigentlich ist der Anlass für meine Abreise aber noch etwas komplexer. Ich bin auch nicht ganz freiwillig abgereist, was mit unserem weiteren (und zum Glück auch relativ gut funktionierenden) Familiensystem zu tun hat: normalerweise springt in Notbetreuungssituationen wie dieser hier1 unsere Mutter ein, die nicht allzu weit entfernt wohnt und sich außerdem auf jede Gelegenheit freut, ihr Enkelkind um sich herum zu haben. Alles hätte sich mit ziemlicher Sicherheit außerdem ganz anders entwickelt, wenn unsere Familie nicht über mehrere Länder verstreut wohnen würde, von denen plötzlich alle wieder strenge Grenzregime und zusätzliche Maßnahmen wie Quarantänen als probate Mittel zur Seucheneindämmung entdeckt haben. Auf einmal waren unsere kleinen, europäischen Staaten wieder zu so etwas wie geschlossenen Schachteln geworden. Wir waren, zumindest vorübergehend, zurück im „nationalen Container“. 2

Besonders wegen der Grenzschließungen sowie wegen aller damit einhergehender Zusatzmaßnahmen hat Corona uns allen einen Strich durch die Rechnung gezogen. In anderen, vielleicht passenderen Worten: Corona hat für ein paar Verstrickungen in unserem „transnationalen Familiennetzwerk“ gesorgt. Ich mag die (wenn auch hinkende) Strickmetapher, weil ich zwischen den Jahren angefangen habe, zu stricken – mit dem immer unrealistischer werdenden Fernziel, mich der kommenden Herbstkälte in einem selbst gestrickten Norwegerpullover auszusetzen. Bisher beschränkt sich meine Strickerfahrung aber noch auf einen links gestrickten Doppelschal. Verstrickt man sich, hat man entweder die Wahl, die letzten Maschen aufzutrennen und noch einmal neu zu stricken, oder man nimmt hin, dass es im Strickwerk Böcke gibt (und davon gibt es in meinem Schal so einige). Doch Corona hat niemandem diese Wahl gelassen: die Pandemie prangt immerfort als riesiger Bock im Muster der Alltagsroutinen. Das bisherige Strickmuster war unterbrochen, ein Zurück zu Vorher war nicht möglich, und die Erde drehte sich trotzdem weiter. Es wurde trotzdem Frühling, es kam trotzdem zu zwei Supervollmonden, und trotz der eigenen „Systemirrelevanz“ konnte ich nicht einfach gar nichts tun.

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Supervollmond über der Rhön im Coronafrühling 2020.

Schreibend etwas tun: Ver-Antwort-ung

Es blieb mir also fast gar nichts anderes übrig, als mein Tun im Schreiben zu suchen. Ich schreibe diesen und andere Beiträge aus mehreren Gründen: erstens, um mir über meine eigene Rolle in dieser äußerst merkwürdigen, in jeder Hinsicht ungewöhnlichen und (zu meinen Lebzeiten) auch noch nie dagewesenen Corona-Zeit bewusst zu werden; zum anderen, um die zurückliegenden Geschehnisse gegen allzu schnelles Vergessen abzusichern, weil die Corona-Zeit mit Sicherheit als historische Zäsur erinnert werden wird: mitschreiben bedeutet, die Erinnerung mit zu gestalten.4

Ich habe ein drittes, ziemlich kompliziertes Anliegen, von dem ich aber noch nicht recht weiß, in welcher Gestalt ich in dieser bereits länger gärenden Sache zu brauchbaren Schlüssen gelangen werde: ich bin davon überzeugt, dass wir gerade weltweit eine Metamorphose des Prinzips der Staatlichkeit erleben und uns in einer entscheidenden Phase befinden, in der (bereits bekannte) Kritik an überholten Strukturen nicht mehr ausreicht. Diese These ist soweit nichts neues, denn man kann ihr allenthalben im soziologischen und politikwissenschaftlichen Diskurs begegnen.5

Es geht jetzt also darum, Antworten zu finden; und mein Gefühl sagt mir, dass es gar nicht in Ordnung wäre, nicht nach Antworten zu suchen. Zusammengefasst würde ich dieses Gefühl deswegen Ver-Antwortungs-Bewusstsein nennen – doch um zu Antworten zu gelangen, muss ich erst einmal verstehen, was hier vor sich geht, und welche Methode wäre besser geeignet, als zu schreiben? Mir fällt dazu eine Sequenz aus dem legendären Fernsehinterview zwischen Hannah Arendt und Günter Gaus aus dem Jahr 1964 ein. Darin wird die große Denkerin gefragt, wie sehr es ihr während ihrer Denk- und Schreibtätigkeit auf die Wirkung des Geschriebenen ankomme. Sie antwortet:

„Wissen Sie, wesentlich ist für mich: Ich muß verstehen. Zu diesem Verstehen gehört bei mir auch das Schreiben. Das Schreiben ist Teil in dem Verstehensprozeß.“5.1

Ich zitiere die große Hannah Arendt, die gerade nicht umsonst so stark in Mode gekommen ist, nicht, um anmaßend sein zu wollen. Ich schulde ihr die Inspiration und Selbstvergewisserung, mir in diesen schwierigen Tagen, kurz vor Verteidigung der Dissertation und ohne konkrete Aussicht auf Lohn und Brot, sagen zu können: du tust etwas. Vielleicht kommst du selbst oder gelangen andere am Ende zum Schluss, dass es mit den Antworten schief gegangen ist. Doch darum geht es in diesem Moment nicht: es geht darum, schreibend und denkend zu handeln.
Zunächst vielleicht zu den bestehenden, wenn auch womöglich weniger brauchbaren Antworten.

Bestehende Antworten

Andererseits ist es auch nicht so, dass es gar keine Antworten gäbe auf die Herausforderungen unserer Zeit. Deshalb also zunächst einmal kurz zu einigen bestehenden, wenn auch womöglich weniger brauchbaren Antworten. Momentan scheinen zwei Strömungen zu dominieren.

Zum einen ist da das lavieren der Neo-Re-Bewegungen6, die ein Zurück zu vergangener Größe (‚Make America great again!‘) fordern und überkommene Strukturen über alle Maßen idealisieren. Zu diesen Bewegungen gehören die ganzen neopopulistischen, männerischen Regime6.1, die jedoch widersprüchlicherweise gar nicht ohne weiteres scharf von globalen Strukturen abzutrennen sind: im Ganzen gesehen – also wenn man die ganzen Orbáns, Trumps, Erdoğans, Bolsonaros, Modis, Dutertes, Vučićs etc. einmal als einander ähnliches Phänomen betrachtet – wird man nämlich erkennen, dass sie durchaus einen globalen Kontext bilden; das gilt zum Beispiel auch für die auf den ersten Blick etwas widersprüchlichen Koalitionen von Nationalisten im EU-Parlament.6.2

Im Grunde gehören aber auch viele altbekannte, nationalstaatliche Strukturen in die erste Strömung, obwohl sie keineswegs Populismus mit sich ziehen müssen. Man denke nur an das Beispiel nationaler Umweltschutzvorschriften, deren Geltungsbereich sich auf das nationale Territorium beschränkt, welches gleichzeitig zu weit und zu eng designed sein kann, um das Ziel Umweltschutz zu erreichen. Gemein ist diesen Akteuren und Strukturen, dass sie dringende Bedürfnisse und Fragen der Zeit, die globaler Natur sind, versuchen, mit nicht-globalen Antworten beizukommen. Darin besteht die Inkongruenz von Bedürfnis und Lösungsangebot – und eine der großen Baustellen des Weiterdenkens.

Relativ unregulierte, transnationale – oder, wie ich es lieber nenne, kosmopolitische Strukturen – bilden die zweite Strömung. Ob grenzüberschreitende Familiennetzwerke, Global Players der Wirtschaft oder globale, populärkulturelle Phänomene: letztere scheinen zwar stärker im Einklang mit den Zeichen der globalisierten Zeit zu funktionieren; sie bringen aber trotzdem ihre eigenen Probleme mit sich. Sie verhalten sich nämlich oft inkongruent zu den Bedürfnissen und Interessen bestehender, kleinerer Gemeinwesen: eine Solidargemeinschaft von Steuerzahlerinnen, eines öffentlichen Gesundheitssystems oder auch eines ganzen Nationalstaats können in der bestehenden Marktlogik durchaus Nachteil daran nehmen, wenn sogenannte multinationale Paketversender oder ein private Gesundheitsunternehmen zwar im Rahmen eines Nationalstaats mit all seinen Strukturen Gewinn erwirtschaften, aber im Prinzip an ganz andere Interessen gebunden (bzw. ungebunden) sind.

Auch diese generelle, hier nur grob skizzierte Problemlage ist bestens bekannt und wird oft thematisiert, besonders von Globalisierungsgegnern.6.3 Natürlich gibt es auch in den immer verzweigteren Seitenarmen dieser Strömung große Schnittmengen hin zu Verschwörungstheorien, die sich als alles andere als brauchbar erweisen. Im Gegensatz zur ersten Strömung erweisen sich trotzdem viele Vorarbeiten und Erfahrungen der Globalisierungskritiker, besonders aber der sogenannten Altermondialistinnen, als fruchtbarer Grund, um zu Antworten zu gelangen, die den gesamten Globus sowie die bestehenden Gefälle der Ungleichheit mitdenken. Wie das Informationszentrum 3. welt in Freiburg die Verwendung des umstrittenen Begriffs der Dritten Welt begründet, macht dieser Begriff trotz der häufigen Zurückweisungen deutlich, dass die Welt von heute keineswegs stärker zusammengewachsen ist, wenn darunter der Abbau kolonialer Hierarchien und Herrschaftsverhältnisse verstanden werden sollen.6.4

Beide Strömungen, denen ich an dieser Stelle vielleicht überproportional viel Gewicht eingeräumt habe, berühren die Problematik der Inkongruenz von Bedürfnissen und Organisationsformen: während erstere nicht-reflexiv ist und ihre Anhängerinnen glauben, schnelle Antworten und Lösungen zu kennen, besteht in der zweiten Strömung Bewusstsein über Dringlichkeit, globale Lösungen zu finden. Doch diese Lösungen, die durchaus vorgeschlagen und entwickelt worden sind, konnten sich nicht als neues „Geschäftsmodell“ gegen die starken Kärfte der Trägheit und der Besitzverhältnisse durchsetzen.

Es geht heute nicht darum, ob man nun an eine linke oder rechte Denkschule glaubt oder nicht. Die Inkongruenz ist durch die Klimaveränderungen und die globale Pandemie so präsent und spürbar, dass das Gefühl vorherrscht, wir durchlebten eine unruhige, turbulente und chaotische Zeit: während bestimmte Institutionen bereits ganz anders funktionieren, als sie ursprünglich geplant waren, sind sie auch unfunktional, und zudem gehen viele Veränderungen extrem rasant vonstatten, sodass es schwer fällt, Schritt zu halten. Dies führt dazu, dass viele Menschen „die Welt nicht mehr verstehen“, wie auf dem unten abgebildeten Graffiti, das ich Mitte März beim vorbei gehen in einem Neuköllner Hauseingang aufgenommen habe.7

Neben den beschriebenen zwei Grundströmungen der so genannten Neo-Re-Bewegungen8 und der unregulierten Globalisierung ist als „kollaterales Nichtverstehen“ der Welt noch etwas Drittes zu beobachten: die Produktion irrationaler, teilweise gefährlicher Massenphänomene in einer Art Zwischenzeit oder Interregnum (Erklärung folgt). Dieses Dritte stellt nichts eigenes, sondern eine verschwommene Schnittmenge der beiden ersten Strömungen dar (vgl. Teil I der Einleitung).

Massenphänomene dieser Schnittmengengruppe – darunter fallen in Deutschland militante Neo-Nationalisten, die sogenannte Reichsbürgerschaft, „besorgte BürgerInnen“, AbtreibungsgegnerInnen, Pegida, VerschwörungsgegnerInnen mit Aluhut usw. – sind nicht erst in der Corona-Zeit auffällig laut geworden, waren zuvor jedoch sehr viel eindeutiger dem rechten Spektrum zuzurechnen. Wie die Rechtsextremismusforscherin Natascha Strobel im Freitag feststellt, herrschte durch Corona zwar zuerst kurz Sprachlosigkeit in rechtsextremen Kreisen:

„Der Tod ereilt einen nicht auf dem Schlachtfeld, sondern in Altersunterkünften und auf Intensivstationen. Die extreme Rechte hat keine Sprache für diese Situation.“

Doch wie sie direkt anschließt, musste das neue Phänomen wohl nur den kurzen Weg in die altbekannten, vorhandenen Deutungsmuster finden:

„Krankheit kommt in der extremen Rechten dann vor, wenn sie als von außen hereingeschleppt dargestellt werden kann. Oder wenn sie als Metapher für unliebsame Menschengruppen verwendet wird. Etwa, wenn davon geredet wird, dass Flüchtlinge längst ausgerottete Krankheiten wieder nach Europa bringen oder dass sich bestimmte ominöse Kreise angeblich wie Krebs in der Gesellschaft ausbreiten. In beiden Fällen geht es aber nicht wirklich um den medizinischen Hintergrund einer Krankheit, sie dient vielmehr als Leinwand oder Sprachbild für Rassismus oder Verschwörungstheorien. Beides erleben wir auch in der aktuellen Krise.“9

Hier wird schon deutlich, warum es sich bei Antworten dieser Art nicht um Lösungen handeln kann: hygienische Metaphern von Sauberkeit, Schmutz, Krankheit und Gesundheit führen, so lehren es die historische Erfahrung und diskursanalytische Arbeiten der Genozidforschung, in Kombination mit völkischem Gedankengut zu sogenannten „ethnischen Säuberungen“, Völkermorden, Vertreibungen oder Zwangsassimilationsmaßnahmen.10

Gerade tun sich VerschwörungsanhängerInnen und Lockdown-GegnerInnen auf sogenannten „Hygiene-Demos“ hervor, wo sie sich über die Beschneidung ihrer gekannten Normalität empören. Durch die Frischheit der Eindrücke tue ich mir schwer, all die genannten (sowie die wahrscheinlich noch zahlreicheren, ungenannten) Gruppen eindeutig einer Kategorie (zum Beispiel eindeutig rechtsradikal oder rassistisch) zuzuordnen: laut jüngster Presseberichte11 sowie in Beobachtungen, Bildern und Eindrücken diverser NutzerInnen sogenannter sozialer Netzwerke gestalten sich diese Demonstrationen stark rechtslastig – andererseits aber auch heterogen. Auffällig ist ohne Zweifel, dass es große Ähnlichkeiten zu den sächsischen Ausschreitungen gegen die angebliche „Lügenpresse“ in der Folge der Migrationsbewegungen über die Balkanroute von 2015/16 gibt.12

Vermehrt ist von Angriffen auf Pressevertreter zu lesen, wie zum Beispiel in Berlin. Allerdings scheint immer noch Unklarheit zu bestehen über den Hintergrund der Täter im Fall der Angriffe auf das ZDF-Team der Satiresendung heute-show vom 1. Mai 2020: zwar hatte das Team am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin-Mitte über eine sogenannte „Hygiene-Demo“ berichtet, auf der sich laut Tagesspiegel „Rechte und Verschwörungstheoretiker tummelten„; die Angreifer, von denen mindestens einer mit einer Metallstange gezielt auf die Journalisten und Satiriker losging, seien aber laut Staatsanwaltschaft „dem linken Spektrum zuzurechnen„.13

Es ist natürlich fraglich, ob die Staatsanwaltschaft zu einer richtigen Einschätzung über die TäterInnen gekommen ist. ‚Links‘ und ‚Rechts‘ sind womöglich aber auch gar nicht die richtigen Kategorien, um die Teilnehmerschaft der sogenannten „Hygiene-Demos“ zu beschreiben – was auch dem generellen Obskurantismus von Verschwörungstheorien entspricht. Einiges spricht auch dafür, dass sich der altbekannte Charakter dieser Kategorien wandelt – wenn etwa tendenziell rechte Domänen wie die „Hygiene-Demos“ von urbanen Lifestyle-Stars wie Attila Hildmann besetzt werden, der eine bedeutende Figur in der Popularisierung des Veganismus ist.14 Hildmann soll den seit langem völlig abgestürzten Verschwörungstheoretiker Xavier Naidoo zuletzt als „Ehrenmann“ bezeichnet haben, mit dem er bereit sei, im bewaffneten Untergrund „Kopfschüsse“ zu kassieren.15. Bezeichnenderweise zeigen beide Männer keine großen Berührungsängste mit Personen, die sich mit rassistischen Ansichten hervorgetan haben, obwohl sowohl Hildmann als auch Naidoo in der Logik der „alten Rechten“ durch deren biologistischen Rassismus in das Feind- und Opferspektrum gehört hätten.

An dieser Stelle erweist sich das Wort Interregnum (wörtlich: Zwischenherrschaft) als hilfreich, auch wenn hier ebenso mit der Metapher der Krankheit hantiert wird. Die Bezeichnung Interregnum hat der italienische Denker Antonio Gramsci in einer Zeit gebraucht, da zunächst in Italien der Faschismus aufblühte und im weiteren Verlauf Deutschland, Europa und die ganze Welt in die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs reißen sollte. Um die Angemessenheit des Begriffs zu diskutieren, sollte man sich allerdings daran erinnern, dass dem Sieg des Nazi-Faschismus in Deutschland die Zwischenkriegszeit voraus ging, in der die Karten keineswegs eindeutig gelegt waren. Gramsci befand, dass die Krise seiner Zeit gerade darin bestanden habe,

„dass das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann: in diesem Interregnum kommt es zu den unterschiedlichsten Krankheitserscheinungen.“16

Mir ist aufgefallen, dass Antonio Gramsci-Zitate in letzter Zeit wieder vermehrt durch die sogenannten sozialen Netzwerke zirkulieren – was nicht nur mit seinem Todestag zu tun hat: die Covid19-Pandemie kann als Chiffre für die genannten „unterschiedlichsten Krankheitserscheinungen“ gelesen werden – wörtlich und metaphorisch. Das Wort Pandemie beinhaltet außerdem den Hinweis darauf, dass wir es mit einem globalen Phänomen zu tun haben, während unsere Grenzschließungen, die unterschiedliche Lockdown-Szenarien und das zuhause Bleiben in physischer Distanz den sehr lokalen Erfahrungshorizont des Alltags symbolisieren.

Übertragen auf Ulrich Becks Metapher der Metamorphose könnte man auch sagen, dass die Welt gerade in einem Verpuppungszustand festhängt und weder Raupe noch Schmetterling ist – und dass der künftige Schmetterling womöglich gar nicht ahnt, in welcher Gestalt er seine Puppe verlassen wird. Doch mit dieser überaus diffusen Zustandsbeschreibung bin ich nun selbst die Antwort schuldig geblieben, die ich selbst eingefordert habe, indem ich geschrieben habe, dass es nicht ausreichend sei, bereits bekannte Kritik immer wieder aufs Neue zu formulieren. Bestärkt in diesem Gefühl des Unbehagens mit der immer wieder kehrenden Kritik, die zu wenig neuen Erkenntnissen führt, und angetrieben zur Suche nach Antworten hat mich der leider 2015 verstorbene Ulrich Beck, der schon in den 1990er Jahren folgendes zu beanstanden hatte:

„Im Übrigen ist dies Wörtchen post der Blindenstab der Intellektuellen. Sie fragen nur, was nicht der Fall ist, und sagen nicht, was der Fall ist. Wir leben im Zeitalter des Postismus, des Jenseitismus und des Nachismus. Alles ist post, ist jenseits und ist nach. Es handelt sich dabei um eine halbe Diagnose, die lediglich feststellt, dass wir die alte Begrifflichkeit nicht mehr benutzen können. Darin verbirgt sich intellektuelle Faulheit und in gewisser Weise auch intellektuelle Unredlichkeit und Unaufrichtigkeit, denn die Aufgabe des Intellektuellen ist es, Begriffe zu entwickeln, mit deren Hilfe sich Gesellschaft und Politik neu definieren und organisieren können“17

WWW
Das Internet. Originale Bildquelle: Sebastian Schelter via Twitter and email. Quelle: Wikipedia.

Und damit komme ich zu meiner Leithypothese, die ich in den nachfolgenden Beiträgen dieses Threads, ausgehend von konkreten Beispielen, diskutieren will. Sie besteht darin, dass die Welt, wie sie heute ist und wie sie morgen und übermorgen sein wird, als kosmopolitisches Netzwerk gedacht und organisiert werden sollte. Mit Netzwerk meine ich eine dezentrale Struktur, in der es keine „herrschende Nation“ oder Großmacht gibt – auch wenn ein Netz durchaus an der einen Stelle dichter, an der anderen Stelle weniger dicht gewoben sein kann. Ich denke aber, dass ein kosmopolitisches Netzwerk, dass die gesamte Erde umspannt – die sich mit gesamtirdischen Herausforderungen wie Pandemien und dem Wandel des Erdklimas zu schlagen hat – an Intelligenz und Funktionalität einbüßen muss, sobald sich eines ihrer Teile versucht, über die anderen zu erheben. Bildlich kann man sich das mit einem Spinnennetz vorstellen, das den gesamten Globus bedeckt (vgl. Abb. 2).18 Die konstitutive Grundspannung des Netzes besteht darin, dass es weder allzu große Lücken oder Löcher im Netz noch allzu hohe Erhebungen gibt: beides würde dazu führen, dass das Netz instabil wird und reißt.

Im letzten Teil der Einleitung dieses Threads werde ich die Wahl dieser Hypothese sowie weiterer theoretischer und praktischer Vorarbeiten noch genauer begründen und einen Ausblick auf den weiteren Aufbau der Beiträge bieten.

Fußnoten und Referenzen:

0. Essayistik in Krisenzeiten: Eine Textgattung als Sanitäter. Andrea Zederbauer und Andrea Roedig im Gespräch mit Pascal Fischer, Dlf vom 21.5.2020, URL: https://www.deutschlandfunk.de/essayistik-in-krisenzeiten-eine-textgattung-als-sanitaeter.1184.de.html?dram:article_id=476470.

1. Während ich „Notbetreuungssituationen wie dieser hier“ schreibe, denke ich mir natürlich gleich: nein, eine Situation „wie diese hier“ gab es auch wirklich noch nie. Aber es ist wahrscheinlich klar, was ich damit meine.

2. Vgl. Kraemer, Klaus (2018): Sehnsucht nach dem nationalen Container. Zur symbolischen Ökonomie des neuen Nationalismus in Europa, in: Leviathan 46. Jg., Heft 2, S. 280-302..

3. Mit dem transnationalen Paradigma in der deutschsprachigen Sozialwissenschaft hat sich besonders Thomas Faist beschäftigt, vgl. Faist, Thomas/Fauser, Margit/Reisenauer, Eveline (2014): Das Transnationale in der Migration: Eine Einführung. Bad Langensalza: Beltz Juventa.

4. Dieses Anliegen verfolgt auch das Gemeinschaftsprojekt Coronarchiv der Universität Hamburg, der Ruhr-Universität Bochum und der Justus-Liebig-Universität Gießen, wo jeder Mensch eingeladen ist, Bild-, Text-, Audio- und Videodaten beizutragen. URL: https://coronarchiv.geschichte.uni-hamburg.de/projector/s/coronarchiv/page/collect .

5. Ich übernehme den Begriff der Metamorphose von Ulrich Beck, auf den ich noch ausführlicher zurückkommen werde. Vgl. Beck, Ulrich (2016): The Metamorphosis of the World. Cambridge/Malden: Polity Press.

5.1. HIER ARENDT INTERVIEW MIT GAUS EINFÜGEN.

6. Vgl. dazu meinen Beitrag Das binär gebürstete Hin- und Her des Neo-Re: unser Interregnum, Herrschaften wie Jair Bolsonaro, das sich-Bewegen von Bewegungen auf diesem Blog.

6.1. ERKLÄREN: WAS IST MÄNNERISCH?.

6.2. Auf SABINE RIEDELS Paper verweisen.

6.3. Beleg Globalisierungsgegner einfügen, Attac o.ä..

6.4. Von der Homepage von iz3w: „Und dennoch gibt es keine bessere Bezeichnung für das, was andere verkürzend den „globalen Süden“ oder den „Trikont“ nennen – oder gar mit der herablassenden Bezeichnung „Entwicklungsländer“ kategorisieren. Denn historisch betrachtet ist die „Dritte Welt“ ein fortschrittlicher Begriff. Entstanden in Frankreich während der 1950er Jahre, nimmt der Begriff Bezug auf den „Dritten Stand“, der sich in der Französischen Revolution von der feudalen Unterdrückung befreit hat. Weltweit popularisiert wurde „le tiers-monde“ vom antikolonialen Theoretiker Frantz Fanon. Er setzte in seinem Hauptwerk „Die Verdammten dieser Erde“ die Dritte Welt mit den Kolonisierten und Unterdrückten dieser Welt gleich. In den 1960er Jahren kam eine weitere Bedeutung auf: Die Dritte Welt wollte einen eigenständigen Dritten Weg gehen zwischen autoritärem Realsozialismus und ausbeuterischem Kapitalismus. Diese oft vergessenen herrschaftskritischen Bedeutungen haben wir im Sinn, wenn wir den Dritte-Welt-Begriff gegenüber den heute üblichen Euphemismen wie „Eine Welt“ bevorzugen.“ iz3w (Der Begriff „Dritte Welt“), URL: https://www.iz3w.org/wir_ueber_uns/der-begriff-201edritte-welt201c.

7. Auch Ulrich Beck stellt das nicht mehr Verstehen der Welt in seinem letzten Buch als die Grundgemeinsamkeit „unserer Zeit“ fest: „The world is unhinged. As many people see it, this is true in both senses of the word: the world is out of joint and it has gone mad. We are wandering aimlessly and confused, arguing for this and against that. But a statement on which most people can agree, beyond all antagonisms and across all continents, is: ‚I don’t understand the world any more‘,“ Beck, Ulrich: The Metamorphosis of the World, S. xi.

8. Wie bereits angemerkt, verwende ich den Begriff des ‚Neo-Re‘, der aber nicht etabliert ist. Mit ihm beschreibe ich neo-populistische, revisionistische Bewegungen, wie zum Beispiel in drei Beiträgen auf diesem Blog, die ich hoffentlich für diesen Thread noch einmal neu bearbeiten werde.

9. Strobl, Natascha: Der Hass auf alles Schwache, in: Der Freitag vom 30.4.2020, URL: https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/der-hass-auf-alles-schwache (zuletzt abgerufen am 12.5.2020).

10. Einen Überblick zu diesem gesamten Maßnahmenpaket, das oft in Kombination, bald aber auch aus Einzelmaßnahmen bestehen konnte, findet sich in meiner Magisterarbeit, die ich hier online zugänglich gemacht habe. Die genannten Metaphern, die auch in der verschwörungstheoretischen Rede von der angeblichen „Umvolkung“ auftauchen, sind typisch für das sogenannte demographic engineering der Zwischenkriegszeit. Vgl. dazu auch Schad, Thomas (2016): “From Muslims into Turks? Consensual demographic engineering between Interwar Yugoslavia and Turkey“, in: Journal of Genocide Research, 18(4), S. 427-446.

11. Ich muss hinzufügen, dass ich im Gegenteil zu meinen vorigen Beiträgen über die Proteste in Berlin an keiner dieser sogenannten „Hygiene-Demos“ auch nur als Zaungast teilgenommen habe, sondern mich für eine Einschätzungen voll und ganz auf unterschiedliche Pressestimmen verlassen muss. Vgl. Proteste gegen Maßnahmen: Tausende bei Demos gegen Corona-Regeln, auf tagesschau.de vom 9.5.2020, URL: https://www.tagesschau.de/inland/corona-demos-103.html (zuletzt abgerufen am 12.5.2020).

12. Laut Leipziger Volkszeitung, die sich auf eine Studie des Europäischen Zentrums für Medienfreiheit (ECPMF) beruft, fand der „mit Abstand größte Teil“ der Angriffe auf Pressevertreter zwischen 2015 und 2018 in Sachsen statt. Vgl. Medienhass in Sachsen: „Die Leute stehen klatschend daneben, wenn ein Journalist attackiert wird“, in: Leipziger Volkszeitung vom 2.5.2019, URL: https://www.lvz.de/Region/Mitteldeutschland/Medienhass-in-Sachsen-Die-Leute-stehen-klatschend-daneben-wenn-ein-Journalist-attackiert-wird (zuletzt abgerufen am 12.5.2020).

13 . Täter hatten vor Übergriff wohl Streit mit „heute-show“-Team, in: Der Tagesspiegel vom 4.5.2020, URL: https://www.tagesspiegel.de/berlin/angriff-auf-zdf-kamerateam-in-berlin-taeter-hatten-vor-uebergriff-wohl-streit-mit-heute-show-team/25799530.html (zuletzt abgerufen am 12.5.2020).

14. ARD-Team bei Demo gegen Corona-Verordnung angegriffen, in: RBB24 vom 6.5.2020, URL: https://www.rbb24.de/politik/thema/2020/coronavirus/beitraege_neu/2020/05/demonstration-flashmob-hildmann-polizei-reichstag-.html (zuletzt abgerufen am 12.5.2020).

15. Xavier Naidoo findet in Attila Hildmann Verbündeten: „Bereit Kopfschüsse zu kassieren“, in: Mannheim24 vom 12.5.2020, URL: https://www.mannheim24.de/mannheim/xavier-naidoo-attila-hildmann-telegram-corona-verschwoerungstherorie-mannheim-saenger-video-13750865.html (zuletzt abgerufen am 12.5.2020).

16. Zitiert nach Solty, Ingar: Interregnum der Protestbewegungen, in: Luxemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis, Heft 10/4, 2011. Online erschienen im Januar 2012, URL: https://www.zeitschrift-luxemburg.de/interregnum-der-protestbewegungen/ (zuletzt abgerufen am 11.5.2020).

17. Beck, Ulrich (Hg.)(2000): Freiheit oder Kapitalismus: Gesellschaft neu denken. Ulrich Beck im Gespräch mit Johannes Willms. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 23-24.

18. Diese nicht mehr aktuelle Visualisierung des Webs in Abbildung 2 ist dem Wikipedia-Eintrag World Wide Web entnommen und trägt den Titel Visualization of the world wide web common crawls 2012. Als Autor und Quelle ist aufgeführt: Sebastian Schelter via Twitter and email. c.f https://twitter.com/renepickhardt/status/605773574570270720 with responses. URL: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Visualization_of_the_world_wide_web_common_crawl_2012.png (zuletzt abgerufen 12.5.2020).

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