Metamorφ

Metamorph sei die Welt, schrieb Ulrich Beck 2015 in seinem letzten Buch, und er hat damit den tiefgreifenden Gestaltwandel der Erde zu Zeiten der Kosmopolitisierung, der andauernden Risikoproduktion und des dadurch menschlich erzeugten Klimawandels gemeint. In erdzeitalterlichen Dimensionen gedacht mögen die momentanen Gestaltänderungen gering sein — doch für Menschen, Tiere und Pflanzen von heute und morgen sind sie gewaltig und bedrohlich. Sie sollten deshalb im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit aller Wissenschaft und allen Nachdenkens über das Politische und angemessene Organisationsformen des Gemeinwesens stehen. Dies betrifft keineswegs nur die Naturwissenschaften, die freilich mit der Mammutaufgabe der Energiewende und der Erhaltung der habitablen Zone konfrontiert sind: Durch die starken Vergangenheitsbezüge und sprachliche Strategien des zeitgenössischen Neopopulismus (wie auf der Seite Neopopulismus beschrieben) sind auch im Besonderen Historiker*innen, Linguist*innen und Sozialwissenschaftler*innen als Sprachmittler*innen gefragt. Aus all diesen Gründen ist Ulrich Becks Metapher der Metamorphose auch namensgebend für den Inkubator Metamorφ: wir haben es nicht nur mit Veränderungen zu tun, sondern mit einem substanziellen Wandel von Küstenlinien, Grundwasserpegeln, Niederschlagsfrequenzen und anderen Aspekten der natürlichen Wirklichkeit. Die Metamorphose der Welt ist neben dem [Klima] auch an der [Sprache], in Fragen der [Geschlechterordnung], in der [Politik] oder beim Dauerthema [Migration] beobachtbar. Sie umfasst ebenso unsere Vorstellungen von [Sicherheit] und den Digitalisierungskomplex von [Netz & Medien]. Eine ungelöste, zentrale Frage ist, was unter den Bedingungen der Metamorphose und mit einer Perspektive auf eine gerechte und lebenswerte Zukunft eigentlich unter [Wertschöpfung] zu verstehen ist und wohin sich das Wirtschaftssystem entwickelt: die metaphorische Idee permanenten Wachstums ist epochal gescheitert. In den folgenden Absätzen werde ich noch kurz erläutern, was unter diesen Begriffen grundsätzlich und im Kontext der Metamorphose verstanden werden kann.

Klima

Wie die Metamorphose, so ist auch das Klima eine Metapher, die neben dem physischen, irdischen Klima — dem Wetter und der Verteilung primärer Ressourcen wie Wasser und Temperatur — auch das soziale Klima, die „Stimmung“ in den Gesellschaften der Erde beschreiben kann. Unter dieser Kategorie sind die Folgen des Klimawandels wie Klimakriege und Klimafluchten von Interesse, und ganz besonders, wie diese Themen mit der Bildung öffentlicher Meinungen verzahnt sind.

Der Klimawandel ist auch in Mitteleuropa sichtbar, wie hier am 1. Juni 2020 in den unterfränkischen Haßbergen, wo bereits viele Koniferen abgestorben sind.

Sprache

Sprache und ihre Funktionsweise ist nicht nur für das Verständnis und die Gestaltung öffentlicher Meinungen wichtig, sondern stellt die Grundlage zum Verstehen der Welt dar — denn über Sprache stellen wir uns Wirklichkeit und Politik vor, und über ihre Artikulation bilden wir unsere Wirklichkeit. Doch laut Ulrich Beck sind sich bereits hinsichtlich der verwendeten Begriffe Sprache und Wirklichkeit wechselseitig abhanden gekommen:

Im Übrigen ist dies Wörtchen post der Blindenstab der Intellektuellen. Sie fragen nur, was nicht der Fall ist, und sagen nicht, was der Fall ist. Wir leben im Zeitalter des Postismus, des Jenseitismus und des Nachismus. Alles ist post, ist jenseits und ist nach. Es handelt sich dabei um eine halbe Diagnose, die lediglich feststellt, dass wir die alte Begrifflichkeit nicht mehr benutzen können. Darin verbirgt sich intellektuelle Faulheit und in gewisser Weise auch intellektuelle Unredlichkeit und Unaufrichtigkeit, denn die Aufgabe des Intellektuellen ist es, Begriffe zu entwickeln, mit deren Hilfe sich Gesellschaft und Politik neu definieren und organisieren können.

Beck, Ulrich (Hg.)(2000): Freiheit oder Kapitalismus: Gesellschaft neu denken. Ulrich Beck im Gespräch mit Johannes Willms. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 23-24.

Sprache ist deshalb auch im Inkubator Metamorφ von zentraler Bedeutung — und dazu gehören Begriffe, Sprachen im Plural (z.B. Jezik*, Türkisch, Deutsch etc.), Grammatik, Pragmatik und andere linguistische Aspekte ebenso wie „neue“ Gestaltwandlungen von Sprache: das Binärsystem (Dualsystem) der Digitaltechnik, Programmiersprachen, Algorithmik und KI.

Geschlecht

Geschlecht ist nicht nur eine biologische, sondern auch eine soziale Kategorie, die in unserer Sprache deshalb oft mit dem ursprünglich englischen Begriff ‚Gender‘ bezeichnet wird. Die traditionelle, binäre Ordnung des Patriarchats bildete eine starke Komponente zur Strukturierung von gesellschaftlicher Macht, die in vielen Ländern inzwischen als falsch und Quelle von Ungerechtigkeit abgelehnt wird; queere Stimmen der Pride-Veranstaltungen der LGBTQ-Bewegungen machen dies im öffentlichen Raum sichtbarer als je zuvor. Doch ist die Gesellschaft in der Lage, die Geschlechterbinarität zu überwinden?

Queere LehrerInnen demonstrieren auf der Pride Week in Istanbul 2015

Politische Gemeinwesen

Unsere politischen Institutionen und unser generelles Ordnungsprinzip öffentlicher Gemeinwesen (z.B. in Europa) sind aus dem Prinzip des Nationalstaates entstanden. Deshalb gibt es in Frankreich andere Gesetze und eine andere Amtssprache als in Deutschland oder Kroatien oder anderswo. Alle Institutionen des Nationalstaats sind an das Prinzip der Territorialität und der Eingrenzung gebunden. Die Kritik an diesem „methodologischen Nationalismus“ deutet jedoch auf das Problem, dass sich die heutzutage wichtigsten „öffentlichen Angelegenheiten“, die Res Publica der gesamten Menschheit, keineswegs in diesen engen Grenzen erfassen lassen: der ganze Planet ist zu einer zusammenhängenden Res Publica geworden — zu einer Kosmopolis, die von supranationalen Institutionen wie der EU oder der Vereinten Nationen nicht in ihrem kosmopolitischen Wesen angemessen adressiert werden kann: diese Organisationen sind eigentlich eher Zusammenschlüsse von Nationalstaaten. Innerhalb dieser Zusammenschlüsse verfolgen die Mitglieder jedoch weiterhin Partikularinteressen, denen die Res Publica der Kosmopolis als gemeinsames Inter-Esse, nämlich der ganzen Erde als Ort der Menschheit, im Zweifelsfall geopfert wird. Gleichzeitig kann es keine „Weltregierung“ geben, und konkrete Ideen und Lösungen sind rar oder haben sich noch nicht durchgesetzt. Um die Metamorphosen des Politischen und seine mögliche Zukunft als Netz geht es in diesem Bereich.

Migration

Die Erfahrung, dass Menschen über Generationen am selben Ort leben sowie die Trägheit der Institutionen des Nationalstaats (Staatsangehörigkeit, Aufenthaltsrecht, offizielle Landessprachen etc.) können den Eindruck vermitteln, dass Migration die Ausnahme sei. Dabei gehört Migration zu den Konstanten der Menschheit: immer haben Menschen die Orte ihrer Geburt verlassen, um in anderen Gebieten zu leben — ob freiwillig oder gezwungenermaßen. Die Migrationen unserer Zeit sind von demographischen Unterschieden, Kriegen und zunehmend vom Klimawandel geprägt und werden es in Zukunft noch stärker sein. Einige Gebiete der Erde werden zu inhabitablen Zonen, ihre Bevölkerung muss migrieren um zu überleben, weshalb zunehmend mit Ressourcenkonflikten zu rechnen ist. Diese spiegeln sich auch in den politischen Erschütterungen Europas (Brexit, neue rechte Parteien wie AfD, anti-migrantische Gewalt, diasporische Bewegungen) der letzten Jahre wieder, die über Rassismustheorien alleine nur unzureichend zu erklären wären.

Sicherheit

Sicherheit wird oft als Sicherheit des Nationalstaats X gedacht, wobei nationale Sicherheitsstrategien gleichzeitig Unsicherheiten für Gebiete, Menschen und die Umwelt außerhalb des Staatsgebiets von X erzeugen können, die wiederum Konflikte verursachen, die sich am Ende auch wieder auf den Nationalstaat X zurückwirken: die Rede ist von „traditionellen Sicherheitskonzepten“, die von VertreterInnen der „menschlichen Sciherheit“ (Human Security) als obsoletes Produkt des methodologischen Nationalismus angesehen werden: das Denken über Sicherheit müsse sich grundsätzlich ändern, immer lokal und global gleichzeitig sein. Konkrete Beispiele obsoleter Sicherheitspolitik sollen hier gesammelt und anhand dieser Beispiele alternative Lösungen durchdacht werden.

Netz & Medien

Neue Medien haben die Kommunikations- und Informationsgesellschaft revolutioniert: aus den KonsumentInnen von Nachrichten sind ProsumentInnen geworden, die längst selbst den Verlauf des Informationsfluss mitbestimmen — über teilen, liken, kommentieren, bloggen, fotografieren, filmen usw. Diese neue Medienkultur hat nicht nur demokratisierende Folgen, sondern auch genau das Gegenteil: gerade Demokratien, wo politische Entscheidungen öffentlicher Zustimmung bedürfen, sind über neue Medien wie „sozialen Netzwerken“ Manipulation und Desinformation durch demagogische Gegner Tür und Tor geöffnet. Welche Lösungen können entwickelt werden, um die Vorteile der Vernetzung gegenüber den Nachteilen der populistischen Desinformationsflut aufzuwiegen?

Der letzte Schrei aus den 90ern ist heute nicht mehr viel wert: Kassettenrekorder mit Kassette.

Wertschöpfung

Die Frage künftiger Wertschöpfung ist das vielleicht größte und ungelöste Problem unserer Zeit: bisherige Wertschöpfungsketten fördern Risikodynamiken. In unserer Gesellschaft werden Menschen, die sich für den Erfolg eines Wirtschaftsunternehmens der Automobilbranche engagieren, sehr hoch für ihre Tätigkeiten entlohnt. Diese treiben allerdings im Großen und Ganzen die Zerstörung des Planeten weiter voran. Es „lohnt sich“ dagegen sehr viel weniger, sich gegen wirtschaftliche, ökologische und soziale Ungleichheit oder in der Kranken- und Altenpflege zu engagieren. Globale Ungerechtigkeitsdynamiken, wie die Ausbeutung von Ressourcen, können über traditionelle Sicherheitskonzepte weitestgehend ausgeblendet werden. Doch wie kann es hier zu einem Umdenken kommen, das konkret wird, indem menschliche Sicherheit tatsächlich lohnend für alle Stakeholder wird?

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