Es ist Donnerstagabend, wenige Stunden nach meiner verspäteten Ankunft in Sarajevo. Direkt nach Ankunft habe ich mich auf mein Bett im Hotel Grand geworfen und für ein paar Stunden ausgeruht, um anschließend noch Materialien für die Reisegruppe unserer Balkanbiro-Studienreise Auf den Spuren der jugoslawischen Partisan:innen durch Bosnien-Herzegowina auszudrucken. Am Samstagabend würde es losgehen. Morgen hätten wir noch Zeit für allerletzte Vorbereitungen und Treffen mit Referent:innen und Restaurants. Ich gehe zu einem Copyladen im Sarajevo City Center (SCC), den ich noch von meinen Feldstudien kenne.
Das SCC ist eine jener neuen Shoppingmalls, wie sie sich überall auf der Welt finden und jeden Ort zunehmend beliebig machen. Grotesk finde ich am SCC insbesondere die Zitate an den Wänden, darunter eines von Donald Trump: „Sve u životu je sreća“ — „Glück ist alles im Leben“. Der Investor aus Saudi-Arabien, Al Shiddy International, hat sich vor dem Gebäude ein Selbstdenkmal aus Renommiergeld errichtet, wie es Marcel Mauss genannt hätte.
Schnell fliehe ich aus dem SCC in Richtung älterer Gemäuer. Im Sprühregen laufe ich durch österreichisch-ungarische Bausubstanz, lande schließlich vor der Vječna Vatra, der Ewigen Flamme.
Und wo auch sonst?
Hier ist der Anfang der Ferhadija, die von der Titova abzweigt, und von hier aus bewegen sich Touristen wie Einheimische in Richtung Baščaršija, dem osmanischen Ortskern. Die Vječna Vatra ist ein ganz klassischer Treffpunkt in Sarajevo. Vor der Flamme stehend denke ich mir, dass es vielleicht doch Sinn machen würde, das Teil zum hundertsten Mal erneut zu fotografieren, weil ich ja vielleicht den Text nicht mehr parat haben könnte, wenn es darauf ankäme, und dass es beim Stadtrundgang mit unserer Gruppe in ein paar Tagen doch vielleicht sein könnte, dass…
Ich sehe dort ein sympathisches junges Paar aus der Türkei, was ich an ihrer Sprache erkenne. Sie halten einen Regenschirm in der Hand und versuchen, sich abwechselnd vor der ewigen Flamme zu fotografieren. Ich frage sie, ob ich sie vielleicht zusammen fotografieren soll. Sie freuen sich, drücken mir ihr Smartphone und den Regenschirm in die Hand. Ich nehme ein paar Bilder von ihnen auf, iki üç kere bastım diyorum. – Tamamdır, sağolun diye atıyorlar.
Sie erzählen mir, dass sie diese Reise das erste Mal ins Ausland gebracht hat. Sie nehmen an einer der zahlreichen Balkantouren teil, die von unterschiedlichsten türkischen Reiseunternehmen seit zirka 15 Jahren angeboten werden und mit der völligen Abwesenheit türkischer Tourist:innen der Vorjahrzehnte kontrastieren. Sie hätten die Reise im Kosovo angefangen, seien über Montenegro nach Bosnien weitergereist, morgen gehe es weiter nach Belgrad, dann nach Skopje. Auf dem Weg nach Belgrad würden sie auch über den Nationalpark Sutjeska fahren, wie sich im weiteren Gespräch herausstellt. Der NP Sutjeska würde einige Tage später auch das erste Übernachtungsziel für unsere Reisegruppe außerhalb Sarajevos sein.
Von mir wollen die beiden unbedingt hören, wie man in Deutschland über die Türkei denke. Wie sich das Verhältnis zwischen Deutschen und Türken gestalte; wie es mit dem Zusammenleben klappe. Ohne je in Deutschland gewesen zu sein, ist ihnen Kreuzberg ein Begriff. Ich erzähle ihnen von „meinem“ Stadtteil Neukölln, versuche möglichst verständlich von einer Sozialraumanalyse in Neukölln zu berichten, in der es auch teilweise um dieses Thema geht, erzähle von der legendären Kruezberger Institution Gayhane, Filmerfolgen wie Crossing the Bridge und Gegen die Wand; Sie kennen Fatih Akın gut. Unweigerlich landen wir an dem Punkt, wo nur noch festzustellen bleibt, dass zumindest die offiziellen türkisch-deutschen Beziehungen gegen die Wand gefahren sind.
Das Gespräch gewinnt an Leidenschaft. Die beiden nehmen sich kein Blatt vor den Mund, machen ihre politische Dissidenz zum herrschenden Regime sehr deutlich. Sie wollen wissen, ob ich auch Can Dündars Artikel lese. Ich bejahe. Sie geben mir zu verstehen, dass sie ihn sehr schätzen. Damit sind nun einige grundsätzliche Koordinaten unserer spontanen Begegnung geklärt. Wir reden über alles mögliche, ich erzähle vom Konzept unserer Geschichtsreise und den Partisanen. Der junge Mann kennt die Geschichte der ewigen Flamme und der Inschrift. Aha, denke ich mir, ich habe es mit linken Menschen zu tun. Ich erzähle von meiner Forschung in der Türkei und den bosniakischen Communities in Bayrampaşa und Pendik — auch das ist ihnen bekannt.
Im Hintergrund taucht noch eine dreiköpfige Gruppe junger türkischer Männer auf, entweder Studenten einer der beiden türkischen Universitäten Sarajevos, oder ebenfalls Touristen, wie ich vermute. Sie hören Teile unseres Gesprächs mit, wir verziehen uns einen Schritt in Richtung Anonymität, und die Jungen sagen ungefragt, sie wollten gerade nur touristisch unterwegs sein. Mit Politik wollten sie nicht zu schaffen haben. Wir machen immer mehr Platz für weitere Touristen, die hinzukommen, um die legendäre Ewige Flamme zu fotografieren. Wir vertiefen unser Gespräch immer weiter, und ich entschuldige mich dafür, so viel ihrer Zeit in Anspruch genommen zu haben. Die junge Frau winkt ab und wird sehr aktiv: nein, nein, sie seien doch im Urlaub und hätten Zeit! Vielmehr sollten wir jetzt zusammen in ein Café gehen, dort weiterreden, sie zeigt hinter sich auf ein paar Straßenterassen von Cafés auf der Ferhadija.
Ich will so gerne zustimmen. Ich merke aber, wie unglaublich gerädert ich von der 28stündigen Busfahrt noch bin — was für unbelüftete Höllenqualen doch hinter mir liegen! Ich sehe, dass es schon nach 21 Uhr ist und denke daran, dass meine Kollegen in Kürze ankommen werden — und wir haben noch ein paar Dinge zu besprechen. Ich entschuldige mich. Wir verabschieden uns herzlich. Sie gehen in Richtung Baščaršija. Ich gehe in die umgekehrte Richtung, folge der Titova in Richtung Hotel Grand, unserem charmanten „Basislager“ der nächsten Tage.
Sofern ich in diesem Text-Schnippsel das Thema unserer Studienreise aufgreifen sollte, würde ich vielleicht folgendes feststellen: die Ewige Flamme zieht sich wie eine bleibende Trope durch die letzten Jahrzehnte. Irgendwie hat sie es geschafft, weiterhin in alle möglichen Sequenzen des Alltags Eingang zu finden. In ihr verbirgt sich Jugoslawien — wie der Elefant im Raum.
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