[Heine-Projekt] 5.1 Der fragile Gleichheitsgedanke im frühen 19. Jahrhundert

Das frühe 19. Jahrhundert, die napoleonischen Eroberungen und Reformen, der Widerstand und die Herausbildung des Jungen Deutschlands, das Abdriften der Berliner Salons in antifranzösische, antijüdische und schließlich antisemitische Fahrwasser, das bald offene, bald subtile Positionieren Heines gegen genau diese Entwicklung, die ihn selbst direkt betraf u.v.m.: dies alles dürfte Leserinnen, die sich hauptsächlich mit dem 20. Jahrhundert beschäftigen und auskennen, relativ wenig präsent sein.

Wie die vorangegangen biographischen Angaben zeigen konnten, befand sich Heine in Deutschland zwar allein durch seine jüdische Herkunft bereits in einer Außenseiterposition, wenn man die nichtjüdische, meistens aristokratische „Allgemeinheit“ — als vorgestellte Gemeinschaft der Gleichen — als Bezugsgruppe im weiteren Sinne benennen möchte; im selben Sinn bildeten dann die Aufklärer und Romantiker die engere Vergleichsgruppe. Aus dieser Position heraus muss auch eines der Hauptcharakteristika Heines gelesen werden: seine polemische und satirische Haltung und Sprache, mittels derer er sich den von Anfang an da gewesenen, aber sich mit der Zeit immer weiter zuspitzenden Ausschlussmechanismen erwehrte.

Trotzdem wäre eine vereinfachte, dichotome Sicht auf die gebildeten Teile der Gesellschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts — indem man sie in Nichtjuden und Juden teilte — aus mehreren Gründen stark verkürzt. Erstens liefe man dabei Gefahr, die moderne Kategorie des Antisemitismus als gesetzt und gegeben für einen Kontext anzunehmen, in welchem sie in der heute geläufigen Form — also in Kenntnis des Nationalsozialismus und des Genozids der Shoa — streng genommen noch nicht existierte, oder noch genauer genommen: in welchem der moderne Antisemitismus gerade erst dabei war, sich aus seinen antijudaistischen Ursprüngen heraus zu formieren, und wozu sich Heine in ironischer, satirischer Sprache positioniert hat. Und zweitens könnte damit ausgeblendet werden, dass Heinrich Heine auch unter den Juden Deutschlands — und das heißt: auch unter den getauften, konvertierten Juden wie ihm — die Rolle einer Ausnahme des Ausnahmejuden einnahm.

Rahel Varnhagen und die Berliner Salons

In diesem Zusammenhang spiegeln die Biographie und der Berliner Salon der Rahel Levin (Varnhagen [von Ense]) zwei gesellschaftliche Phänomene des frühen 19. Jahrhunderts und der deutsch-jüdischen Geschichte, die uns helfen können, den gesellschaftlichen Zeitgeist nachzuvollziehen, in dem Heine gewirkt und geschrieben hat. Zu unserem Glück hat sich Hannah Arendt sowohl in ihrer (durch den Nationalsozialismus verhinderten) Habilitationsschrift Rahel Varnhagen: Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik44, als auch im ersten Teil ihres Monumentalwerks Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft: Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft45 ausführlich mit Rahel [Levin] Varnhagen auseinandergesetzt.

Weil Rahel Varnhagen und ihr Ehemann Karl August nicht nur mit Heinrich Heine befreundet waren, sondern weil der Salon der Varnhagen eine Art Mikrogesellschaft abbildete, dabei in jeder Hinsicht außergewöhnlich war und Aufschluss gibt über die Phänomene der Ausnahmejuden, der Paria und der Parvenüs, der assimilierten Juden und der nicht anwesenden, ausgeschlossenen „einfachen Juden“ sowie derer aller Verhältnisse zum nichtjüdischen Teil der Gesellschaft, werde ich in den folgenden Abschnitten, ausgehend von Arendts Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft, herausarbeiten, was diese Figuren46 für Heines Position als Rebell und Außenseiter bedeuten: denn Heine bildet im Grunde, zusammen mit wenigen anderen Ausnahmen wie Ludwig Börne (und sogar Rahel Varnhagen selbst), eine weitere Figur, der Arendt jedoch nur ganz am Rande ihre Aufmerksamkeit schenkt und „Rebell“ nennt.

Durch die Besonderheit des Varnhagel’schen Salons wird deutlich, dass das frühe 19. Jahrhundert zunächst einmal durchaus eine optimistische Zeit war, deren Protagonistinnen den Begriff der Gleichheit hoch hielten — wenn auch ohne jede politische Erfahrung und letztlich ohne großen Erfolg. Doch zunächst zum Salon der Rahel Varnhagen, über den Hannah Arendt schreibt:

Der Salon der Rahel, der nach ihrem eigenen Zeugnis 1806 in der preußischen Niederlage unterging „wie ein Schiff, den höchsten Lebensgenuß enthaltend“ (…), ist ein in der Geschichte von Assimilation und Ausnahmejuden absolut einzigartiges und einmaliges Gebilde gewesen. Was später mit mehr oder weniger Erfolg geheuchelt, mit mehr oder weniger Kosten an Demütigungen gespielt wurde, war hier wirklich, einmalig und in voller Unschuld verwirklicht worden: Hier galt wirklich jeder nur genau so viel, wie er darzustellen vermochte, hier ward jeder nach nichts anderem beurteilt als seiner Persönlichkeit — und weder nach seinem Stande (…) — noch nach seinem Gelde (…) — noch nach seinem Erfolg im öffentlichen Leben (…) — noch nach seiner literarischen Karriere (denn Friedrich Schlegel war trotz steigender Berühmtheit nie beliebt). Der Salon der Rahel war auch nicht, wie so viele spätere jüdische Salons, nur dem Anspruch nach gemischte Gesellschaft, de facto aber jüdisch mit ein paar nichtjüdischen Ausnahmen, er war aber auch nicht nichtjüdisch mit ein paar zugelassenen Ausnahmejuden. Er war naiv paritätiscch und entsprach einer kurzen Blütezeit deutsch-jüdischer Geselligkeit, die mehr Mischehen aufzuweisen hatte als irgendeine spätere.47

Doch so kurz wie diese Blüte des Salons der Rahel anhielt — genauer genommen nur ihres ersten Salons — so zart und wenig wehrhaft gestaltete sich die Verfassung von Gleichheit, die unvorhergesehener Weise immer fragiler werden würde, je stärker sich die Ständegesellschaft transformierte:

Die Tatsache, daß die Gleichheit aller Bürger für uns bereits zu den Selbstverständlichkeiten politischer Gerechtigkeit gehört, verführt leicht, zu übersehen, daß Gleichheit nicht nur eine der größten, sondern auch eine der unsichersten Errungenschaften der modernen Menschheit ist. Die politisch-rechtliche Gleichheit aller vor dem Gesetz war begleitet von einer wachsenden Gleichartigkeit gesellschaftlicher und materieller Umstände. Je gleichartiger aber solche Umstände werden, desto weniger kann der durchschnittliche politische Verstand die Unterschiede begreifen, die in Wirklichkeit existieren, desto größer also werden die Ungleichartigkeiten zwischen Individuen und Gruppen.48

Hannah Arendt betont, dass das Prinzip der Gleichheit, wie es seit der Französischen Revolution von 1789 versucht wurde, in der trichotomen Parole Liberté, Égalité, Fraternité deklarativ durchzusetzen, einen extrem holprigen Weg der Rückschläge und Reproduktion alter Konflikte in neuem Gewand zu gehen hatte. Besonders deutlich zeichnet sich das im Verlauf des 19. Jahrhunderts ab. Das zentrale Problem bestand dabei darin, das Prinzip der Gleichheit aller Menschen von einer nicht (mehr nur) religiös fundierten Idee zu einem funktionierenden, organisatorischen Prinzip zu machen. Gleichheit gibt es schließlich auch außerhalb der Politik, und es gab die Rede von der Gleichheit in der Frequenz christlicher Beerdigungsreden auch schon lange vorher, in der religiösen Vorstellungswelt. Doch bei Arendt steht jenes Problem im Zentrum, welches entsteht,

(…) wenn Gleichheit nicht mehr die Gleichheit vor einem all- und übermächtigen Gott oder dem Tode als einem gemeinsamen menschlichen Schicksal bedeutet, sondern zu einem weltlich organisierenden Prinzip innerhalb eines Volkes selbst geworden ist.49

Den Gesellschaften, in denen auf einmal Gleichheit de facto ungleicher Menschen herrschen sollte, habe es an einem „Maßstab“ gefehlt, anhand dessen die Gleichheit realiter umzusetzen gewesen wäre. Im Zuge der fortschreitenden Säkularisierung und Loslösung vom christlich-göttlichen Legitimationsprinzip des Ancien Régime und seiner absolutistischen Herrschaft wurde auch die transzendente Vorstellungswelt untauglicher, durch welche Gleichheit zu erklären gewesen wäre.50 Das Problem war ganz praktischer Natur:

Sie als das, was sie ist, zu erkennen, nämlich als das Prinzip einer politischen Organisation, innerhalb deren ungleiche Menschen gleiche Rechte haben, hat sich erheblich schwerer erwiesen, als der Optimismus des frühen 19. Jahrhunderts geglaubt hat.51

Der gesellschaftliche Wandel des 19. Jahrhunderts hielt ein weiteres Paradox bereit, was auch daran liegt, dass Staat und Gesellschaft in jener Zeit überhaupt nicht kongruent waren, wie Arendt betont: das, was als Gesellschaft oder bürgerliche Gesellschaft im Begriff war, sich zu formieren, und zwar unter anderem in den Berliner Salons, wo sich junge Aristokraten und gebildete Ausnahmejuden (bzw. insbesondere Ausnahmejüdinnen) trafen — und keinesfalls irgendwelche beliebigen Einwohnerinnen Berlins — reproduzierte zunächst aristokratische Prinzipien auf eine modifizierte Weise so, dass das Prinzip der Gleichheit darunter begraben wurde.

Arendt rafft einen äußerst komplizierten Zusammenhang in zwei nur sehr schwer verständlichen Sätzen in der knappen Einleitung zu den Ausnahmejuden; diese Sätze unterfüttert sie erst durch die später folgenden Beispiele, durch welche sie den Zusammenhang aufzeigt, der zwischen Hofjuden, Schutzjuden, später sogenannten „Ostjuden“ bzw. ungebildeten, traditionellen Juden und deren Hierarchisierungen einerseits, sowie assimilierten und gebildeten Juden und der aristokratischen, bald aber auch der bürgerlichen nicht-jüdischen Gesellschaft andererseits, bestand und sich in den Salons abbildete.

Denn Vorstellungen von „normal“ und „anormal“ (Arendt), ganz besonders aber die Autorität, darüber zu entscheiden, wer sich in welche dieser beiden Kategorien begeben durfte und wer nicht — nämlich Juden — verdanken sich sozialen Dynamiken, Gewohnheiten und Machtgefällen, die zwar durch das Diktum der Gleichheit und des noch zu behandelnden technologischen und wirtschaftlichen Wandels (in Kapitel 8 über den „eigentlichen deutschen Wald“ der Sattelzeit) empfindlich erschüttert und verändert, aber nicht verschwunden sind:

Die modernen Massengesellschaften bieten zahllose Beispiele dafür, daß es erheblich näher liegt, Gleichheit für eine angeborene Eigenschaft eines jeden Individuums zu halten, das „normal“ genannt wird, wenn es ist wie jedermann, und „anormal“, wenn es sich unterscheidet. Diese pervertierende Umwandlung eines politischen in einen gesellschaftlich-psychologischen Begriff ist dann besonders gefährlich, wenn die Gesellschaft auf verhältnismäßig kleinem Raum die Unterschiede klar ans öffentliche Licht bringt und damit eine Fülle von Konflikten erzeugt. So stellte sich überall heraus, daß die Gesellschaft und die Abschaffung rechtlich-politischer Rangunterschiede im Nationalstaat erst einmal damit reagierte, sich desto hierarchischer nach innen zu organisieren, je demokratischer sie äußerlich wurde.52

Darin steckt bereits das zentrale Postulat Hannah Arendts des Politischen als gemeinsamen Prozess der Verschiedenen, welches sie an dieser Stelle jedoch nicht ausführt53: einerseits gibt es Unterschiede (und seien es angeborene Unterschiede, worunter sie den heute obsoleten Begriff der Rasse nennt — die sie zu den „natürlich gegebenen Unterschieden“ zählt, was gesonderter Diskussion bedarf), und andererseits gibt es die Vorstellung von Gleichheit. Gleichheit muss aber immer die Gleichheit von Verschiedenen sein, Unterschiede also anerkannt werden — ansonsten wird falsch verstandene Gleichheit anti-politisch, sofern darunter eigentlich Selbheit oder Identität verstanden wird:

Der Rassenwahn ist unter anderem auch die Reaktion dagegen, daß der Begriff der Gleichheit fordert, jedermann als meinesgleichen anzuerkennen.54

Arendt unterscheidet „richtig“ und „falsch“ verstandene Gleichheit (Anm. TS: „richtig“ und „falsch“ ist hier meine Formulierung), indem sie „politische Gleichberechtigung“ vom Druck der „Angleichung der Individuen im Gesellschaftsprozeß“ scheidet. Die realen Auswüchse dieser Gefahr seien aber erst „in den konformistischen Massengesellschaften des 20. Jahrhunderts wirklich aktuell geworden“.55

Für die neuen Gesellschaften der Nationalstaaten — und man begreift die Radikalität des gesellschaftlichen Wandels der „Sattelzeit“ zwischen Französischer Revolution und Gründung des Deutschen Reiches (Reinhart Koselleck) nicht allein über das Studium von Ideen und Begriffen, sondern erst über die Miteinbeziehung der eigentlichen, lebensweltlichen Veränderungen vom „hölzernen Zeitalter“ (Joachim Radkau) hin zum Steinkohlezeitalter der Industriellen Revolution (vgl. Kapitel 8 / Sattelzeit), wodurch neue Konzepte unausweichlich wurden — gab es keine Blaupause, keine praktischen Erfahrungswerte, keine „Maßstäbe“; diese neue Gesellschaft war keine, die sich von unten organisierte: es wurde vielmehr in elitären und exklusiven Kreisen wie den Salons über sie sinniert, so dass sich das Denken dieser Salons auf die Gesellschaft übertrug; und diese Salons haben sich vom Ausnahmesalon der Rahel Varnhagen, in dem laut Arendt tatsächlich Juden und Nichtjuden gleich waren, weg entwickelt, und zwar hin zu den Salons ohne Juden, welche zunehmend (und zwar auch durch die von Heine gespotteten Romantiker) ausgeschlossen wurden.

Und da das Prinzip der Hierarchie in der Aristokratie verkörpert war, hat die Gesellschaft der Nationalstaaten gerade „die Merkmale mehr oder minder modifiziert, mehr oder minder karikiert reproduziert“, die die jeweilige Adelsgesellschaft ihr darbot — ganz unabhängig davon, ob sie aristokratisch gesinnt war oder nicht. Die adligen Privilegien waren eine Sache der Vergangenheit geworden, aber keineswegs die adlige Gesellschaft; ihre Maßstäbe haben im Gegenteil durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch die Gesellschaft bestimmt, sie lieferten „Grammatik und Syntax des gesellschaftlichen Lebens“ überhaupt. (…)56

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Fußnoten:

44. Arendt, Hannah (1981 [1959]): Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik. München: Piper.

45. Arendt, Hannah (2003 [1951]): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft: Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. München/Zürich: Piper.

46. Figuren in einem soziologischen Sinn wie in Norbert Elias‘ Begriff der Figuration, vgl. Elias, Norbert (2014): Was ist Soziologie? Bad Langensalza: Beltz Juventa.

47. Arendt, Hannah (2003): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 148-149.

48. Arendt, Hannah (2003): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 138-139.

49. Arendt, Hannah (2003): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 139.

50. Arendt, Hannah (2003): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 139.

51. Arendt, Hannah (2003): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 139.

52. Arendt, Hannah (2003): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 139.

53. Vgl. dazu Arendt, Hannah (2003): Was ist Politik? München: Piper Verlag.

54. Arendt, Hannah (2003): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 140.

55. Arendt, Hannah (2003): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 140.

56. Arendt, Hannah (2003): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 140.

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