[Kapital] Den ausrangierten Arbeiter:innen der Wachstumsideologie

Zum Tag der Arbeit arbeite ich (quasi „demonstrativ“) weiter an zwei Dingen, die beide auf der zwingend notwendigenden und dringenden Auseinandersetzung mit den Verheerungen der abgehalfterten Wachstumsideologie beruhen. Erstens will ich einen Vortragstext für eine Publikation zu Ende ausformulieren, auf den ich hier nur kurz eingehe. In diesem geht es darum, wie Versprechungen und Huldigungen an „die Jugend“ nicht nur die angesprochene Jugend charmant versuchen, „hinter die Fichte zu führen“ (es ist natürlich eine Metaphernanalyse), sondern auch „die Alten“: also uns Alle, wie wir sind, unabhängig vom Alter. Ich schlage am Ende vor, eine rhetorische Sensorik zu schulen, die jedes Mal alarmiert ist, wenn Begriffe und Phrasen wie „die Jugend“, „die jungen Leute“, „die Jugend ist unsere Zukunft“ usw. verwendet werden. Der Appell an „die Jugend“ ist ambivalent: er kann positiv sein, denken wir nur an die soziale Jugendarbeit, an politische Jugendorganisationen. Er kann sich aber auch als „misleading trope“ herausstellen, als rhetorische Falle. Letzteres hat ziemlich direkt mit dem Tag der Arbeit zu tun: an diesem Tag setzen sich traditionell Arbeiter:innen (und hoffentlich auch alle anderen) mit dem System von Arbeit, Lohn, Wertschöpfung und Ausbeutung auseinander. Da dieses System in unserem Fall — gemeint ist: im Fall des Planeten Erde — mit „Kapitalismus“ beim Namen zu nennen ist, arbeiten eingebettete Denker:innen und Politiker:innen (Verwalter:innen) oft mit der Trope des „Wachstums“. Und weil der ausgewachsene Zustand in orthodoxen, nicht-zirkulären Kapitalismusredaktionen logischerweise den Tod des Systems bedeuten würde, wird immer wieder an die Jugend appelliert: ihr ist Wachstum inhärent.

(Der Originaltext des Vortrags Youth in truth and fiction findet sich hier, die deutsche DeepL-Übersetzung hier)

Und damit komme ich zum zweiten und damit zusammenhängenden Feld, auf dem ich heute ackere. Nachdem Nick Srniceks Buch Plattform-Kapitalismus von 2017 in den letzten Wochen und Monaten eine sehr wichtige Anker-Referenz für die Auseinandersetzung mit Meinungskapitalismus und Desinformationskampagnen für mich geworden ist, arbeite ich weiter an einigen Auseinandersetzungen, Kommentaren und Kontextualisierungen mit diesem Grundlagenwerk (Anm.: ich übernehme die Bindestrichschreibweise von Plattformkapitalismus vom deutschen Buchtitel). Heute bin ich noch einmal ganz an den Anfang des Buches zurück, in den geschichtlichen Background, wo es ebenfalls um die Problematik des Wachstums geht — die schließlich zur Kapitalisierung von Daten und Meinungen führen wird. Dorthin, wo wir heute stehen: zu den Plattformen, die so viele noch irreführenderweise als Social Media oder soziale Netzwerke bezeichnen. Aber davon bin ich mit folgendem Zitat noch weit entfernt: ich halte mich gerade kurz vor dem Dotcom-Boom der 1990er Jahre auf (S. 21-22). Hier und auf den folgenden Seiten rafft Srnicek die Entwicklung des kapitalistischen Systems nach dem 2. Weltkrieg, mit den Schwerpunkten USA, Japan, Deutschland (dann auch Südostasien, China). Ich musste dabei an eine Person denken, die ich kurz vor dem ersten Corona-Lockdown in Neukölln in einer Nachbarschaftshilfe kennengelernt habe, die das Jobcenter finanziert. Dort landen unterschiedliche Menschen, vor allem aber solche, deren frühere Tätigkeit das System nicht mehr gebrauchen kann. Auf diesen und andere Menschen will ich nach dem folgenden, langen Zitat noch einmal zurückkommen. Man erfährt hier (noch) nichts über Plattformkapitalismus oder Digitalisierung — aber es passt eben sehr gut zum Tag der Arbeit:

Der zweite große Versuch, die Profitabilität wiederherzustellen, war ein Vorstoß gegen die Macht der Arbeitnehmer_innen. Überall in der westlichen Welt erlebten die Gewerkschaften einen Generalangriff, dem sie schließlich unterlagen. Sie bekamen es mit neuen rechtlichen Hürden zu tun, mit der Deregulierung unterschiedlicher Branchen und in der Folge mit Mitgliederschwund. Die Unternehmen nutzten diese Situation aus, um Löhne zu senken und immer mehr Arbeitsplätze auszulagern. Outsourcing betraf am Anfang hauptsächlich Arbeitsplätze, an denen transportable Güter hergestellt wurde (das heißt kleinere Konsumgüter), während nicht transportable Dienstleistungen (zum Beispiel Verwaltungstätigkeiten) und nicht transportable Güter (zum Beispiel Häuser) nicht betroffen waren. Doch in den 1990er Jahren konnten dank der Fortschritte in den Informations- und Kommunikationstechnologien auch viele Dienstleistungen ausgelagert werden. Die maßgebliche Unterscheidung war nun die zwischen Dienstleistungen, bei denen das nicht der Fall war (zum Beispiel Datenerfassung, Kundschaftsdienst, Auswertung von Röntgenbildern usw.). Erstere Tätigkeiten wurden, wann immer möglich, an heimische Subunternehmen vergeben, letztere gerieten immer mehr unter Druck durch die globalen Arbeitsmärkte. Das Hotelgewerbe illustriert diesen Trend anschaulich: Der Prozentsatz der mit Franchise-Lizenzen betriebenen Hotels in den Vereinigten Staaten stieg von einem unbedeutenden Wert in den 1960er Jahren auf 76 Prozent im Jahr 2006. Gleichzeitig wurde es üblich, alle damit zusammenhängenden Tätigkeiten an Subunternehmen zu vergeben: Reinigung, Management, Unterhaltung, Facilitydienste. Die treibende Kraft hinter diesen Veränderungen war der Wunsch, Sozialleistungen und Haftungskosten zu senken, um profitabel zu bleiben. Diese Veränderungen läuteten die großen Trends ein, die wir seither gesehen haben: immer flexiblere Beschäftigungsverhältnisse, niedrige Löhne und Druck seitens des Managements.

Nick Srnicek ([2017] 2018): Plattform-Kapitalismus (Aus dem Englischen von Ursel Schäfer). Hamburg: Hamburger Edition, S. 21-22.

Ich musste beim Thema Hotelgewerbe an diesen Mann von der Jobcenter-Maßnahme denken. Und um ein generelles Vorurteil gegenüber ALGII-Empfänger:innen zu bekämpfen, muss ich betonen, dass ich von den meisten Menschen in dieser Maßnahme sehr interessante und auch etwas tragische Lebensgeschichten erzählt bekommen habe. Darin ging es nicht um Arbeitsscheu oder Faulheit, sondern oft um ein Ausscheiden aus dem Trubel des Wettbewerbs und dem Voranrasen unserer Zeit, und zwar aus ganz unterschiedlichen Gründen. Eine Frau, die einmal selbständig war, hat mir gesagt, dass sie gar nicht genau wisse, was eigentlich passiert sei. Der besagte Mann, der früher einmal im Hotelgewerbe gearbeitet hat, erzählte mir, dass er über zwanzig Jahre lang für ein großes Versandunternehmen mit Tourismusabteilung um die Welt geflogen sei. Seine Aufgabe sei es gewesen, die Kontingentierung der Hotelbetten für die Pauschalreisenangebote zu organisieren. Er habe ein sehr gutes Leben gehabt, sei viel in Asien, Ozeanien, Afrika herumgekommen. Er habe seine afrikanische Ehefrau unterwegs kennengelernt, mit der er ein Kind hat, nachdem er hauptsächlich für den Bereich der Fernreisen zuständig war. Er saß fest im Sattel — doch die Entwicklungen der Zeit haben ihn arbeitslos gemacht, und als Grund erwähnte er in erster Linie neue Möglichkeiten der Kommunikation. Ein anderer Mann hat mir erzählt, er sei zu alt gewesen, um noch einmal umzuschulen: er sei früher Setzer bei einem Traditionsmedium gewesen. Doch diesen Beruf gibt es nicht mehr: damit ist er überflüssig geworden. Wenn Tag der Arbeit ist, geht es ganz besonders um diese Leute, die keine Arbeit haben. Es geht um Sicherheit und Würde für Alle — und nicht darum, auszusortieren, wer „zu alt“ geworden ist für die neue, Tech-basierte Arbeitswelt. Wer aber immer nur „Jugend“ und „Wachstum“ sagt, kann diese Menschen nicht sehen und versteht die Welt nicht.

Coverbild / Weiterführende Literatur:

Coverbild: Die Autorenschaft wurde nicht in einer maschinell lesbaren Form angegeben. Es wird Soman als Autor angenommen (basierend auf den Rechteinhaber-Angaben). – Die Autorenschaft wurde nicht in einer maschinell lesbaren Form angegeben. Es wird angenommen, dass es sich um ein eigenes Werk handelt (basierend auf den Rechteinhaber-Angaben)., CC BY 2.5, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=340782

Nick Srnicek ([2017] 2018): Plattform-Kapitalismus (Aus dem Englischen von Ursel Schäfer). Hamburg: Hamburger Edition.

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