[Bosnia] Symposion der Südosteuropa-Gesellschaft: Jugend als Fiktion und Wirklichkeit

Am 25. Februar 2022 hatten Emina Haye und ich die Gelegenheit, unser Blog- und Buchprojekt Bosnien in Berlin (BiB) auf einem Symposium der jährlichen Sitzung des wissenschaftlichen Beirats der Südosteuropa-Gesellschaft (SOG) in Berlin vorzustellen. Die SOG (mit Sitz in München) ist eines der Flaggschiffe auf dem Gebiet der politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und wissenschaftlichen Beratung und Forschung zu Südosteuropa im deutschsprachigen Raum und wird institutionell gefördert vom Auswärtigen Amt. Das öffentliche Symposium mit dem Titel 30 Jahre nach Beginn des Krieges in Bosnien und Herzegowina: Was bedeutet es, sich auf die junge Generation zu verlassen? wurde von Dr. Heike Karge von der Universität Regensburg organisiert (Programm).

Öffentliche Jahreshauptversammlung der SOG, Quelle: Thomas Schad.

Mit uns nahmen drei Podiumsteilnehmer:innen aus Bosnien und Herzegowina und Serbien teil, die ihre wertvollen Forschungsprojekte und die Erfahrungen ihrer aktivistischen Arbeit mit uns teilten: zuerst Dino Dupanović aus Bihać (Bosnien-Herzegowina), der an der Philosophischen Fakultät der Universität Sarajevo promoviert und über das Thema Srebrenica: The Paradigm of Bosniak Suffering referierte (Srebrenica: Das Paradigma des bosniakischen Leidens). Anschließend schilderte Ajna Jusić aus Sarajevo, eine der Hauptaktivistinnen der Nichtregierungsorganisation Zaboravljena djeca rata (Die vergessenen Kinder des Krieges), ihre persönlichen und gesamtgesellschaftlichen Erfahrungen aus ihrem beeindruckenden Engagement darum, ein Tabu einzureißen: das Thema der Kinder, die während des Bosnienkrieges durch Vergewaltigung gezeugt worden sind und die zusammen mit ihren Müttern oft unter Stigmatisierung und Ausgrenzung zu leiden haben, während die Vergewaltiger oft auf freiem Fuß leben. Als letzte Rednerin vor unserem Beitrag berichtete Nataša Govedarica aus Belgrad, die bei Forum Ziviler Friedensdienst (Forum ZFD, Hauptsitz in Köln) tätig ist und ihre Arbeit über sozial engagiertes Theater (und Kultur im weiteren Sinne) als Plattform für die Vergangenheitsbewältigung vorstellte.

Im folgenden veröffentliche ich meinen eigenen (übersetzten) Vortragsteil, den ich in englischer Sprache gehalten und in der Originalfassung auch auf dem Blog von Bosnien in Berlin bereits gepostet habe (Youth in Truth and Fiction). Dort findet sich auch der erste Teil unseres Vortrags von Emina Haye, die den Entstehungshintergrund unseres Projektes fokussierte (Bosnia in Berlin: German Postmigrant Memory Culture). In meinem Vortrag habe ich die Trope der Jugend kritisch auseinandergesetzt – was vielleicht der einen oder anderen Leser:in bereits bekannt vorkommen mag. Ich nehme darin nämlich einen Aspekt wieder auf, den ich im November 2021 als Antwort auf Merkels und Obamas Appell an die Jugend anlässlich des Weltklimagipfels zu Glasgow bereits kritisiert hatte, und der auch in den Morbiden Wiesen kurz zuvor durchschien: immer, wenn von „post-jugendlichen“ Menschen Hoffnung und Erlösungsphantasien an „die Jugend“ geknüpft werden – womöglich durchaus eingedenk ihrer eigenen, vielleicht nicht ausreichend kritisch reflektierten, in jedem Fall aber unwiederbringlich verflossenen Jugend – ist Vorsicht geboten. Auch, weil das Buch- und Blogprojekt Bosnien in Berlin für mich persönlich beinhaltet, über das eigene Coming of Age zu schreiben, sah ich mich als Person „who came of age“ bereits mit dem ersten Absatz des Podiumsprogramms gezwungen, diese rhetorische Rahmung zu hinterfragen. Im einleitenden Abschnitt des Programms des Symposiums lautete sie so:

Wenige Tage vor seinem Amtsantritt als neuer Hoher Repräsentant für Bosnien und Herzegowina appellierte Christian Schmidt Ende Juli 2021 an die Öffentlichkeit, in Bosnien und Herzegowina „den Blick auf die junge Generation [zu] setzen, die EU, der Hohe Repräsentant und alle miteinander. Denn nur auf die ergrauten Herren zu setzen, das wird nicht ausreichen. Ich setze auf die junge Generation!“

Quelle: Programm des Symposions, zit. nach Bosnien in Berlin

Und damit komme ich zum Vortrag.


Die Jugend: ein schöner Rahmen um ein komplexes Bild

Ich fühle mich autorisiert und auch gedrängt, diesen Rahmen der ‚Jugend‘ zu hinterfragen, da ich mich nicht eindeutig als junge Person betrachten kann: Ich bin 42 Jahre alt. Dies erlaubt es mir jedoch, auf eine mindestens 22jährige Perspektive auf Youth Empowerment (in etwa: „Jugendermächtigung“) in Bosnien und Deutschland zurückzublicken: Direkt nach der Schule ging ich nach Bosnien und arbeitete für den deutschen Jugendverein Schüler Helfen Leben (SHL) sowie die Kampagne für Kriegsdienstverweigerung (Kampanja za Prigovor Savjesti u BiH). Eine meiner ersten Aufgaben im Jahr 2000 war die Mitorganisation eines Jugendgipfels mit einem sehr prominenten und wichtigen Gastredner: Wolfgang Petritsch, damals Hoher Repräsentant der Internationalen Gemeinschaft. Und raten Sie mal, was er sagte: fast das Gleiche wie der heutige Hohe Repräsentant Christian Schmidt. Er betonte die Rolle der Jugend als künftige Führungspersönlichkeiten des Landes. Wir alle, auch ich, waren von diesen Worten begeistert und froh darüber: die Zukunft gehörte uns!

Bei einer Ulična Akcija in der Ferhadija-Straße im Winter 2001/2002. Bild: Naida Balić.

Man könnte sagen, dass es ein Evergreen ist, die Jugend als die wahren Retter ihrer eigenen Zukunft darzustellen. Die wohl bedeutendsten, jüngsten Beispiele für diese Art rhetorischer Jugendermächtigung finden sich auch in den Reden von Barack Obama und Angela Merkel auf dem internationalen Klimagipfel in Glasgow im vergangenen Jahr (vgl. Blogpost vom 11. Nov. 2021). Und wie wir wissen, war Greta Thunberg – als ikonische Vertreterin der Jugend – mit dem ganzen Auftritt nicht sonderlich zufrieden. Es ist also an der Zeit, einige kritische Fragen zu stellen: Was ist mit all den selbstbewussten Jugendlichen von damals? Mit den jungen Leuten von vor zwanzig, dreißig Jahren? Ist es also nicht höchste Zeit zu evaluieren, wohin all das vergangene Jugend-Empowerment geführt hat?

Wenn ich vor und zurück schaue, sehe ich natürlich einige beeindruckend gelungene Fälle von Youth Empowerment. Aber unter dem Strich sehe ich auch ein Projekt, das im Großen und Ganzen gescheitert ist – zumindest, wenn es um die Auswirkungen des Youth Empowerment auf die staatliche Reife in BiH geht, die permanent unter heftigen Angriffen steht. Wir alle wissen, dass die Auswanderung ein großes Problem ist: viele junge Menschen fliehen buchstäblich aus dem Land, und ein Blick auf die Facebook-Gruppe Odliv Mozgova – das bedeutet Braindrain – mit ihren fast 30.000 Mitgliedern verdeutlicht am besten, was ich meine.

Das Symposion mit Heike Karge (o.l.), Dino Dupanović (u.r.), Ajna Jusić (o.r.), Nataša Govedarica (u.l.), Emina Haye (o.l. ganz rechts), Thomas Schad (o.l. mittig). Screenshot: Aldina Čemernica

Allerdings ist das Verhältnis zwischen Jugend und Zukunft heute drängender als in den frühen 2000er Jahren, als die allgemeine Stimmung von der allgegenwärtigen Hoffnung und dem Glauben geprägt war, dass die Dinge zwangsläufig besser werden würden – was sich als Trugschluss herausgestellt hat. Heute ist jede Art von Zukunft zuerst mit der Meta-Katastrophe des Klimawandels konfrontiert – weshalb ich, offen gesagt, sehr besorgt bin, wenn die Lösung unserer Probleme auf die Jugend und in die Zukunft projiziert (und damit vertagt) wird. Die fortschreitende Katastrophe des Klimawandels zwingt uns zum Handeln in der Gegenwart – und nicht erst in der Zukunft. Und damit komme ich zur Wissenschaftsperspektive, denn Wissenschaftler:innen müssen sich demnach selbst fragen, wie sie sich in den Prozess des Politischen einbringen können. Bei der Beschäftigung mit Literatur liegt die Antwort auf diese Frage nicht gerade auf der Hand.

Wahrheitsfindung in Wissenschaft und Literatur

Wissenschaft ist eine wahrheitssuchende Mission, und Wissenschaft ist auch das, was die Südosteuropa-Gesellschaft anstrebt – weshalb ich die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem literarischen Projekt von Bosnien in Berlin und der Wissenschaft erneut aufgreifen werde; denn Wissenschaft wird meist als positivistischer, nicht-fiktionaler Zugang zu bewiesenen Fakten verstanden.

Die größte Wahrheit, so wurde die Schriftstellerin Lana Bastašić vor einigen Tagen im Sarajevoer Oslobođenje zitiert, könne manchmal in der größten Fiktion gefunden werden. Und hier möchte ich an die konstruktive Rolle der Fiktion als Utopie erinnern, die später, wenn auch in abgewandelter Form, zu Wirklichkeit und sogar zu Wissenschaft werden kann. Denken wir nur an Thomas Hobbes‘ Leviathan: Hobbes bemühte im Leviathan eine mythologische (literarische, biblische) Figur, die ihm half, eine Theorie des Politischen, des Staates und des Souveräns des Staates als politische Körperschaft zu entwickeln – die später von der politischen Wissenschaft zu Wissenschaft und zu wissenschaftlicher Ideengeschichte erklärt wurde (Anmerkung: Hobbes bevorzugte als Akteure jedoch Erwachsene, und nicht die Jugend). Auf diese Weise kann Literatur gewissermaßen als Inkubator der Wissenschaft wirken (vgl. auch das Konzept von Inkubator Metamorφ).

Der Leviathan. Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons

Aber Literatur ist oft auch notwendig, um eine Wahrheit zu erzählen, die zu frisch ist, um sie auf eine nicht-narrative, nicht-fiktionale und nicht-literarische Weise zu erzählen. Denken Sie an Geschichten, in denen die Protagonisten noch leben und deren Benennung schmerzhaft, für eine oder beide Seiten riskant oder sogar gefährlich sein kann. Im Fall von Bosnien in Berlin haben wir zwei Beiträge, die als Theaterstücke geschrieben wurden, während in anderen Fällen echte Namen durch Pseudonyme ersetzt wurden. Denken Sie auch an den großartigen Film Aida, Quo Vadis? von Jasmila Žbanić, der aus der Perspektive einer fiktiven Figur erzählt wird, aber auch eine sehr wahrheitsgetreue Geschichte ist; und denken Sie auch an Susan Sontags Inszenierung des Wartens auf Godot (Waiting for Godot) im belagerten Sarajevo – ein literarischer Godot, der nie kommt, aber mit der figurativen Internationalen Gemeinschaft korreliert, die nie wirklich interveniert. Auf Godot wurde schon auf sehr vielen Bühnen gewartet — und Godot ist dadurch auch heute noch eine sehr lebendige, man könnte sagen: reale Figur.

En attendant Godot, Festival d’Avignon, 1978, Fernand Michaud, CC0, via Wikimedia Commons

Ein dritter Grund, warum Literatur ein wichtiges Feld für die Wahrheitssuche und die Wissenschaft ist, besteht darin, dass sie uns nicht nur erlaubt, Geschichten zu erforschen, zu kontextualisieren und zu konstruieren – sondern auch, um sie zu dekonstruieren, zu fragmentieren und dadurch vielleicht „den Elefanten im Raum“ besser zu sehen und zu benennen. Literarische Geschichten können, wie Geschichtsschreibung oder die Geschichte (Story) in der Geschichte (History) analysiert werden – wie Hannah Arendt und Walter Benjamin es vorgeschlagen haben. Ihnen zufolge ist Fragmentierung der beste Weg, um die Pathologie im Verlauf der Geschichte aufzudecken, die manchmal auch deutlich wird, wenn wir sagen: „Seht her, es ist wieder passiert“ oder „Geschichte wiederholt sich“; und ähnliche Aussagen kann man in diesen Tagen in den Zeitungen und auf Online-Plattformen lesen, wenn man sich der russischen Invasion in der Ukraine zuwendet.

Es gibt eine Methode zur Fragmentierung: die Tropen- oder Metaphernanalyse. Eine führende Trope oder Metapher, die sich gewissermaßen selbst wiederholt, geht mit ‚der Jugend‘ einher. Natürlich will ich damit nicht sagen, dass der Appell an die Jugend eine Pathologie ist; doch die Metaphern, die oft mit der ‚Jugend‘ assoziiert werden – wie die Vegetationsmetapher des Wachstums, der Reife und der Souveränität – sind sehr komplexe semantische Einheiten, die auf unterschiedliche Weise verstanden und entschlüsselt werden können. Sie verdienen von Zeit zu Zeit eine kritische Neuauswertung, um nicht zu versteinern und zum festen Rahmen des Diskurses zu werden, den niemand anfassen und in Frage stellen darf.

In bekannten und überkommenen Zukunftsvisionen – you name the elephant in the room – wird beispielsweise der Lauf der Zeit in der Metapher des Wachstums vorgestellt: Die Jugend wird als Blüte des Lebens verstanden, die schließlich reife Früchte tragen werde. Doch mit dem Klimawandel ist das alles sehr fragwürdig geworden: Was, wenn „Schnee auf die Blüte, auf die Frucht fällt“ – um aus der berühmten und hochmetaphorischen Sevdalinka Snijeg pade na behar na voće zu zitieren. Und vielleicht, so ganz nebenbei gesagt, sollte außerdem eine neue Sevdalinka über Hitze und Dürre geschrieben werden.

Es gibt noch andere Fallstricke, die vermieden werden sollten, wenn man sich rhetorisch an die Jugend richtet; das Problem mit der Zeit habe ich bereits erwähnt. Wenn wir jedoch, zweitens, davon ausgehen, dass die jungen Menschen morgen alles viel besser regeln werden als die heutigen mittleren oder älteren Erwachsenen – dann kann dies den Blick auf den tatsächlichen Anteil an Handlungsfähigkeit, Wohlstand, Macht und Verantwortung zuunrecht verstellen. Ich komme damit zum Ende meines Beitrags – aber ich schließe nicht in Verzweiflung oder Hoffnungslosigkeit, denn ich glaube aufrichtig an die transformative Kraft der Wissenschaft als Prozess der Wahrheitssuche und der Wissenschaft als systematische Sprache der Kritik. Ganz gleich, wie schlecht die Wissenschaft Akademiker:innen oft behandelt.

Unvermittelt aus dem Ego-Archiv aufgetaucht: Erinnerst du dich an Sarajevo? — Ein Film von Nihad Krešeljaković über das Aufwachsen mit einer funktionierenden Handkamera im belagerten Sarajevo, den ich im März 2002 in Sarajevo gesehen habe.

Nachbemerkung: es ist geplant, dass die Panelist:innen des Symposions eine Publikation für die Südosteuropa Mitteilungen der SOG auf der Grundlage ihrer Beiträge verfassen, weshalb sich dieser Text dort womöglich stellenweise wiederfinden wird.

3 Antworten auf „[Bosnia] Symposion der Südosteuropa-Gesellschaft: Jugend als Fiktion und Wirklichkeit

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  1. Wieder einmal sehr anregend. Etwas, das vielleicht selbstevident scheint, aber ich dennoch als Gedankenanregung mitnehme ist die Passage über das In-die-Pflicht-nehmen der und Hoffen auf die Jugend, was in sich die Vertagung wichtiger Fragen auf spätere, zu späte Zeiten birgt: „wenn die Lösung unserer Probleme auf die Jugend und in die Zukunft projiziert (und damit vertagt) wird.“ Der Inkubator, in dem die Geschichte in der Geschichte heranreift, steht und fällt mit der Weitergabe des literarischen und damit gedanklichen Erbes an die jüngeren Generationen. Wir dürfen die Erzählung nicht enden lassen, denn die fragmentierende Methode betrifft auch uns: Wir alle können und sollten Splitter der Menschheitserzählung sammeln und hüten, und dort, wo sich unsere Wege kreuzen, führen wir die Fragmente wieder zusammen und unsere Geister können darüber erneut brüten.

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  2. Vielen Dank, lieber Vincent. Ich bin sprachlich noch nicht so ganz zufrieden damit, denn kurioserweise habe ich meinen eigenen Beitrag zuerst mit DeepL aus dem Englischen übersetzt und dann leicht überarbeitet (aber man ist ja auch immer selbst sein schärfster Kritiker). Danke auch für deine weiteren Gedanken 🙂

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