[NEOPOLIS] Ethnokratie versus Demokratie: Israel/Palästina, Bosnien-Herzegowina und deutsche Außenpolitik

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Ich habe gerade Omri Boehms zweites (bzw. erstes) Buch zu Ende gelesen, nämlich „Israel — Eine Utopie“. Vor dem Hintergrund des Gelesenen kann ich nicht anders, als ein paar weitere Gedanken über die deutsche Innen- wie Außenpolitik sowie über ihre Visions- und Strategielosigkeit zu notieren. Ich bin mir natürlich absolut darüber im Klaren, dass man sich gegenwärtig in Deutschland durch nichts anderes stärker marginalisieren kann, als über freies Denken out-of-the-box. Das gilt ganz besonders, wenn sich dieses Denken auf Israel/Palästina bezieht und der offiziellen Haltung der deutschen Außenpolitik widerspricht. Genau das aber — nämlich einen Widerspruch zur Zweistaatenlösung als angeblich „einziger Lösung“, will ich formulieren, und zwar in Anlehnung und Auseinandersetzung mit Boehms Position. Ich sollte wahrscheinlich unbedingt hinzufügen: eine solche abweichende, kritische Position kann man auch einnehmen, ohne das Existenzrecht Israels anzuzweifeln oder zu untergraben.

Ich will aber in diesem Post noch ein wenig darüber hinaus gehen.

Mir hat sich beim Lesen von Boehms Buch und der Auseinandersetzung mit dem Begriff der Utopie nämlich noch ein weiterer, sehr wichtiger Gedanke zu Bosnien aufgedrängt. Denn wenn es so etwas gibt wie den Ausgangspunkt meiner eigenen Politisierung, dann ist dies mit absoluter Sicherheit die Auseinandersetzung mit der Zerstörung Bosniens in den 1990er Jahren, gewissermaßen aus „teilnehmender Beobachtung“. Die relativ weitreichende Zerstörung Bosniens kann als die Schattenseite einer Utopie bezeichnet werden — nämlich als Dystopie. Was aus Bosnien gemacht wurde, ist offensichtlich: eine dysfunktionale Mehrfach-Ethnokratie, der als Gesamtstaat enorme Probleme mit dem Grundprinzip der liberalen Demokratie inhärent sind. Nun wurde andererseits kürzlich frohlockend verkündet, dass der EU-Beitrittsprozess für Bosnien-Herzegowina eröffnet sei — was wohl das generell schlechte Wetter in der von Orbánisten, anderen Rechtspopulisten sowie der permamnenten Putin-Drohung gebeutelten EU irgendwie aufbessern sollte. Anders — sprich: rational — lässt sich dieser Schritt nämlich unmöglich erklären. Bosnien-Herzegowina ist weiterhin genau das, was es seit Abschluss des Dayton-Abkommens 1995 ist: ein identitäres Provisorium, das hinten und vorne nicht funktioniert. Es hat keineswegs die Errungenschaften hin zum Acquis Communautaire vorzuweisen. Es handelt sich um eine sogenannte „politische Entscheidung“.

Aber zuerst zu Israel/Palästina oder Palästina/Israel.

Fast die ganze restliche, (noch) demokratisch gesinnte Welt, einschließlich weiter Teile der israelischen Öffentlichkeit (ich beziehe mich auf Boehm und andere), weiß, dass Israel/Palästina nur über gleiche Rechte für Alle befriedet werden kann. Die deutsche Außenministerin hingegen predigte erst im Januar 2024 in ihrer unergründlichen Weisheit, die Zweistaatenlösung allein sei „die einzige Lösung„. Soweit ich das überblicke, hat sich an dieser offiziellen deutschen Haltung bis heute nichts geändert. Zur Ehrenrettung der Ministerin sei gesagt: sie als Person ist austauschbar. Die Haltung wohl eher nicht. Die Kritik ist daher bitteschön nicht primär ad personam zu verstehen, sondern als Kritik an dieser einseitigen Sicht, die außer Deutschland kaum mehr jemand vertritt.

Nota bene – und bevor hier irgendein identitätspolitisches, deutsches Geschrei losgeht (worauf in diesem Themenfeld ja quasi Verlass ist):

Nicht nur Omri Boehm, der als israelischer und deutscher Staatsbürger in Galiläa aufgewachsen ist, gilt eine föderative bzw. binationale/multinationale Einstaatenlösung hin zu einer echten, liberalen Demokratie in Israel/Palästina (Palästina/Israel) als einzige, friedensstiftende Lösungsmöglichkeit für den Nahen Osten. Allein schon deshalb lohnt sich die Lektüre Boehms‘ Buch ungemein. Omri Boehm legt nämlich für die deutsche und internationale Leserschaft Folgendes offen: Auch Theodor Herzl (der Grandseigneur des Zionismus); Achad Ha’am (ein hierzulande wenig bekannter Journalist); aber auch die hier sehr bekannten und geschätzten Hannah Arendt, Martin Buber, Gershom Scholem mitsamt der geschassten Brit-Schalom-Bewegung; selbst eine Zeitlang Wladimir Zeev Jabotinsky (der sich als revisionistischer Zionist einen Namen gemacht hat), David Ben-Gurion (der berühmte israelische Staatsmann) sowie weitere Zionistinnen und Zionisten waren davon überzeugt, dass nur eine binationale Lösung eine echte Lösung sein kann. Dies widerspricht der deutschen Position also ganz eklatant. Genauer dazu ist in Boehms zwei letzten Kapiteln nachzulesen.

Entgegen des taugenichtsigen, pop-islamistischen und/oder des antisemitischen Mainstreams, den man auch hierzulande auf identitären und identitätspolitischen Demonstrationen immer wieder antrifft, war und ist der Zionismus eine heterogene Strömung, wie wir aus Boehms Überblick erfahren. Auch das ist eine wichtige Feststellung, die hierzulande, ob aus Desinteresse oder Bequemlichkeit, wenig Bekanntheit erreicht hat. Boehm argumentiert etwa für einen inklusiven, toleranten Zionismus, der sich aber erst noch zu verändern habe — was aber möglich sei. Wenn ich ihn richtig verstehe, dann könnte man diesem Zionismus einen — ich nenne das jetzt so — „Palästinismus“ beiseite stellen: Beide zusammen könnten die Utopie einer „Republik Haifa“ bilden, wo sich beide Seiten über gleiche Rechte träfen, indem sie sich für einen binationalen Staat entschieden, der ohnehin der Wirklichkeit im Westjordanland, auf den Golanhöhen und Israel eher entspräche als eine Zweistaatenlösung, die allein aufgrund der existierenden israelischen Siedlungen nur noch über einen politisch nicht machbaren Preis zu erreichen sei.

Nun wird aber Deutschland von sehr, sehr vielen — um nicht zu sagen: von zig-Millionen — Nahost-Expertinnen und Experten bewohnt, die alles schon qua Identität grundsätzlich besser und sogar am besten wissen. Sie wissen: alles jenseits der Zweistaatenlösung ist entweder gleichzusetzen mit dem Wunsch, Israel zu zerstören, oder aber eine Utopie. Unter ‚Utopie‘ wird aber so etwas wie ‚Irrsinn‘ verstanden, eher im Sinne von „Illusion“. Als blanker Irrsinn oder Spinnerei, so dieses gegen jedes Argument abgehärtete Denken-in-der-Box, ist eine Utopie nämlich nie und nimmer verwirklichbar. Das einzige, was gehe, sei eben genau das, was „Zweistaatenlösung“ genannt wird. Obwohl dieses Konzept entweder völlig undurchdacht ist (ich hoffe, das steht hinter dieser Haltung) — oder es ist schier skrupellos. Zu letzterer Möglichkeit grüßt die Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts mit ihren demographischen Gewaltprogrammen. Nennen wir es verharmlosend „demographic engineering“ (genauer dazu in meiner Magisterarbeit).

Aber kommen wir noch einmal zum Begriff der Utopie. Nun haben alle politischen Projekte historisch betrachtet immer als Utopien begonnen. Man denke bloß an Thomas Hobbes‘ Leviathan. Auch Nationalstaatlichkeit, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, das Ende des Feudalsystems, der Beginn der Demokratie im modernen Sinn — das alles waren einst Utopien. Das Wort ‚Utopie‘ (von ‚u topos‘) bedeutet im wörtlichen bzw. etymologischen Sinn „Nicht-Ort“.

Utopien enden aber nicht etwa in der Ernüchterung über ihre angebliche Unverwirklichbarkeit (vgl. „die einzige Lösung“) — sondern genau dort, wo ein Gemeinwesen von einem Nicht-Ort zu einem Ist-Ort wird. Erst dann löst sich die Utopie auf, wenn nämlich ein realer Topos errichtet wird. Ganz im Gegenteil bleibt eine Utopie aber bestehen, solange vom Nicht-Ort nicht fortgegangen wird. Die Utopie ist also eine Vision. Und wir wissen, dass Visionen nicht ohne Weiteres zu erreichen sind: Um eine Vision zu erreichen, bedarf es einer Strategie. Und natürlich gibt es solche und solche Utopien und Visionen — positive wie negative. Letztere werden Dystopien genannt, um es noch einmal zu wiederholen.

Wie eingangs angekündigt komme ich noch einmal auf Bosnien und die Frage der Außenpolitik zurück.

Bosnien-Herzegowina (BiH) ist natürlich (auch) ein sehr realer Ort und als solcher keineswegs als Utopie zu bezeichnen. Nur was für ein Ort ist und war es?

In der sozialistischen Periode war BiH, neben allen Schattenseiten des damaligen Systems, ein Ort der „Differenzgemeinschaft“. Wie heute wurden die einzelnen nationalen Gruppen als „konstitutive Völker“ oder „konstitutive Nationen“ (konstitutivni narodi) bezeichnet — doch sie alle hatten einen supra-ethnischen Rahmen, innerhalb dessen sie weitgehend friedlich koexistieren konnten. Ab den 1980er Jahren setzte aber (ausgehend von Milošević in Serbien, truth be said) ein identitätspolitischer Trend ein, der mit den 1990er Jahren auf alle „konstitutive Völker“ übersetzte und schließlich seinen Höhepunkt nahm: Krieg. Bosnien zerriss es. Bis heute leidet das Land unter den Folgen. Die damaligen „konstitutiven Völker“ werden noch immer so genannt. Doch was fehlt, ist ein supra-ethnischer Rahmen, so sehr sich auch die internationalen Statthalter bemühen mögen, das Gegenteil zu behaupten. Egal, wo man sich in BiH heute bewegt: das Verbindende, das Gemeinsame jenseits von Identität: es fehlt, und dort, wo es vertreten wird, wird es strukturell bekämpft und sogar verächtlich gemacht.

Mir ist bei Boehms Buch in genau diesem Sinn eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen Israel und dem heutigen BiH aufgefallen. Wie Boehm feststellt, dürfen sich israelische Institutionen nicht als israelisch bezeichnen (dazu gibt es bindende juristische Entscheidungen), sondern müssen das Ethnonym jüdisch verwenden. Demnach wird der gesamte Staat als jüdischer Staat, nicht aber als israelischer Staat verstanden. In BiH hingegen ist der Staat zwar ein bosnischer, nur spielt die staatliche Ebene keine große Rolle. Auf sub-staatlicher Ebene werden Kantone und Entitäten sowie weitere Institutionen ethnonational bestimmt. Das geht in BiH soweit, dass Bürger:innen aller konstitutiver Völker zwar einen bosnischen Pass haben können, aber sie können sich deswegen noch lange nicht als bosnisch im staatsbürgerlichen Sinn bezeichnen; zwar können sie sich als bosnisch definieren, nehmen dafür aber einen Verlust von Rechten in Kauf: bosnisch ist keine Bezeichnung eines konstitutiven Volkes, sondern rangiert zusammen mit anderen Minderheiten unter der Kategorie „Andere“.

Ich frage mich seit langem, welche Rolle demokratische Akteure von außerhalb BiHs, die heute so eine große Rolle spielen (darunter Deutschland), hier eigentlich einnehmen und welche Position sie vertreten. Welche Vision haben sie? Welche Strategie gibt es — abseits von Gutwetternachrichten?Warum wird bei Ländern wie BiH und Israel in Kauf genommen, dass Staatlichkeit zu einem Grad ethnonational definiert wird, dass eine echte Demokratie im Sinn gleicher Rechte für Alle strukturell betrachtet unmöglich ist — während man so etwas im eigenen Land und gemessen an eigenen Demokratiestandards niemals akzeptieren würde?

Hat nicht Herfried Münkler immer wieder gemahnt, es fehle den Europäern — und unter ihnen den Deutschen im Besonderen — an jeglicher Strategie und Vision?

Er hatte noch nie so recht.

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