Wer die gemeinsame Sprache (zajednički jezik) versteht, sich für Zeitgeschichte, Literatur und den Kulturbetrieb interessiert und das weltoffene, kosmopolitische Belgrad sucht, sucht es am besten auf dem Festival KROKODIL. Es wurde in diesem Jahr vom gleichnamigen Verein bereits zum 13. Mal organisiert und fand vom 26. – 29. August 2021 statt. Aufgrund des plötzlichen Schlechtwettereinbruchs, der auf eine wochenlange Hitzeperiode folgte, fand ein großer Teil der Veranstaltungen in diesem Jahr nicht wie üblich im Amphitheater vor dem Museum Jugoslawiens (Muzej Jugoslavije) statt — sondern in den Räumlichkeiten des Zentrums für kulturelle Dekontaminierung (Centar za Kulturnu Dekontaminaciju) und der Jugoslawischen Kinothek (Jugoslovenska Kinoteka). Wie mir Vladimir Arsenijević erklärte, seien in diesem Jahr deswegen auch weniger Gäste als sonst auf dem Festival gewesen: bei den Veranstaltungen im Freien bringe es das Festival locker auf über Tausend Menschen im Publikum. Trotzdem erschienen mir alle Veranstaltungen sehr gut besucht.

Doch was hat es mit dem seltsamen Namen KROKODIL auf sich? – Die Bezeichnung KROKODIL steht akronymisch für „Literarisches Regionales Zusammenkommen, das Langeweile und Lethargie zurückweist“ (Književno Regionalno Okupljanje Koje Otklanja Dosadu I Letargiju). Es ist also im Kern eine Literaturveranstaltung — doch es ist gleichzeitig ein sehr politisches Festival, das sich bewusst außerhalb bzw. überhalb der nationalen und nationalistischen Rahmungen der postjugoslawischen Einzelräume der Region positioniert.
Für Außenstehende ist erwähnenswert, dass mit der Verwendung des Wortes ‚Region‘ (regija) in der Region fast immer der namenlose Elefant Jugoslawien den Raum betritt: das Wort ‚Region‘ funktioniert teilweise wie ein sogenanntes Schibboleth, kann aber auch als unvollständiges Sprachtabu verstanden werden: für Sprecherinnen der gemeinten Region wird das Wort unmissverständlich als Synonym für die „Jugosphäre“, den „post-jugoslawischen Raum“ oder die „Nachfolgestaaten Jugoslawiens“ verwendet. Außenstehende könnten dagegen unter Region auch das erweiterte Südosteuropa verstehen, einschließlich Griechenlands, Bulgariens, Rumäniens, Albaniens und der Türkei; ein Blick auf die Menüstruktur eines beliebigen Newsportals der Region wird jedoch veranschaulichen können, dass nicht-postjugoslawische Länder Südosteuropas meistens unter der Kategorie ‚Welt‘ (Svijet/Svet) behandelt werden. Gleichzeitig wird mithilfe der Umschreibung Region das Wort Jugoslawien und all seine Derivate vermieden, was als Konfliktvermeidungsstrategie interpretiert werden kann.
Die Vermeidung der Benennung des jugoslawischen Elefanten im Raum hat natürlich ihren Ursprung in den Kriegen der 1990er Jahre. In diesem regionalen Kontext stehen nicht nur der gesamte Literaturbetrieb, sondern in eben solchem Maße die Historiographie und der Raum des Politischen unter starkem, anti-politischem Druck, weshalb eine Kontextualisierung gewissermaßen unausweichlich erscheint. Für den Kulturbetrieb, in dem sich viele Beteiligte einer lingua franca bedienen — nämlich der gemeinsamen Sprache — und einander problemlos verstehen können, gibt es natürlich noch eine Reihe weiterer, ernstzunehmender Gründe, warum es Initiativen und Festivals wie KROKODIL, Konferenzen wie Histoire pour la liberté und andere Projekte gibt, die sich für die Herstellung eines weiteren Raums des gemeinsamen Inter-Esse einsetzen. Den Begriff des Inter-Esse und des Politischen (sowie die dazu im Gegensatz stehende Anti-Politik) werde ich am Ende dieses Berichtes noch einmal abschließend diskutieren. Doch zunächst will ich den Veranstalter KROKODIL und die Hintergründe noch ein wenig genauer ausleuchten. Auf seiner Homepage stellt der Verein sein Selbstverständnis folgendermaßen dar:
Der Verein KROKODIL widmet sich der Schaffung literarischer, kultureller und gesellschaftspolitischer Programme und Inhalte, mit dem Ziel, die literaturinteressierte Öffentlichkeit zu entwickeln sowie einer Öffentlichkeit, die im Allgemeinen an Kultur interessiert ist, der Förderung der politischen Dialogs, der Versöhnung und der Wiederherstellung der unterbrochenen kulturellen Beziehungenvornehmlich auf dem Gebiet des Wetslichen Balkans, aber auch der Vertiefung des wechselseitigen Verständnisses und der Akzeptanz von Unterschiedlichkeit auf dem europäischen Kontinent und darüber hinaus.
Homepage KROKODIL (eigene Übersetzung)
Die für beide Seiten nicht risikofreie und mutige Kombination von Literatur und Historiographie in regionaler Perspektive, sowie die gesellschaftliche, literarische und politische Stellungnahme aus dieser Schnittmenge können inzwischen als Tradition des Festivals bezeichnet werden. Bevor der Verein KROKODIL als nicht-universitärer Netzwerkpartner und Projektleiter von Histoire pour la liberté aktiv war, organisierte er das bereits erwähnte, ebenfalls historiographische Projekt Ko je prvi počeo? (Wer hat zuerst angefangen?). Dieser Programmtitel stellt eine stereotypische und wiedererkennbare Phrase in allen Teilöffentlichkeiten des gemeinsamen Raums der gemeinsamen Sprache dar, wenn es um die Klärung geht, wer die Kriege der 1990er Jahre zu verschulden hat. Es muss nicht im Einzelnen ausgeführt werden, dass alle nationalistischen Parteien ihre je eigene Erklärung dazu verteidigen. Gegen diese oft unsachlich konstruierten Erklärungen will das Projekt Ko je prvi počeo? die Historiographie insgesamt verteidigen (vgl. Deklaration Odbranimo Historiju). Ein weiterer Meilenstein war die Deklaration über die gemeinsame Sprache (Deklaracija o zajedničkom jeziku) aus dem Jahr 2017, die ein Partnerschaftsnetzwerk aus BiH, Kroatien, Serbien und Montenegro unter als Ergebnis des Projekts Sprachen und Nationalismen (Jezici i nacionalizmi) formuliert hat und eine beachtliche Liste prominenter Unterzeichnerinnen vorweisen kann. [LINK]
Am Samstagabend (28.8.) fanden drei Programmpunkte im Zentrum für kulturelle Dekontaminierung statt. Die erste Runde literarischer Beiträge wurde von Mima Simić (Zagreb) und Galeb Nikačević (Belgrad) moderiert. Die zweite Runde war eine Einführung der historiographischen Beiträge des Folgetages, moderiert von der Belgrader Historikerin Dubravka Stojanović. Ganz zum Schluss führte Mima Simić ein noch Gespräch mit dem Schriftsteller Semezdin Mehmedinović.
Die Autorin Ivana Bodrožić aus Kroatien las aus ihrem Roman Sinovi, kćeri vor, in dem ein transsexueller Hauptprotagonist als Sohn geboren wurde, sich aber in seinem männlichen Körper nicht wohl fühlt. Über das Thema der Transsexualität bearbeitet Bodrožić das gesellschaftliche Dauerthema fortwirkender, jedoch mit der Wirklichkeit oft in Konflikt geratender, patriarchaler gesellschaftlicher Normen. In der Besprechung des Buches nahm die Autorin dann auch auf die aufgeheizte, populistische Diskussion in Kroatien Bezug. Wie in vielen anderen Ländern auch werde die Ratifizierung der Istanbul Konvention 2018 oft zurückgewiesen und verunglimpft. In Kroatien geschehe das unter dem Kampfbegriff „Gender Ideologie“ (rodna ideologija). Dennoch seien die Reaktionen auf ihr Buch hauptsächlich positiv ausgefallen — vor allem in den zahlreichen Zuschriften von Menschen, die sich vorher in den gängigen literarischen Figuren nicht unbedingt repräsentiert gefühlt hätten. Bodrožić erklärte die überwiegend positive Perzeption teilweise aber auch damit, dass sie selbst mittlerweile als etablierte Schriftstellerin in Kroatien gelte. Auch im national gesinnten Teil der Öffentlichkeit — ohne dies beabsichtigt zu haben — sei sie zu einigem Ansehen gelangt, was mit ihrer literarischen Verarbeitung des Themas Vukovar zu tun habe. Sie selbst ist als Kind aus der 1991 völlig zerstörten Stadt geflohen und verarbeitet das Thema der Flucht und des Zusammenlebens völlig willkürlich zusammengewürfelter Menschen in einer Flüchtlingsunterkunft in ihrem Roman Hotel Zagorje. Vukovar an und für sich komme in Kroatien als nationales Thema immer „gut“ an.

Genau wie Bodrožić stand der nächste Autor, Dragan Markovina, mehr als einmal auf der Bühne des KROKODIL-Festivals. In seinem Fall lag das auch daran, dass er nicht nur Schriftsteller, sondern auch Politiker und Historiker ist, der ursprünglich aus dem herzegowinischen Mostar kommt. In Kroatien ist er besonders als Gründer und erster Präsident der Partei Neue Linke (Nova ljevica) bekannt. Mit der Moderatorin Mima Simić war er sich einig, dass die Formierung einer links-grünen Regierungskoalition in Zagreb nach den Wahlen 2020 einen Lichtblick im Tunnel des „faschistoiden Dunkels“ darstelle. Er las aus seinem Roman Neum, Casablanca, den er als eine Mischung aus historischem Reisebericht und Landschaftsbeschreibung bezeichnete. Trotz der besonders großen Grausamkeiten, die Menschen in diesem mediterranen Landstrich erleben mussten — wie etwa Konzentrationslager, gewaltsame Vertreibung und Mord — sei es bemerkenswert, dass trotz allem sehr viele Menschen nach dem Ende der Kriegshandlungen wieder in Ortschaften wie Čapljina, Stolac oder Mostar zurückgekehrt seien. Dies sei umso erstaunlicher, als es sich dabei oft um Menschen handelte, die sich dort nunmehr in der Position einer Minderheitengruppe befänden. Er mutmaßte, dass die landschaftliche Schönheit der Region eine selten beachtete, wenig thematisierte Rolle bei diesen Rückkehrbewegungen gespielt haben könnte.

Der nächste Autor, Saša Stanišić, ist der deutschen Öffentlichkeit bestens bekannt — und wahrscheinlich sogar vertrauter als der Leserschaft in der Region. Dort gilt er als Vertreter der Diaspora, der zudem noch primär auf Deutsch schreibt. Stanišić war als einziger Teilnehmer der Runde nicht vor Ort in Belgrad anwesend, sondern über Zoom zugeschaltet. Dennoch verstand er sich bestens darauf, das Publikum zünftig zu unterhalten. Mehr als wirklich vorzulesen inszenierte er nämlich eine Szene aus seinem Buch Herkunft, in der er beschreibt, wie er als Kind in den 1980er Jahren die Ankunft der durch das ganze Land reisenden Stafette der Jugend am Tag der Jugend in seinem Heimatort Višegrad erlebte — dabei aber despektierlicherweise unentwegt aufs Klo musste. Für das Buch habe er sich besonders mit seiner eigenen, zuweilen trügerischen Erinnerung auseinandersetzen müssen — dabei aber auch seine Großmutter besser kennengelernt, deren Rolle in dem Buch sehr zentral ist. Wie Bodrožić ist auch Stanišić als Kind mit seiner Familie aus seinem Heimatort geflohen. Die Stadt an der Drina ist nicht nur durch Ivo Andrić und der von ihm beschriebenen Brücke einer breiteren Öffentlichkeit außerhalb der Region ein Begriff, sondern auch durch den österreichischen Schriftsteller Peter Handke. Dieser war wiederholt als Genozidleugner und Freund serbischer Kriegsverbrecher aufgefallen, für die er öffentlich und literarisch Stellung bezog. Die Verleihung des Literaturnobelpreises 2019 löste daher einen Skandal aus, was den Autor Saša Stanišić mehrfach dazu brachte, öffentlich den Äußerungen Handkes zu widersprechen. Auch an der Causa Handke — sowie seiner Sichtbarkeit im öffentlichen Raum Serbiens und der bosnischen RS, wo Handke weiterhin hohes Ansehen genießt — wird deutlich, wie stark Literatur, (Anti-)Politik, Geschichte und revisionistische Diskurse miteinander verwoben sind.

Einen ganz anderen Akzent setzte die junge Autorin Katarina Mitrović, die aus ihrem Buch Nemaju sve kuće dvorište las. In diesem experimentell und in Versform geschriebenen Roman setzt sich die Protagonistin mit dem Thema Tod auseinander, nachdem ihr Vater gestorben ist. Bevor Kristian Novak, der aus der nordkroatischen Region Međimurje kommt, seinen Roman Ciganin ali najljepši (Ein Rom, aber der schönste) vorstellen konnte, leitete der Moderator Galeb Nikačević ein, dass er aufgrund des Buchtitels ursprünglich nicht vorgehabt habe, das Buch überhaupt zu lesen. Der afroserbische Moderator — unter anderem bekannt aus MTV Adria und vom Podcast Agelast — beschrieb nämlich, dass er als Kind einer jugoslawischen Mutter und eines afrikanischen Vaters in seiner Kindheit immer das einzige nicht-weiße Kind gewesen sei — wenn man einmal von den Roma absehe, denen er folglich zugeordnet wurde. Er habe unter der Stigmatisierung durch andere Kinder gelitten, da erst später über amerikanische TV-Produktionen schwarze Menschen plötzlich „cool“ geworden seien; bis dahin habe er jedoch weder als „weiß genug“ für einen Weißen, noch als „schwarz genug“ für einen Schwarzen gegolten, und so habe man ihn meistens als Roma bezeichnet. Er verwendete dabei das in Serbien gängige Wort Ciganin und Ciganče (diminutiv), das auch im Buchtitel von Kristian Novak vorkommt. Der Autor Novak beschrieb, dass er für die Recherchen zu seinem Roman sehr viel über die beachtlich große Roma-Gemeinde seiner Heimatregion gelernt habe, von der er zuvor gedacht hatte, vieles zu wissen, da man etwa gemeinsam zur Schule gegangen sei. Vieles von diesem Wissen stellte sich letzten Endes jedoch als höchstens oberflächlich, wenn nicht rundweg falsch heraus. Besonderen Wert habe er bei der Entwicklung der Figuren darauf gelegt, dass seine Protagonisten nie allzu eindeutig positiv oder negativ, sondern ambivalent auftreten — und damit vielleicht ganz anders, als es der Buchtitel vermuten lassen könnte.
Fortsetzung folgt.
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