Ergänzend zur Weltklimakonferenz in Glasgow 2021 möchte ich mit diesem Beitrag ein Zitat der taz-Journalistin Ulrike Herrmann (aus 2020) kommentieren. Das Zitat kursierte kürzlich wieder in den sozialen Medien, und es bricht das Dilemma der Politik „as we know it“ hinsichtlich der Klimapolitik „as we need it“ auf eine Formel herunter. Da ich mir nicht sicher bin, ob ich das SharePic mit Zitat verwenden darf, das von der ARD-Sendung Titel Thesen Temperamente (ttt) erstellt wurde, zitiere ich nur die Worte (was hoffentlich erlaubt ist), und verlinke zum Bild:
Die Politik handelt nicht, weil Klimaschutz immer bedeuten würde, dass man sich vom Wachstum verabschiedet. Grünes Wachstum gibt es nicht. Aber ohne Wachstum ist der Kapitalismus, den wir haben, nicht mehr stabil. Das heißt, die Politik kann eigentlich nur handeln, wenn allen klar ist, dass man sich vom Kapitalismus verabschieden muss.
Link zum Chronikfoto der Sendung ttt auf Facebook (Stand: 11.11.2021).
Weitere Argumente der Autorin in dieser Diskussion finden sich auch in einem taz-Artikel (eigentlich ein dialogisches Doppelinterview) vom 30.7.2021 (Link). Ich musste bei Ulrike Herrmanns Zitat daran denken, dass sowohl Angela Merkel als auch Barack Obama von der Weltklimakonferenz in Glasgow die apolitische Formel an „die jungen Leute“ bzw. an die Kinder senden, dass gerade diese jetzt aufmüpfig bleiben müssten:
Besonders auffällig in Obamas öffentlicher Rede ist die „if we only work hard enough“ und „my generation has not done enough“ Rhetorik, sowie das begeistern wollende „Yes we can“-Motiv, das in der Anekdote über seine Mutter steckt: wenn du nur willst, kannst du alles. Du musst es eigentlich nur so sehr wollen, als ginge es um dein Leben, denn tatsächlich geht es um dein Leben. Ich erkenne darin erstens eine ganz alte Masche, und zweitens fällt mir auf, dass er es unterlässt, genauer zu erklären, warum seine Generation — also „die Alten“ — das nicht jetzt sofort selbst tun sollten (ergo: work hard enough / do enough). Ganz ähnlich klingt das bei Obamas alter Tandempartnerin Angela Merkel, die sich laut Tagesspiegel vom 8.11.2021 „unzufrieden mit ihrer eigenen Klimapolitik“ äußerte und verlautbaren ließ: „Und dann sage ich den jungen Leuten: Sie müssen Druck machen“ (Link). Die deutsche Klima- und Fridays For Future (FFF) Aktivistin Luisa Neubauer wurde in anderen medialen Vertextungen in höchsten Tönen gelobt.
Da drängt sich natürlich die Frage auf, warum ausgerechnet „junge Leute“ Druck ausüben sollten? Was heißt „Druck“ genau? Wer oder was ist noch einmal genau der Grund, weshalb Frau Merkel mit ihrer eigenen Klimapolitik unzufrieden ist — kann man das nicht genauer benennen? Warum sollte es denn nicht viel, viel effektiver sein, wenn „alte Leute“, noch dazu so einflussreiche wie Merkel und Obama, diesen „Druck“ ausüben? Was hat Klimapolitik denn bitteschön anderes mit dem Alter zu tun, als die Tatsache, dass die katastrophalen Folgen der Nicht-Klimapoltik von jüngeren Menschen länger ertragen — jedoch von den älteren Menschen stärker hervorgerufen werden? Wird hier nicht der Bock zum Gärtner gemacht? Wie Ulrike Herrmann es in obigem Zitat benannt hat: wir müssen dringend über Kapitalismus und Kapitalismuskritik reden. Auch und gerade mit „den Alten“. Mit Allen.
Für Kapitalismuskritik ist es natürlich nie zu spät. Kapitalismuskritik ist aber „unter Erwachsenen“ immer noch weitestgehend tabu. Sie darf in irgendwelchen, nicht ernst genommenen Biotopen geäußert werden — man denke an Klassiker wie die kneipenlinken (ich nenne sie auch gerne berlinlinken) Milieus in Berlin. Wer aber innerhalb des Systems weiterkommen möchte — und seien es nur so „menschliche“ Bereiche wie die Entwicklungszusammenarbeit oder Teile der „Green Economy“ — tut besser daran, die Klappe zu halten. Der ganze Belohnungs-, Karriere- und Rentenapparat usw. ist zutiefst mit den kapitalistischen Feldregeln verwoben. Dann gibt es da auch immer noch Fälle, in denen (oft verfemte) „Systemkritiker:innen“ wie Systemfeinde behandelt, sogar kriminalisiert oder psychiatrisiert, also im Foucault’schen Sinn weggesperrt werden. Bezeichnenderweise findet bei der Hetze gegen Kritiker:innen — und darin besteht der demagogische Meisterstreich — aber auch Kapitalismus mit Marktwirtschaft und Demokratie vermischt: dadurch wird der völlig falsche, ideologisch verwässerte Eindruck erzeugt, das Eine könne es gar nicht ohne das Andere geben. Ein Beleg für diese verbreitete Strategie findet sich in den auf diesem Blog erst kürzlich zitierten, „wilden Behauptungen in Bad Saulgau“ des „alten Mannes“ Friedrich Merz von der CDU (Link) im zurückliegenden Sommer, als er Umweltschutzverbände in demagogischer Rede zu Feinden erklärt hat.
Nun sind ja „alte“ Leute wie Merkel und Obama alles andere als dumm: sie sehen bestimmt sehr deutlich die Zwickmühle, aus der es keinen systemimmanenten Ausgang gibt. Merkel und Obama kennen wahrscheinlich selbst am besten ihre extreme Machtlosigkeit, was sich vielleicht erst einmal widersprüchlich anhört. Ihre Machtlosigkeit bedeutet (wie im Eingangszitat), dass politisches Handeln unmöglich ist, solange nicht allen Beteiligten klar ist, dass dieses nicht kapitalistisch sein kann. Anders herum: es wäre weitaus unproblematischer, für diese durchaus in machtvollen Positionen befindlichen Personen, Macht zu entfalten, wenn diese den Grundsatz des Weiter so — des Wachstumsglaubens — beherzigte. Doch weil ein Abrücken vom Weiter so anscheinend als das große Ding der Unmöglichkeit betrachtet wird, erscheinen nun paradoxerweise die Kinder und die Jungen als mächtiger als die Eltern und Erwachsenen. Die freudige Geschwindigkeit, mit der sich Grüne (zugegebenermaßen: ein Hoffnungsschimmer) und die kapitalismushörige FDP (das genaue Gegenteil von Hoffnung) nach der Bundestagswahl 2021 in die Arme gefallen sind, lässt in dieser Hinsicht schon einmal tief vorausblicken: es wird wohl noch sehr, sehr viel Kinderprotest erforderlich sein. Der politische Betrieb ist so eng mit kapitalistischen Interessen verwoben, dass jeder ernsthafte Veränderungswille erst einmal quasi zwangsläufig in einen großen Trägheitseffekt taumelt.
Hier kommen die Kinder ins Spiel. Kinder sind, wie in Andersens Märchen Des Kaisers neue Kleider, die einzigen Richtigen und Möglichen, um sich mit dem Zeigefinger vor das Offensichtliche zu stellen und zu sagen: „Das ist keine Klimakonferenz mehr. Das ist jetzt ein Greenwashing-Festival des Globalen Nordens, eine zweiwöchige Feier des business as usual und des Blablabla“ — so, wie es Greta Thunberg getan hat, auch wenn Greta ihre Kindheit längst gelebt hat (Tweet von Thunberg, zitiert nach ORF.at). Kapitalismuskritik ist, wie gesagt, unter „den Alten“ weitestgehend tabubelegt: genau genommen handelt es sich um ein Sprachtabu. Ein Sprachtabu basiert darauf, dass seine Proposition zwingend implizit (unausgesprochen) bleiben und bei Regelverstoß bestraft werden muss. Gleichzeitig müssen trotzdem alle wissen, worin es besteht. Ausgenommen vom Tabu sind Kinder und Wahnsinnige, weil diese Gruppen nicht für „voll“ (volljährig, voll zurechnungsfähig) genommen werden. Deswegen werden in Glasgow und anderswo die Kinder vorgeschickt: Diese helfen dabei, daran zu erinnern, was die Proposition eigentlich ist: Die Kraft des Tabus ginge ohne sie womöglich verloren. Sie müssen (bzw. können) aber natürlich nicht beim Wort genommen werden: Denn auch das bedeutete das Ende des Tabus. Das Spiel zwischen den figurativen Alten und den figurativen Kindern ist ambivalent: es kann also auf den Fall des großen Tabus hinauslaufen, oder auch auf seine vorläufige Verstetigung. Der Elefant im Raum bleibt das Wort Kapitalismus.
Es ist eine unangenehme, ernsthafte und dringliche Situation, in der wir Alle uns befinden — und keineswegs „nur“ die Jungen und die Kinder. Es ist unschön, aber es besteht doch Grund zur Annahme, dass es tatsächlich Menschen gibt, denen der katastrophische Progress egal ist. Deren irrationales Interesse darin besteht, die Ordnung der Dinge zu erhalten, auch wenn diese gar nicht erhalten werden kann — aus Angst vor dem Nichts („Horror vacui“ — dazu folgt bald noch ein anderer Beitrag). Ich muss dazu sagen — wie irrelevant meine persönliche Meinung auch sein mag — dass ich Merkel und Obama durchaus guten Willen zutraue. Vielleicht. Merkel ist Naturwissenschaftlerin, sie ist persönlich zum grönländischen Eisschild gereist, sie hat nach Fukushima den Atomausstieg gewagt (was in ihrer Partei keine Selbstverständlichkeit war), und sie hatte mit ihrer Position während der massiven Landmigrationsbewegungen über die sogenannte Balkanroute 2015 ihren ganz eigenen, durchaus mutigen Yes we can-Moment: kurz bevor Obama in den USA vom Trash-Präsidenten abgelöst werden würde. Trotz aller berechtigter Kritik muss man wohl einräumen, dass sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten Erstaunliches geleistet hat.
Doch der Handlungsspielraum hat offenbar engere Grenzen, wenn es um die Luft geht, die wir atmen — das Erdklima. Ich denke, beider „alter Leute“ und figurativer Eltern (vgl. Merkel als „Mutti“) Kalkül besteht nicht darin, das Sprachtabu durch das Vorschicken der Kinder zu verlängern. Sie spekulieren eher darauf, dass das Rufen immer lauter wird („How dare you„), dass sich immer mehr „Alte“ der Kinder erbarmen, und dass sie schließlich das tun, was Merkel und Obama bisher unterlassen. In diesem Sinn fände ich, dass es ein machtbewusster, konstruktiver, reflektierter und glaubwürdiger Schritt wäre, wenn konkrete, mächtige „Alte“, wie Obama und Merkel, wenigstens ihren Ruhestand nutzten, um noch einmal radikal zu werden. Quasi als praktische Evaluation ihrer bisherigen Karriere. Denn was soll denn jetzt noch schief gehen? Sie werden gewiss nicht mehr zum Pfandflaschensammeln in die Hasenheide müssen (wie so manch andere Alte und Junge). Und überhaupt — dieses Wort Ruhestand: ist das nicht auch ein kapitalistisch verbrämter Begriff? So eine Art Vortod, gemütlich auf dem Sofa? Sich nicht in Ruhe zurückzuziehen, sondern jetzt erst recht ein paar Dinge nachzuholen hälfe sicher, das Tabu weiter einzureißen — und dabei nicht alles auf die Kinder abzuwälzen. Denn Kinder können zwar vielleicht Vieles — aber sie sind nicht in der Lage, ohne die Alten alte Tabus einzureißen. Sie brauchen Alte, die ihnen zuhören. Die dem Kaiser direkt auf die Blöße blicken. Die nicht aufhören, weiter zu denken. Zum Glück gibt es so einige „Alte“, die das tun. Ich kenne so einige davon.