Vor kurzem habe ich noch in einem Gespräch darüber sinniert, dass es immer weniger Hänse gäbe. Hänse – aber auch Ulriche, Kläuse, Heiner, Heinze usw.; dass es Hänse nicht mehr oft gäbe, weil Hänse gar nicht mehr gegeben würden. Ja: dass es wahrscheinlich sei, dass es in Zukunft womöglich gar keine Hänse mehr geben könnte, so ähnlich wie es den Namensbeständen der Rudolphe oder der Ignatze ergangen sei. Der Name Hans ist schlicht und einfach unbeliebt geworden, veraltet, aus der Mode gekommen. Vermutlich mittelfristig zugunsten der vielen Emile, Joachime und Friedriche. Dazu den Sophien, Claren, Mias, Lenen, Emmen und Charlotten, die es im Bildungsbürgertum der herrschenden Klasse so oft gibt; die es gibt, weil sie gegeben werden. Dies alles, bevor sich dann langfristig etwas wesentlich ändern würde, und das Namensspektrum der repräsentativen Berufsklassen die linguistische Differenzgemeinschaft unserer Zeit angemessener wiederspiegeln könnte. Schließlich ist das Namensspektrum reicher geworden: es gibt und werden gegeben Emras, Ayşes, Swetlanas, Piotrs, viele mehr. Wie diese Gegenüberstellung von Partizip- und Infinitivkonstruktionen des Gebens und Gegebenwerdens schon andeutet, lädt uns die Onomastik (Namensforschung) dazu ein, noch einmal anders über Daten nachzudenken: über das Geben, die Gebenden, das Gegebene; die Daten, Data, Donnés und andere wenig bis gar nicht hinterfragte Gegebenheiten. Über das identisch sein mit einem Namen, über die Gruppen stiftende und dennoch dekonstruierbare Wirkmächtigkeit der Namen.
Ich persönlich bin ja ein großer Freund der Diakritika („Sonderzeichen“) unterschiedlicher Lateinalphabete. Ebenso freundlich gestimmt bin ich anderen Alphabeten gegenüber: kyrillisch, arabisch, griechisch, amharisch, georgisch, armenisch, usw. Aber bleiben wir vorerst bei den Lateinalphabeten. Diakritika setzen den Namen eines oder sogar mehrere Krönchen auf (durch Diakritika gekrönte Buchstabenbeispiele: ğ, ã, č, ž, š, ş, đ, é, è, à usw.). Ich bedaure es oft, kein diakritisches Zeichen im Namen zu tragen. Als es mir ein leichtes und ohne die üblichen normativen Scherereien möglich gewesen wäre, einen zusätzlichen Nachnamen zu erwerben, war es ausgerechnet ein portugiesischer Name ohne Diakritika. Diakritika müssen übrigens auf jeden Fall unbedingt immer richtig geschrieben und ausgesprochen werden — ohne jedes Pardon!* Wie sähen denn auch ein(e) Yıldız (oft zu „Yildiz“ verballhornt), ein Srđan (zu „Srdan“ entstellt) aus? Oder eine Françoise — ohne ihre cédille? Derlei unauthorisierte Weglassungen und Falschaussprechungen sind von eben so großer sprachlicher Grobschlächtigkeit wie das deutsche Cafè — wenn es nicht gar zu völlig abenteuerlichen Neukompositionen kommt. Man liest diese Namen innerhalb der herrschende Klasse nach wie vor selten.
Wie dem auch sei: über den gegenwärtigen Zustand der Hänse (in diese Betrachtung fallen keine Johannesse und Hannese) irrte ich wohl gewaltig. Denn jetzt lese ich hier, dass sich unter den 62,000 deutschen Professoren sage und schreibe 2,100 Hänse befinden — gefolgt von Kläusen und Petern (inklusive der „Bindestrich-Hänse, -Petri und –Kläuse). Wer die Namensgebung als unhinterfragt und gegeben angenommene Praxis hinterfragt, hinterfragt natürlich auch seinen eigenen Namen. Thomase – die ewigen Zweifler – nehmen hinter den Hänsen, Kläusen, Petern, Wolfgängen und Michaels immerhin den sechsten Rang der privilegierten Besitzer kulturellen Kapitals ein. Wie es in Zukunft im deutschen Dialektkontinuum um die Thomase bestellt sein wird, erscheint mir unklar. Ich schätze aber, dass ihnen in Zukunft ein ähnliches Schicksal wie den Even, Alexandern, Annen, Marien, Julien, Augusten und Augustas sowie weiteren prototypischen Vertreter_innen des mythischen und sehr alten Namensbestandes beschieden sein wird: die vergehen einfach nicht. Die werden immerfort gegeben. Mal mehr, mal weniger. Sie werden aber keine Hegemoninnen und Hegemonen unter den zahlreichen unterschiedlichen Namen sein, so meine Vorstellung.
Übrigens unterscheidet sich die Praxis der Namenshegemonie und -Geberei erheblich von Land zu Land. Ich habe jetzt bereits öfters gehört, dass in Frankreich zur Einbürgerung nach wie vor großer Französisierungsdruck herrsche, und dementsprechend liest sich auch das Namensregister der Académie Française. Nur zum Beispiel. Aber das Thema hegemonialer Namensgebung ist viel zu komplex, um es in einem Absatz abzuhandeln, weshalb ich dazu hoffentlich zu einem späteren Zeitpunkt ausführlicher schreiben werde. Über Prestige und Prestigelosigkeit von Namen, mit Namensänderungszwang einhergehenden nationalstaatlichen Paternalismus, über Buchstabenverbote und -Gebote u.ä. habe ich mich in meiner Dissertation am Beispiel der Einwanderung in die Türkei beschäftigt. Viel interessanter erscheint mir aber gerade das Beispiel Deutschlands, wozu ich gerade Namen, Anekdoten ud Erfahrungen sammle.
*Ich übertreibe hier natürlich aus gegebenem Anlass stark und gebe zu, selbst oft grob und nachlässig zu handeln, und zwar in mehreren Textgenres wie sms oder Facebook-Kommentar; niemals (nie!) jedoch in wissenschaftlichen Texten, zumindest seit dem ersten Hauptseminar nicht mehr.
Vgl dazu meinen Beitrag über Namensgebung
Was fällt Dir zum Namen „Aziz“ ein?
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Sorry Kemal, aus irgendeinem Grund blieb mir dein Kommentar sehr lange verborgen, tut mir echt leid! Deswegen erst jetzt die Antwort. Zu „Aziz“ fällt mir in dem Zusammenhang nicht so viel ein, generell würde ich sagen, „Aziz“ und „Aziza“ haben bestimmt Zukunft: schöne Namen, schöne Bedeutung. PS: Long time no hear!
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