[Yorum] [Berlin] BVG-Streik, istanbuleske Verkehrsverhältnisse und ein Dialog mit der Nazi-Ampel

Dreivier Sätze zum BVG-Streik, zur Nazi-Ampel am Columbiadamm, zu den istanbulesken Verkehrsverhältnissen am heutigen Tag. Ich beginne an der „Nazi-Ampel“, weil mir diese Gedanken heute dort anfingen, zur Stirn zu steigen; um sich über einen unmotorisierten Ausritt in den Tiergarten schließlich zu einem Pamphlet-Entwurf zu versteigen, dessen Hintergrundgedanken auch irgendwo, viel weiter unten in diesen dreivier Sätzen, mit Istanbul zu tun haben werden. An diesem denkwürdigen Tag, da in Berlin die Öffis gestreikt haben, und da sich in Istanbul womöglich etwas zusammenbraut.

Aber damit erst einmal an die sogenannte „Nazi-Ampel“.

Zwei der – wahrscheinlich auch insgesamt höchstens zwei – Ampeln am Columbiadamm, einer hässlichen, langen Hauptverkehrsarterie zwischen Tempelhofer Steppe und Hasenheider Baumsavanne, nenne ich seit Jahr und Tag nur noch „Nazi-Ampel“. Seit Jahr und Tag quere ich mit meinem Rad hier den Columbiadamm, täglich sogar meistens zwei Mal zu unterschiedlichen Uhrzeiten. Seit Jahr und Tag ist es dabei so, dass die Nazi-Ampel nicht nur ein großes, sinn- und nutzloses Ärgernis für mich ist. Nein: die Nazi-Ampel hasst mich. Sie hasst auch dich! Sie hasst uns alle! Alle zumindest, die nicht motorisiert rollen, gehen oder stehen.

Stehen ist dabei die Hauptform der Verkehrsteilnahme, die Nichtmotorisierten an der Nazi-Ampel offen steht. Du stehst da also gefühlte 17 lange Minuten — und es tut sich: nichts. Dann tut sich noch einmal lange jar nüscht, wie die Nazi-Ampel in straßenfeiner, Berliner Kotterschnauze zu höhnen scheint. Für dich tut sich nichts. Nicht nichts tut sich dagegen für die grotesken Privatpanzer, die vor deiner Nase vorbei rasen. Während du also in das rasante SUV-Gezische starrst, glotzt die Nazi-Ampel mit einem feuerroten Wessi-Ampelmännchen auf dich zurück. Neben dir, hinter dir: überall stehen Leute, die auch darauf warten, dass die Nazi-Ampel mit ihren menschenverachtenden Einstellungen endlich umschaltet. Manche kennen die Nazi-Ampel noch nicht sehr gut, haben ihr wahres Wesen noch nicht durchschaut, sind vielleicht noch schlimmeres gewohnt, unterhalten sich scheinbar entspannt. Ein aufgeregtes Hipstermädchen in anachronistischer Hose in hässlichem Karottenschnitt neben mir erzählt einem ostentativ blassen Hipsterjungen irgendetwas auf Berlin-Englisch, indem sie ständig das Wort „like“ wiederholt. Ich höre eine Aufeinanderreihung von likes, etwa so:

„And you know, it’s like… And then, I was like… And then, heeeeee was like… And like, and like, and like…“

Ich kenne das aus dem Hinterhof meines Nebenhauses, wo eine aufgeregte Hipsterkneipe eingezogen ist, mit Craft Beer und Coffee mit dem perfect brew und you know, it’s like… – bis ein Nachbar ein paar Liter Wasser runter schüttet und schnell noch ein paar andere Worte als das immer gleiche like nach oben geschimpft werden.

Auch gegenüber hat sich inzwischen ein Stau aus Radfahrerinnen mit Kind und Kegel gebildet. Dazu haben sich rauchende Rentnerinnen mit ihren Hunden gesellt, sowie Leute, die zum beten in die Moschee wollen. Auch dort wird geglotzt. Was wollen die Leute die lieben langen 17 Minuten über auch anderes tun – außer hie und da über ihre Smartphone-Touchscreens zu touchen? Mir fällt auf, dass aus einem kleinen, parkenden Polizeiauto außerdem ein weiteres Augenpaar auf die sich seit Jahr und Tag so und nicht anders wiederholende Glotzerei glotzt.

Niemand von uns Unmotorisierten tut das, was ansonsten in Berlin getan wird, wenn sich eine Ampel vergleichbar ziert. Nicht wegen des Polizisten. Nicht, dass ich nicht wüsste, was die Berliner Polizei zu tun imstande ist; etwa, wenn die Nacht lang, die Musik laut ist. Spätestens seit die reizende Berliner Polizei Anno darzumal mit einem Schlauch Reizgas in eine WG-Party im Nachbarhaus geleitet hat, weiß ich, was zu tun sie imstande ist. Trotzdem liegt das endlose, sinnlose und zermürbende Warten auf die Nazi-Ampel nicht an potentiell gewaltbereiten Respektpersonen. Ich will jetzt zu den dreivier Sätzen nicht noch fünfsechs hinzufügen und erzählen, was ich heute sonst noch fürchterliches und haarsträubendes über die Berliner Polizei gelesen habe, worüber ich mich gesondert aufregen müsste.

Nein: das Warten, Stehen und Glotzen nimmt kein Ende, weil alle sehr direkt um ihr Leben fürchten müssen. Hier wird man zwar nicht erschossen; hier wird man vom SUV oder LKW erfasst und in einen brutalen Straßenverkehrstod gerast, wenn man nicht die vollen gefühlten 17 Minuten vor der feuerroten Nazi-Ampel stehen bleibt. So ähnlich hat ein amerikanischer Bekannter in einer öffentlichen Meinung die jüngste Abfuhr des Deutschen Bundestages kommentiert, die im weltweiten Vergleich einzigartige Raserei auf deutschen Autobahnen wenigstens zu bändigen. Interessanter Vergleich: was dem Amerikaner die National Rifle Association, das dem Deutschen die Raserei auf der Autobahn.

An der Nazi-Ampel tut gut daran, wer auch bei grün nicht einfach so die Straße überquert — nur, weil es grün geworden ist. Weil es nämlich immer noch sein kann, dass sich ein SUV-Fahrer besonders „männlich“ verhält und trotzdem noch schnell über den Columbiadamm rast: „Hach ja, erst 10 Sekunden grün für die Fußgänger. Da traut sich doch sowieso keiner rüber“, mag er sich denken. Man sollte nicht unerwähnt lassen, dass in dieser Stadt von Motorisierten Wettrasereien veranstaltet werden, bei denen unmotorisierte (Fußgänger, Radfahrerinnen) durchaus zu Tode kommen. Einer jener motorisierten Täter soll gesagt haben, er sei davon ausgegangen, es werde schon kein Mensch da sein. Hach ja.

So da stehend und glotzend beginne ich einen inneren Dialog mit der Nazi-Ampel. Sie wird, ganz ihrem Wesen entsprechend, natürlich sofort übergriffig. „Do things have agency?“ ist so eine Frage von Bruno Latour: wie wirkmächtig können Dinge sein? Dinge wie die Nazi-Ampel sind nicht nur wirkmächtig, sondern extrem autoritär und bossy. Es interessiert die Nazi-Ampel nicht im geringsten, dass ich auf meine täglichen Ausritte per Rad zwingend angewiesen bin. Dass ich nicht, wie jeder vernünftige Mensch, der es im Leben zu etwas gebracht hat, auch motorisiert bin (am besten mit SUV), versteht sie nicht.

Zum einen brauche ich die unmotorisierten Exkurse, um mir selbst das Gefühl zu vermitteln, ich sei „frei“; während mich freilich paradoxerweise mein mitgeführtes Smartphone per GPS überwacht. Ich will ja nicht nur frei sein, sondern auch noch wissen, wie viele Kilometer ich in welcher Zeitspanne ausgeritten bin. Das kann ich mir dann in den Kalender schreiben, und das Smartphone rechnet die Gesamtkilometerzahl zum Beispiel zu 667 Kilometer im Monat März zusammen, und ich kann dann stolz auf mich sein. Zum anderen brauche ich die Ausritte, um meine verhäkelten, dem Katastrophismus zuneigenden Gedanken durchlüften zu können. Nur wenn sie das Gefühl der Freiheit atmen, lassen sie genügend Atman rein, was andere Leute auch Inspiration nennen. Das Gefühl der Freiheit kann jedoch nur aufkommen und sich entfalten, wenn kein auf den Columbiadamm gestelltes Ding wie die Nazi-Ampel autoritär einschreitet, übergriffig wird und veranlasst, dass der Ritt aus inkohärenten, nicht nachvollziehbaren, menschenverachtenden Gründen für gefühlte 17 Minuten jäh unterbrochen wird.

Ich habe den Deutschen Bundestag erwähnt. Steht man vor seinem ikonischen Hauptgebäude im Tempelbezirk Mitte, zwischen Bundeskanzlerinwaschmaschine und Brandenburger Tor, also vor dem historischen Reichstagsgebäude, so kann man die veraltete Dativkonstruktion Dem deutschen Volke in seiner Fassade eingemeißelt lesen. Hätte die Nazi-Ampel ein eingemeißeltes Motto mit altem Dativ, so lautete es sinngemäß: Den Unmotorisierten zum Spotte. Die Nazi-Ampel hat in unserem inneren Dialog nämlich zusammengefasst folgendes gesagt:

„Da schau her, wie irrelevant dein Bedürfnis ist. Jetzt lass ich dich hier erst einmal 17 Minuten stehen. Nein heißt Nein. Diese Straße ist nicht für dich gebaut worden, finde dich damit ab. Diese Straße ist für Autofahrer, für die SUVs, für die noch viel größeren motorisierten Geschwister der SUVs gebaut. Was bildest Du Dir eigentlich ein? Schon mal was von Arbeitsplätzen gehört? Automobilindustrie, Exportweltmeister, Autobahnkult? Petrochemischer Komplex, Abhängigkeit von fossilen Energien, menschengemachter Klimawandel, das ganze Anthropozän? Denkst du, das alles hätten wir mit Fußgängerinnen und Radfahrerinnen hin bekommen? Würden wir für ihre Rechte Kriege führen, ganze Erdteile in jahrzehntelange Despotie treiben? Du denkst, wenn du auf den Knauf drückst für die Fußgängerampel ändert sich etwas? Ich würde sofort wegen dir, wegen euch, umschalten und grün werden? Ich sage dir was sich tut: nichts tut sich, jar nüscht tut sich. Wie du siehst, gibt der Knauf nicht nach. Wie du siehst, ist dein Ampelmännchen miniklein, während die Autosignale riesengroß sind. Ach, es regnet also in Strömen, während du mal wieder hier deine 17 Minuten abwarten musst? — Na und, das ist mir völlig egal! Ach so, heute streikt die BVG, und deshalb sind viel mehr Autos als sonst unterwegs, viel mehr Radfahrerinnen? — So, aha, das ist mir auch vollkommen egal! Du kannst entweder warten, oder du wirst halt überfahren. Mir wird sowieso nichts passieren. Und wenn doch, bin ich immer noch ein Ding. Sie reparieren mich und stellen mich wieder ein, und dann hab ich wieder agency.“

Das ist also die Nazi-Ampel. Wer sie kennt, weiß, dass ich kein bisschen übertreibe. Die Nazi-Ampel ist eine Ampel, die voll und ganz mit den Motorisierten kollaboriert. Sie ist gegen die Fußgängerinnen und Radlerinnen eingestellt. Und je mehr ich über diese und andere Ampeln nachdenke, aber auch über die schlechten, schmalen, wenn überhaupt existenten Radwege in Berlin nachdenke, wird mir klar, wie systemisch dieser Zustand ist. Es hat nicht einfach nur mit einem irgendwie verständlichen Hinterherhinken zu tun, dass die Straßenbeläge für die Motorisierten glatt und makellos sind, die Radwege für die Unmotorisierten dagegen holprig, schmal und gefährlich. Es zeigt, was und wer geschätzt wird, und was und wer nicht.

Ich schrieb eingangs, diese dreivier Sätze hätten auch irgendwie mit Istanbul zu tun. Das zum einen, weil ich mich gefragt habe, wen es abzuwählen gälte, damit die Nazi-Ampel ganz andere Einstellungen bekäme; damit die ganze Stadt ganz andere Einstellungen bekäme, und zwar gegenüber den Unmotorisierten als schwächste Verkehrsteilnehmerinnen. Denn Berlin ließe sich hervorragend kopenhagenisieren, wenn man die generelle Breite seiner Straßen bedenkt. Die Analogie zu Istanbul drängt sich einerseits auf, zumindest am heutigen Tag, da ja gestern in Istanbul versucht wurde, etwas abzuwählen, was für die Stadt nicht gut ist. Ich bin etwas vorsichtig mit meiner Einschätzung, denn das Regime sitzt trotzdem im Sattel, und darüber hinaus ist mit allem zu rechnen. Wie der Präsident gesagt hat: „Es kann jederzeit alles mögliche passieren.“ Übrigens so ein Lieblingsspruch von Neo-Re-Herrschaften, denn wie Doron Rabinovici in seinem Polittheater gezeigt hat, hat der Ungar Viktor Orbán dasselbe gesagt.

Andererseits ist die Istanbul-Analogie einigermaßen absurd, wenn es um Verkehr geht: der Verkehr in Istanbul ist unvergleichlich schlechter geregelt, die Öffis sind unzulänglich, man zählt dort als Fußgängerin gar nichts. Radfahren an sich ist lebensgefährlich, die Höhe der Bordsteinkanten eine Zumutung, und Behinderte haben gar keine Chance. In Istanbul habe ich mir oft gesagt: du regst dich nie mehr über die Verhältnisse in Berlin auf. Istanbul wäre auch gar nicht ohne weiteres zu kopenhagenisieren, weil bei jedem Bauprojekt auf irgendwelche Altertümer gestoßen wird, und außerdem über allem die Angst vor dem großen Erdbeben schwebt, die beim Bauen mitbedacht werden muss. Wahrscheinlich wegen der katastrophalen Verkehrsinfrastruktur hat das bauwütige Regime die Wahlen immer auch mit Infrastrukturprojekten gewonnen, und man muss ihm anrechnen, dass sich die Situation etwas gebessert hat, auch wenn man hier nicht zu den falschen Schlüssen gelangen sollte. Die falschen Schlüsse wären, unkritisch in das Eigenlob des Regimes einzufallen. Es gibt im einzigartigen Online-Wörterbuch Ekşisözlük einen eigenen Eintrag zur Phrase Yol yaptık yol, zu Deutsch in etwa: aber wir haben doch Straßen gebaut. Klingt bekannt? Na jedenfalls wurde tatsächlich an allen Ecken und Enden gebaut. Wenn auch keine Radwege, Bürgersteige oder Ruhezonen um sich freies Atman zu holen.

Achso, es gibt natürlich noch einen guten Grund, warum Istanbul in meinen Gedanken ist: ich muss gleich zurück zu meinen Tabellen und Übersichten über zwei Istanbuler Nachbarschaften, die in meiner Dissertation eine prominente Rolle spielen. Deswegen ist Istanbul ständig ein Thema, wenn es nicht um Sarajevo, Skopje oder ein paar Orte im sogenannten Sandžak geht. Abschließend will ich folgendes vorschlagen: alle Autos in der Stadt sofort verbieten. Allen Mitarbeiterinnen der Öffentlichen das Gehalt verdoppeln. Berlin kopenhagenisieren, veramsterdamen, whatever: Priorität haben die Unmotorisierten, Ampeln werden entsprechend eingestellt. Aus dreivier Sätzen ist mehr geworden, und es ließen sich noch zwölfdreizehn hinzufügen.

But I call it a day.

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