[Politik] Müssen wir Oligarchie neu denken?

Nachdem ich den hier verlinkten Artikel Unionbusting: Tesla setzt auf Betriebsrat, um Gewerkschaft zu verhindern im Freitag gelesen habe, ist mir folgender Gedanke gekommen: Sollte man das Wort ‚Oligarchie‘ nicht eigentlich noch einmal ganz anders, viel weiter denken? Von Oligarchen ist im Moment eigentlich permanent, aber nur im Zusammenhang mit Russland die Rede. Gemeint sind (hauptsächlich) Männer und ihre Clans, die außerhalb des politischen Prozesses stehen und trotzdem Teil eines Macht- und Herrschaftsverhältnisses sind, das oft politisch genannt, aber eigentlich genau das Gegenteil ist: es geht um Antipolitik im Sinne Hannah Arendts politischer Theorie.

Man kann nicht über Politik sprechen, ohne immer auch über Freiheit zu sprechen, und man kann nicht von Freiheit sprechen, ohne immer schon über Politik zu sprechen. Wo das Zusammenleben der Menschen nicht politisch organisiert ist – also z. B. im Zusammenleben primitiver Stämme* oder in der Privatsphäre des Familienhaushalts –, ist es nicht von Freiheit, sondern von der Notwendigkeit des Lebens und der Sorge um seine Erhaltung bestimmt; und wenn die von Menschen erstellte Welt nicht der Schauplatz politischen Handelns wird – wie in einem despotisch regierten Gemeinwesen, das die Untertanen in die Enge ihrer Häuser und Privatsorgen verbannt –, hat Freiheit keine weltliche Realität. Ohne einen politisch garantierten öffentlichen Bereich hat Freiheit in der Welt keinen Ort, an dem sie erscheinen könnte, und wenn sie auch immer und unter allen Umständen als Sehnsucht in den Herzen der Menschen wohnen mag, so ist sie doch weltlich nicht nachweisbar. Im Sinne einer nachweisbaren Realität fallen Politik und Freiheit zusammen, sie verhalten sich zueinander wie die beiden Seiten der nämlichen Sache.

Hannah Arendt (1959): Freiheit und Politik.

Ich frage mich, ob man wirklich nur die Putin hörigen russischen Oligarchen zu dieser Kategorie rechnen sollte — oder ob unsäglich reiche und machtvolle Männer wie Elon Musk, Jeff Bezos, Mark Zuckerberg u.a. auch zu dieser Kategorie gerechnet werden sollten. Zwar stehen diese westlichen Magnaten nicht unter einem vergleichbaren „neozaristischen“ Knebel wie die russischen Oligarchen — doch ihre Gemeinsamkeit ist, dass sie außerhalb des politischen Prozesses agieren. Ein bizarres Beispiel dafür ist Starlink, das Satellitennetzwerk des Raumfahrtunternehmens SpaceX, das man manchmal als leuchtende Kette am Nachthimmel sieht:

„Starlink ist ein neuartiges Satellitennetzwerk aus niedrig fliegenden Satelliten, auf Höhen von ein paar hundert Kilometern. Seit Mai 2019 wurden über 2.000 Satelliten gestartet. Weil sie niedrig fliegen, sind die darüber bereitgestellten Internet-Verbindungen sehr schnell, also vergleichbar zu einer Glasfaserverbindung am Boden. Starlink ist bei weitem nicht das erste Satellitennetzwerk, das global Internetdienste anbietet. Andere frühere Systeme setzten meist auf hochfliegende Satelliten, die Verbindungen sind dann aber eher langsamer.“  

Quelle: Karl Urban auf DLF vom 8.3.2022 / LINK

Über die Bereitstellung von Starlink-Satelliten soll jetzt versucht werden, die Ukraine mit Internetzugang zu versorgen. Der Grund ist, dass die Armee des Putin-Regimes die kritische Infrastruktur der Ukraine in herkömmlicher Form in vielen Gebieten bald zerstört haben wird, wenn es so weiter geht. Selbst Atomkraftwerke wurden inzwischen beschossen, wie in Tschernobyl und Saporischschja. 

Natürlich ist da Hilfe „aus dem Himmel“ eine gute Idee. Nur: SpaceX ist ein Privatunternehmen, u.a. von Elon Musk. Jedes Geben beinhaltet da ein Nehmen, und dies bedeutet im Fall so riesiger Tech-Unternehmen das Nehmen von Vorrechten, die auf Monopolisierung zusteuern, um alsbald mit den übrigen nervösen Männern im All zu kollidieren (z.B. aus China), die ebenso außerhalb des politischen Prozesses handeln. Infrastruktur in private Hände zu legen, ist eine sehr, sehr schlechte Idee, und natürlich ein Ergebnis all der „Erfolge“ neoliberalen Wirtschaftens. Wer Argumente braucht, sieht sich einfach mal den Zustand und die Ausgaben für Instandhaltung des amerikanischen oder deutschen Stromnetzes oder der Brücken an (inkl. Prognosen für Blackouts). Infrastruktur ist politisch, und sie gehört ganz, ganz sicher weder in die Hände manischer Ein-Mann-Regime mit Bauholding (Stichwort: Yol yaptık yol / Neue Seidenstraße), noch in den Hoheitsbereich reicher weißer Jungs.

Musk und Konsorten sind schließlich nicht bloß reiche Jungs (oder vielleicht doch Oligarchen?), die einfach nur ein bisschen im Weltraum spielen wollen. Sie wurden regelrecht dazu eingeladen, Sphären von Macht zu usurpieren, die in den politischen Prozess gehören. Alt-neue Formen von Patronage sind am entstehen. Dass das für Leute ohne Zugang zu den apolitischen Machtzirkeln nicht gut ausgehen wird, zeigt die Haltung Musks gegenüber der Frage von Gewerkschaften, Betriebsrat, Arbeiter:innen. Und es sei dabei auch noch mal an seine Haltungen zu Trump erinnert, der als Trash-Präsident quasi die Chiffre für die Usurpation des Politischen durch antipolitische Magnaten ist. 

Leute wie Bezos, Musk (und natürlich Trump) machen heute schon Geopolitik — und wem kann bei diesem Gedanken eigentlich wohl sein? Warnungen wurden jahrzehntelang ignoriert, belächelt, marginalisiert. Zieht man eine Analogie zur Entstehung der russischen Oligarchie, dann ist es nicht unwesentlich, dass ganz zu Beginn neoliberale Berater zu den „Economics of Transition“ berieten. Berater, die teilweise heute noch beraten. Und dann gibt es da auch im „Westen“ Beratene, denen die Ratschläge sehr gut taten, und die aus dem politischen Feld in das der Oligarchie gewechselt sind (Gerhard Schröder war so ein Beratener). 

„Was kostet die Welt, ich nehm‘ gleich zwei!“ — das ist heute scheinbar viel mehr als eine Phrase der irrationalen Übertreibung und des Wahnwitzes: Privatunternehmer der Dimension von Musk denken heute über Dinge wie Weltraumtourismus nach und betreiben ihn schon. Das Fortschrittshurra, das damit einhergeht und stark an die Mondlandungsstories, Sputniks und Weltraumhunde des Kalten Kriegs erinnert, kann verschleiern, dass dieselben oder andere Privatunternehmen mit Weltraumambitionen über Dinge wie Geo-Engineering, Verdunkelung der Atmosphäre usw. nachdenken. 

Das Geld dazu haben sie womöglich schon — doch eine zweite Welt hat noch niemand erschaffen. Der politische Prozess aber, der die eine Welt verantwortet, ist eine Aufgabe, die über verantwortungs- und rechenschaftslose Jungsspiele weit hinaus geht. Dieser politische Prozess ist in einer so tiefen Krise wie noch nie, und ich meine, auch mit Blick auf die politischen Ideen. Das Politische befindet sich im Kokon hoher Metamorphose — doch die Welt dreht sich immer weiter und ruft dabei nicht weniger dringend nach gerechter Gestaltung. Und wie Hannah Arendt schreibt: Gerechtigkeit kann es nur geben, wenn diese Gestaltung politisch ist.


[ * ] Ich zitiere hier wörtlich und möchte darauf hinweisen, dass die Wortwahl Hannah Arendts Kritik und Historisierung verdient, ebenso wie ihre rassistischen Haltungen zur Frage der Gerechtigkeit und Freiheit zwischen Bürger:innen der USA, die von ehemals versklavten afrikanischen (afroamerikanischen) und sklavenhalterischen (europäischen) Vorfahren abstammen.

Coverbild: Pixabay

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