Einleitung
Vorbemerkung: Dieser Beitrag ist eigentlich im ersten pandemischen Lockdown 2020 entstanden. Doch erst jetzt komme ich dazu, ihn zu veröffentlichen. Ich habe ihn hauptsächlich so belassen, wie ich ihn im März/April verfasst hatte, abgesehen von ein paar wenigen Ausbesserungen. Darin fehlen außerdem viele Dinge, wie z.B. die fast panische Korrespondenz mit der deutschen Botschaft in Bosnien und dergleichen mehr. Der Grund dafür, dass ich diesen Beitrag ausgerechnet jetzt (im August 2020) teile, besteht unter anderem darin, dass die Allgemeinheit jetzt wieder realtiv unbedenklich in Urlaub fährt, vor Spätis sitzt, sich trifft, etc.: dass sich also die generelle Haltung völlig geändert hat. Darin allein besteht ein zeitgeschichtlich bemerkenswerter, massenpsychologischer Umstand, und es ist darüber hinaus völlig unklar, wie „wir“ nach der „zweiten Welle“ — so sie denn stattfindet — schreiben werden. Aber genug vorbemerkt.
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Ich habe einleitend von einem „transnationalen Familiennetzwerk“ geschrieben. Ich muss an dieser Stelle allerdings dazu sagen, dass ich das Wort „transnational“ eigentlich ungern verwende, wie ich unter anderem in meiner Dissertation ausführlich erörtert habe. Der Grund dafür ist, dass das transnationale Paradigma den Begriff der Nation stark betont. Zwar ist die Relevanz des Nationalstaats überhaupt nicht geringzuschätzen — und am allerwenigsten gilt das für die Coronazeit; doch der Übergewichtung des nationalstaatlichen Prinzips widerspricht oft die gelebte Wirklichkeit von Familien und anderer Netzwerke, die in mehreren Ländern gleichzeitig wohnen, agieren und sich organisieren (müssen).
Für solche Familien stellen nationalstaatliche Grenzen oft Hindernisse dar, die „transzendiert“ (das heißt wörtlich: überschritten) werden müssen — ohne, dass ein bestimmter Nationalstaat dabei zwangsläufig im Zentrum stehen muss. Im Fall so einiger Länder, wie Bosnien, ist es sogar so, dass es einen Nationalstaat entweder gar nicht oder nur in der Theorie gibt.
Was das praktisch heißt, hat die Coronakrise vielen Familien noch einmal nachdrücklich deutlich gemacht: so auch unserer Familie, die dabei keinesfalls besonders außergewöhnlich organisiert oder besonders weit verteilt wäre. Während der Corona-Lockdowns ging es sehr vielen Familien mit unterschiedlichen „Reichweiten“ ähnlich: die jetzt plötzlich wieder viel hermetischeren Grenzen verkomplizierten ihre Lage zusätzlich.
Neben Familiennetzwerken gibt es noch eine Reihe anderer, viel machtvollerer Strukturen, die ebenso wenig ins nationalstaatliche Organisationsprinzip passen wollen: die Rede ist von Internet basierten Netzwerkstrukturen des World Wide Web, von multinationalen Unternehmen, politischen Organisationen, Glaubensgemeinschaften und anderen Gruppen. Es ist vielleicht etwas ungewöhnlich, diese Gruppen in einem Absatz mit Familiennetzwerken zu nennen – aber sie teilen sich die zentrale Eigenschaften, über Grenzen hinweg zu funktionieren.
Familienkrise?
Für unsere Familie begann kurz vor der Coronazeit bereits die Krise, die ab den ersten Lockdownmaßnahmen jedoch überdeutlich wurde. Meine Mutter befand sich seit dem 10. März in Bosnien: sie saß dort fest, in Quarantäne, und es war völlig unklar, wie und wann sie wieder würde zurückreisen können. Unter anderen Umständen hätte man wahrscheinlich bereits Anfang März davon abgesehen, eine Flugreise nach Bosnien oder irgendwohin sonst zu unternehmen: die Kunde breitete sich zwar bereits aus, dass Covid19 keinesfalls eine „chinesische Krankheit“, sondern eine weltweite, bedrohliche Pandemie war. Mit Iran und Italien hatte sich das Virus bereits sehr nahe an Mittel- und Südosteuropa angenähert. Meine Mutter hatte jedoch andererseits auch keine andere Wahl, als sich in ihr bosnisches Heimatdorf zu begeben: ihre 82jährige Mutter – unsere Baba Verka – war plötzlich an Nierenkrebs erkrankt und musste operiert werden. An eine Behandlung im Ausland war da schon gar nicht mehr zu denken.
Alle Mitglieder der zwischen den ex-jugoslawischen Ländern, Österreich und Deutschland und anderswo verstreut lebenden Familie waren zunehmend beunruhigt: einerseits war da die akute Erkrankung der Baba Verka. Fast zeitgleich hatte aber unsere in Österreich lebende Tante eine Brustkrebsdiagnose erhalten, und zwar ausgerechnet in Tirol, einem frühen Hotbed von Covid19 (Stichwort: Ischgl-Sauerei). Abgesehen von der Diagnose an und für sich, die ja schlimm genug war, war es nun alles andere als die günstigste Zeit, sich in ein Krankenhaus zu begeben. Eine zusätzliche Sorge war, dass unsere Mutter an einer mysteriösen Lungenkrankheit litt, der die Ärzte seit über einem Jahr nicht richtig auf die Spur kamen.

Alle der insgesamt neun Kinder von Baba Verka wohnen im Ausland. Auch in ihrem Dorf gibt es fast nur noch ältere Leute, von denen man schlecht hätte erwarten können, dass sie sich um die alleinstehende alte Frau kümmern würden. Zudem handelte es sich bei der Entnahme einer Niere um einen schweren, riskanten chirurgischen Eingriff mit offenem Ausgang, und es wäre absolut unvorstellbar gewesen, dass keines ihrer Kinder anwesend gewesen wäre. Auch das Krankenhaus bestand darauf, dass ein(e) nächste(r) Verwandte(r) anwesend sei. Ganz davon abgesehen gab es auch keine reale, staatlich organisierte Alternative, auf die Baba Verka gar noch Anspruch gehabt hätte; schon der Platz in der Klinik musste über Beziehungen (veze) und natürlich Geld organisiert werden.
Ein groteskes Detail erscheint mir hier übrigens besonders erwähnenswert: Baba Verka musste sich vor ihrer Operation ihre Blutreserven auf einem Markt selbst kaufen und diese dann mit ins Krankenhaus bringen. Ich muss wohl nicht dazu schreiben, dass dies in Deutschland nahezu unvorstellbar wäre — und diese Praxis hatte übrigens nichts mit der Pandemie zu tun. Sie ist dem Staatszerfall der 1990er und ihren Langzeitfolgen geschuldet, denen unzählige unterprivilegierte Menschen mittlerweile zum Opfer gefallen sein dürften: Menschen, die nicht, wie Baba Verka, eine große Verwandtschaft im Ausland hat, oder die sich nicht, wie eine bestimmte Klasse in Sarajevo und anderen Städten, gewisse Privilegien leisten können — etwa den Flug nach Istanbul oder den Gang in eine Privatklinik.
Es zeigte sich wieder einmal, dass unser großes, bosnisch-deutsch-österreichisch-„Jugo“ Familiensystem in Krisensituationen sehr gut zusammenzuarbeiten in der Lage ist. Das ist nichts neues, denn dieses Netzwerk war ohnehin aus ständigen Krisen heraus entstanden, und zwar schon vor den Kriegen der 1990er Jahren. So reiste zunächst mein in Kroatien wohnender, gerade aber saisonal in Deutschland arbeitender Onkel F. nach Bosnien, um während der Operation von Baba Verka dabei zu sein. Sein Bruder, mein jüngerer Onkel V., würde Onkel F. seinen Lohnausfall bezahlen, bis dieser nach ein paar Tagen durch meine Mutter sowie N., der Frau von Onkel V., abgelöst werden würde.
Die Grenzen sind wieder da!
So kam es, dass Onkel F. mit dem Auto nach Deutschland zurückreiste – während sich die Situation an der italienisch-slowenischen Grenze bereits dergestalt zugespitzt hatte, dass durch die Nachrichten Bilder riesiger, zu Straßenbarrikaden aufgetürmter Felsbrocken und Baumstämme geisterten, womit sich Slowenien von seinem „durchseuchten“ Nachbarland Italien zu schützen hoffte. Diese Bilder wirkten ein wenig wie ein déjà vu von Bildern aus den ersten Kriegstagen im Jahr 1991. Dies trug nicht gerade der allgemeinen Beruhigung und Zuversichtlichkeit bei. Onkel F. kam aber noch problemlos über alle Grenzen, zurück nach Deutschland. Meine Mutter und N. dagegen waren mit dem Flugzeug von Memmingen nach Tuzla gereist, von wo sie ein Familienfreund aus dem benachbarten Dorf abholte und zu Baba Verka brachte. Ein paar Tage später würden sie sich noch wünschen, sie wären ebenfalls mit dem Auto angereist.
Bei ihrer Einreise am 10. März schritt der europäische Lockdown angesichts des norditalienischen Grauens aber plötzlich mit so galoppierendem Stakkato voran, dass beide Frauen sofort am Flughafen in eine zweiwöchige, häusliche Quarantäne gerieten. Das heißt: sie durften immerhin noch weiter zu Baba Verka reisen. Aus ihrer (und meiner) Sicht relativ plötzlich hatten die Behörden der Föderation Bosnien-Herzegowina (FBiH) nämlich eine Verordnung (Rješenje) veröffentlicht, die besagte, dass sich Einreisende aus Deutschland, Frankreich und Spanien unverzüglich in Quarantäne zu begeben hatten. Nun ja.
Meine Mutter und Tante N. hatten dabei noch Glück: laut der von mir minutiös verfolgten Nachrichten aus Bosnien wurden Reisende aus Berlin, die später am selben Tag ankamen, am Flughafen festgehalten und durften vorerst gar nicht an ihre Zielorte weiterreisen. Eine häusliche Quarantäne war an und für sich nichts allzu Schlimmes für sie, da die beiden sowieso beabsichtigt hatten, mindestens zwei Wochen bei der Baba Verka zu bleiben. Sie hatten noch nicht einmal einen Rückflug gebucht, denn es war unabsehbar, wie lange genau sie bei Baba Verka würden bleiben müssen. Als ihnen dämmerte, dass sie nach Ablauf der Quarantäne so schnell wie möglich zurückreisen sollten, buchten sie zwar hastig Flüge — bereits in Absprache mit mir — mussten aber feststellen, dass auf einmal keine Airline mehr für ihren Rückflug verantwortlich sein wollte. So entwickelte sich das Rückreisedatum trotz Buchung zu einer völlig unsicheren Variablen.
Intensivkommunikation
Plötzlich kommunizierten alle miteinander. Alle machten sich Mut, tauschten ihre Besorgnis aus. Auch ich war zutiefst besorgt, denn ich war mir über den unterirdischen Zustand des Gesundheitssystems in Bosnien völlig im Klaren. Beruhigenderweise standen diesem Gesundheitssystem immerhin sehr niedrige Ansteckungsraten in Bosnien entgegen. Nach allem, was man in diesem Stadium über die Pandemie wusste, waren vor allem stark frequentierte, global eng vernetzte Gebiete betroffen, wie zum Beispiel Norditalien, die (Winter-)Tourismusgebiete Österreichs, Deutschland, Frankreich, Spanien. Bosnien nimmt sich dagegen als globale Provinz aus: ein Vorteil!
Meine Freundin A. aus Sarajevo, auf die wie immer Verlass war, versicherte mir am Telefon außerdem, dass man in Bosnien doch sehr krisenerprobt sei — was auch völlig richtig ist — und dass man auch diese Krise gut durch Improvisation würde bewältigen können. Die Aussichten für potenzielle Covid19-Patientinnen hohen Alters (Baba Verka) oder mit Vorerkrankungen (wie meiner Mutter) waren aus meiner Sicht aber in Bosnien trotzdem sehr viel schlechter als in Deutschland oder in Österreich: die Zahl der Beatmungsgeräte und Intensivbetten war äußerst niedrig.
Mit der intensiven Kommunikation habe ich bereits ein wesentliches Merkmal der frühen Corona-Zeit angesprochen: die plötzlich eingetretene Häufigkeit, die Dichte sowie die Wahl der Mittel der Kommunikation. Da Kommunikation etwas durch und durch soziales ist, steht ihr verstärktes Auftreten ganz im Gegensatz zur gleichzeitigen Forderung nach Abstandhalten, Kontaktreduzierung, besonders aber zum Begriff social distancing, der unter Denglischsprecherinnen weit verbreitet war.
Zwischen diesen unterschiedlichen Begriffen liegen allerdings ein paar wichtige Nuancen: sich sozial zu distanzieren kann eine sehr negative Bedeutung mit potenziell gefährlichen Folgen für die Ausgeschlossenen der Gesellschaft haben. Darunter fallen besonders Obdachlose, Flüchtlinge in Sammelunterkünften, aber auch Alleinstehende ohne Familie, die mit Krankheiten wie Depressionen oder mit Armut zu kämpfen haben, oder auch Alleinerziehende. Die Liste ist noch sehr viel länger, was ich aber hier bestimmt nicht ausführen muss. Weil schnell Bewusstsein über diesen (ungewollten) problematischen Bedeutungszusatz entstanden ist, wurde statt social distancing nun physical distancing (körperlich Abstand halten) vorgeschlagen.