Die Szenen vom Reichstagsgebäude im Zusammenhang mit der sogenannten „Hygienedemo“ am Samstag, den 30.8.2020 in Berlin, getragen von sogenannten Corona-Skeptikern, angeblichen „Querdenkern“, „Reichsbürgern“ und einer unüberschaubaren Vielzahl unterschiedlicher Menschengruppen („Peter und Cordula“, hat das glaube ich jemand im Feilleton genannt), veranlassen mich zu diesem Beitrag. Präziser gesagt: es geht mir um die Reichsflaggen, die in einem gescheiterten, lächerlichen und zutiefst unverschämten Versuch gezeigt wurden, den Bundestag zu „stürmen“. Ich vermute, dass dieser versuchte „Sturm“ als Versuch zu interpretieren ist, die Geschichte „aufsprengen“ zu wollen, wie Walter Benjamin es formuliert hat — wenn auch in Gestalt einer alles andere als positiven und hoffnungsstiftenden Unverschämtheit.
Um es vorweg klar zu stellen: ich empfand diese Szenen als unverschämt, weil sich hier eine Minderheit anmaßte, über das gesamte politische Gemeinwesen als ein einziger riesiger Irrtum hinwegsetzen zu können. Ich habe mich über die schon früher stattgefundenen Protestmärsche in Berlin nicht auf dieselbe Art aufgeregt, denn Protest und Kritik sind eine Sache, die in einer Demokratie hingenommen werden muss. Ich kann diese Proteste zwar für „dumm“ halten; und in dem Sinn, dass ich davon überzeugt bin, dass diese Menschen mit ihren Pseudo-Argumenten die Welt nicht verstehen und auch gar nicht verstehen wollen, halte ich sie tatsächlich für dumm; ebenso kann ich mich natürlich darüber aufregen, dass ich selbst immer eine Maske trage, um andere und mich selbst nicht zu gefährden, während diese esoterisch und rechts eingefärbte Menschenmenge nichts besseres zu tun hat, als alle Anstrengung aller anderen in ihren Zehntausenden zunichte zu machen.
Doch eine andere Sache ist es, über die Köpfe Aller hinweg — also auch über meinen Kopf hinweg — und auch noch ohne irgendeinen brauchbaren Lösungsvorschlag den symbolischen Sitz des politischen Gemeinwesens anzugreifen. Und zwar mit Reichs- und Reichskriegsflaggen. Ich muss hier bestimmt nicht weiter in die Geschichte ausholen, um die Symbolträchtigkeit und die Schwere des Tabubruchs einer solchen Unternehmung ins Bewusstsein zu rufen.
Es fällt mir zwar schwer — aber ich muss einen wichtigen Faktor benennen, der in solchen Diskussionen gerne aus Höflichkeit oder falsch verstandener Anständigkeit weggelassen wird, nur um hinter vorgehaltener Hand umso lauter über „die Dummen“ zu spotten: es fehlt bei vielen dieser Menschen schlichtweg an Bildung. Und wo es nicht an formaler Bildung fehlt, fehlt es an gesundem Menschenverstand, und es bleibt leider zu befürchten, dass Letzteren besonders wenig zu helfen ist. Am Ende gibt es noch eine dritte Gruppe, auf die ich noch zurückkomme.
Ich bin selbst ein kritisch denkender Mensch, der seine eigenen Beobachtungen macht, der sich über unterschiedliche Quellen und in unterschiedlichen Sprachen informiert, und der auch keineswegs dazu neigt, sich wegzuducken und keine Nachrichten mehr zu lesen, wenn es unbequem wird. Auch höre ich mir die Argumente anderer immer an — auch wenn sie mich danach immer noch nicht überzeugen, und auch wenn wir im Dissens auseinandergehen.
Ich bin davon überzeugt, dass Gesellschaften Streit brauchen, den man in kultivierter Form auch als Debatte bezeichnet: in Debatten geht es nicht um Beleidigungen — von denen die sogenannten „Social Media“ aber nur so strotzen, und zwar von allen Seiten — sondern um den Schlagabtausch von Argumenten. In Debatten gibt es sehr wohl Sieger und Verlierer, doch in Debatten gibt es auch immer mehr als nur zwei Seiten. In „Social Media“ dagegen gibt es immer nur zwei Seiten, auch wenn es Menschen gibt, die das nicht begreifen: ich habe erst vor kurzem gelesen, wie sich eine Akademikerin anlässlich einer zutiefst törichten Pseudo-Debatte für die wundervollen Eigenschaften des sozialen Mediums Facebook zu bedanken. Ich konnte nur mit dem Kopf schütteln.
Es mag bei Debatten — ich nenne es einmal „bei der Debattenkultur“ — nicht immer mit rechten Dingen zugehen oder zugegangen sein. Aber es gibt in der Debattenkultur Regeln und eine sprachliche Form, die erlernbar sind und früher zum Beispiel als Rhetorik, Logik und in erörternden Aufsätzen unterrichtet wurden. Heute wird völlig zurecht oft moniert, dass der Zugang zu Debatten eingeschränkt und die Debattenkultur dadurch völlig verzerrt war.
Ja.
Sehr ja sogar.
Ich komme selbst aus einem sozialen Umfeld, das von der „alten Debattenkultur“ ausgeschlossen war, und ich habe dies keineswegs hingenommen, sondern mich durch schwere Kämpfe und mit Hilfe zahlreicher Verbündeter darüber hinweggesetzt. Ausschluss aus der Debattenkultur (und das sich darüber Hinwegsetzen) findet, direkt nach der Frage der sozialen Beschaffenheit des Elternhauses (sofern es eines gibt) auf dem Feld der frühen Bildung statt, also an den Schulen. Deswegen ist es natürlich richtig, dass Menschen aus einem bildungsbürgerlichen Hintergrund, die nie mit dieser Form des Ausschlusses zu tun hatten, an dieser Stelle einmal die Schnauze halten, zuhören und erst nach reichlicher Reflexion dazu übergehen sollten, andere als „dumm“ zu bezeichnen — denn „dumm“ ist in vielen Fällen „dumm gemacht“: über Ausschluss.
Trotzdem überzeugt es mich nicht, dass es jetzt ausreichen soll, zu sagen: „Ich bin, also habe ich recht.“
Nein: du hast nicht recht, nur weil du bist. Sorry, not sorry.
Und ganz besonders gilt das für ein Sosein, das bedeutet, eine Reichsflagge zu schwenken: auch hier ist natürlich sehr gut vorstellbar, dass sich ausgerechnet Ausgeschlossene unter die Reichsflagge rotten. Ihr Ausgeschlossensein, ihr Gefühl, dass über ihre Köpfe hinweg debattiert und beschlossen wird: all das verschafft ihnen kein Recht.
Zweitens gibt es ein Phänomen, das ich einmal sehr despektierlich (und ich gebe zu: auch, weil es sich reimt) als „Scheiß-Nice-Opinion“ bezeichnet habe: sofern man sich nicht in abgrundtiefer Verachtung und durch Beschimpfungen streng polarisiert gegenübersteht, findet man sich in den „Social Media“ in Meinungslagern zusammen, und dort gilt es, möglichst nice, careful, respektvoll und höflich miteinander zu verkehren. Doch am Ende bedeutet dieses nicht-debattierende Miteinenanderverkehren im Meinungslager nicht viel mehr, als immer wieder dieselbe Meinung zu artikulieren und in unterschiedlichen Pastelltönen und Fokuseinstellungen zu variieren. Meinung wird zu einem Identitätsmerkmal — und das macht mir Angst. Wer sich wagt, innerhalb einer solchen „Zwangswahlverwandtschaft“ der Meinungen kritisch zu denken, wird schnell verbellt — und zwar auch über die Herzchen und Umarmungen „der Anderen“. Deshalb: Scheiß-Nice-Opinion.
Doch zurück zur Unverschämtheit auf den Stufen zum Reichstagsgebäude zu Berlin.
Auf Aufnahmen waren nicht nur Reichsflaggen und Reichskriegsflaggen zu sehen, sondern auch russische, US-amerikanische und sogar eine türkische Flagge. Mit diesen Flaggen forderten die DemonstrandInnen wohl in ihrem Zorn und aus sonstigen Beweggründen eine Art „Wirklichkeit“ ein, die es gerade nicht gibt, und die es auch nie mehr wird geben können (und auch nie gab): wir befinden uns in Zeiten einer globalen Pandemie und, wichtiger noch: eines katastrophischen Voranschreitens der Erderwärmung und des Klimawandels. Letzteres (die Katastrophe) mag reißerisch klingen, sie kann aber unmöglich gewissenhaft weniger drastisch ausgedrückt werden.
Es ist, wie es ist (Anm.: alte Weisheit von der Hefe).
Doch beide bestimmende Phänomene — die Covid19-Pandemie und der Klimawandel — werden von jenen Leuten, die man früher als Lumpenproletariat oder als Mob bezeichnet hätte, die mit höchstlächerlichen Flaggen untergegangener (deutscher) und untergehender (amerikanischer, russischer, türkischer etc.) Großmachtphantasien am Samstag glaubten, „gegen die Wirklichkeit protestieren“ zu können, geleugnet.
Das ist nicht überraschend.
Noch vor der Pandemie, die mit allergrößter Wahrscheinlichkeit auch noch eng mit dem Klimawandel zusammenhängt, ist der Klimawandel Wirklichkeit. Doch man könnte den „eigentlichen“ Klimawandel auch als Trope (das heißt: als Wendung oder Übertragung) verwenden und „uneigentlich“ machen. Dadurch könnte man zwei Dinge zusammenbringen, die zusammengehören, von denen aber oft getan wird, als gehörten sie in unterschiedliche Kategorien: Naturraum und Sozialraum, Naturwissenschaft und Sozialwissenschaft, meteorologischer Klimawandel und sozialer Klimawandel, Erdatmosphäre und gesellschaftliche Atmosphäre (sind vergiftet, erhitzt, etc.).
Das würde völlig Sinn machen, wenn man bedenkt, dass das Klima und die Rede von den Tropen selbst metaphorisch, uneigentlich und damit tropische Wendungen sind: wir bezeichen die irdischen Gebiete zwischen dem nördlichen und südlichen Wendekreis als Tropen, da man sich früher vorstellte, die Sonne laufe zwischen diesen Wendekreisen hin- und her. Das tut sie natürlich nicht. Trotzdem hat sich diese Vorstellung lexikalisiert, ist „selbstverständlicher“ Teil unseres Sprachgebrauchs: so stellen wir uns Wirklichkeit vor, auch wenn wir in einer sehr viel „eigentlicheren Wirklichkeit“ mitsamt des Planeten Erde um die Sonne „wenden“. Ebenso selbstverständlich sprechen wir von den Klimazonen: davon, dass an einem Ort dieses, am anderen Ort jenes Klima herrsche — obwohl auch dies eine einzige (und völlig falsche) Uneigentlichkeit bildet. Es gibt nur ein Klima, in dem alles miteinander zusammenhängt — und wer das bestreitet, dem ist schwer zu helfen, der „irrglaubt“: wer heute nicht an die Existenz des Jetstreams glaubt, aber hinnimmt, dass ein transatlantischer Flug auf dem Hin- und Rückweg von unterschiedlicher Dauer ist, dem fehlt es wie gesagt entweder an Bildung, oder an gesundem Menschenverstand. Dem ist schwer zu helfen.
Die politischen Lösungsvorschhläge könnten hier glasklar vor uns liegen: Bildung, Bildung, Bildung! So lange und soviel Bildung, bis die Gruppe derjenigen, denen es an gesundem Menschenverstand mangelt, zu einer quantité négligeable verschrumpften.
Doch so einfach ist es leider nicht. Die Geschichte ist voller Beispiele von Menschen, die erstens hochgebildet waren, und denen es zweitens in bestimmten Situationen überhaupt nicht an gesundem Menschenverstand mengelte. Menschen also, die man keinesfalls als „dumm“ bezeichnen kann, die aber in einem entscheidenden Moment „zur Reichsflagge“ gegriffen haben.
Ich habe hier Anführungszeichen verwendet, weil ich dabei konkret an zwei Männer denke, mit deren Werk ich mich vor kurzem beschäftigt habe: erstens ist das Ernst Jünger, vor dem es mich gruselt, weil er ein ausgesprochender Gegner der Demokratie der Weimarer Republik war und sich antisemitisch und sich (besonders am Anfang) offen pro-nationalsozialistisch engagiert hat, der aber trotz seiner rechten, nationalistischen und profaschistischen Haltungen auch über die Nazizeit hinweg noch in den 1980er Jahren mit dem Goethepreis ausgezeichnet worden ist. Der Mann wurde steinalt (102) und hat an seinen Schriften zeit seines Lebens gut verdient. Das besonders erschreckende ist, dass er Dinge geschrieben hat, die nicht nur rechts, faschistoid und verwerflich waren, sondern bis heute einflussreich sind und auch von liberalen DenkerInnen verarbeitet werden. Ein ausgesprochen intelligenter Täter (und Mittäter), also.
Dieses und anderes verbindet Ernst Jünger mit dem zweiten Mann, mit dem ich mich viel ausführlicher beschäftigt habe: Mircea Eliade. Der aus Rumänien kommende Religionswissenschaftler hat die Welt gesehen. Nachdem er als junger Mann mit 21 Jahren nach Indien gegangen war, wo er in Kaluktta studierte, hat er über den Yoga eine Dissertation vorgelegt und im weiteren Verlauf die Forschung über den Schamanismus revolutioniert. Seine (teils widerlegten) Schriften sind quasi unumgänglich für alle, die sich mit Mythologie, politischen Mythen und den Schnittstellen zwischen Glaubenssystemen und Politik beschäftigen. Doch Eliade hat in den 1930er und 1940er Jahren die rumänischen und mit Hitler verbündeten Faschisten tatkräftig unterstützt, sodass ich ebenfalls davor zurückschrecke, seine Erkenntnisse nicht einfach eine Sache verstaubter Buchregale sein zu lassen. Genügt es nicht, sich mit den Jung’schen Archetypen zu beschäftigen? Reicht es nicht, jüngere Religions- und MythenforscherInnen zu lesen? — Schnell wird man feststellen, dass der Name Mircea Eliade überall in den Literaturvereichnissen und Fußnoten auftaucht, und der Grund besteht darin, dass er eben nicht nur faschistoide Gedanken produziert hat. Er war ein höchstintelligenter Mensch, der dazu noch mit einer feinen Sensorik über die Bedürfnisse des Spirituellen ausgestattet war.
Die Frage, die sich mir also stellt, lautet: wie kann es geschehen, dass Leute, die eigentlich bei Verstand sind, in eine pro-faschistische Richtung abdriften — und mehr als das: zu regelrechten Aktivisten faschistischer Bewegungen werden?
Dies ist (für mich) natürlich keine neue Frage. Ich habe mich schließlich mit dem profaschistischen Aktivismus bosnischer und türkischer „Intellektueller“ auch in meiner Dissertation befasst: ein aktiver Führerkult, das Hantieren und Manipulieren mit spirituellen und transzendenten Bedürfnissen, das Ankämpfen gegen komplexe demokratische Debatten: das alles ist äußerst faschistoid, und daran Teil haben auch die nette Dozentin von nebenan oder der wissenschaftlich hochdekorierte Politikberater dort oben. Das Phänomen ist darüber hinaus so allgemein, dass es angezeigt ist, angesichts der Reichflaggen auf den Stufen des Berliner Reichstags-Bundestags am 30.8.2020 diese Frage erneut zu stellen: wie kommen die Leute dazu, sich in solche Abgründe abzuschießen?
Ich habe dazu eine Vermutung, aber sie ist unausgereift. Ich weiß auch gar nicht, wie ich es richtig auf den Punkt bringen soll. Aber einen Gedanken von Walter Benjamin dazu fand ich inspirierend, und bevor ich das Zitat nenne, will ich versuchen, meine Vermutung dazu zu formulieren; meine Gedanken des folgenden Absatzes sind vielleicht verständlicher, nachdem man noch das anschließende Benjamin-Zitat gelesen hat:
Es gibt Momente in der Geschichte, in der ihr Verlauf „aufsprengbar“ erscheint. Diese Momente treten dann auf, wenn der Bruch zwischen der „Jetztzeit“ (genauer bei Benjamin) und dem Gewordensein (der Geschichte) so krass klafft, dass „die Welt nicht mehr verstanden werden kann“ — weil Verstehen immer der Prozess des Angleichens des Unbekannten an das Bekannte ist. Die Pandemie ist unbekannt, doch es fehlt ihr das Bekannte, an das sie angeglichen werden kann: es gab zu Lebzeiten nie eine solche Pandemie, und Geschichtsbücher über die Spanische Grippe oder den Schwarzen Tod erscheinen zu abstrakt: sie gehören nicht zu unserem aktiven „Weltwissen“. Auch der Klimawandel war nie da: kein lebender Berliner hat einen Sommer wie 2018 erlebt, da ihm beim bloßen Stehen unter den Blutbuchen des Tiergartens der Schweiß aus allen Poren rann (auch nicht 2003), auf den auch noch der Sommer 2019 folgte, um dann noch in einen Winter völlig ohne Frost überzugehen, den alle Neuköllner Balkongeranien ohne das geringste Problem überlebten. Die Jetztzeit ist „an der eigenen Haut spürbar“ — aber es ist kein Davor, keine Gewordenheit herstellbar, weshalb es kein Verstehen gibt. Die Geschichte erscheint aufgesprengt oder aufsprengbar. Im Akt des Aufsprengens, das heißt: kurz davor, kann die Überzeugung entstehen, dass das, was davor war, falsch war; doch das einzige, was den in unwiederbringliche Ferne gerückten Verlauf der Geschichte und die Jetztzeit noch verbindet, ist die Regierung, ist das politische System, ist der Bundestag, sind die trägen Institutionen. Deswegen werden diese Institutionen angegriffen, wenn auch aus einer nihilistischen Haltung heraus, wenn auch ohne haltbare Lösungsvorschläge, wenn auch in allerhöchster Unverschämtheit den Anderen gegenüber. In genau diesen Momenten können auch gebildete, „nicht-dumme“ Menschen „mit Menschenverstand“ einem Irrtum aufsitzen und sich auf die Seite derer schlagen, die nun eine sehr weite Vergangenheit (repräsentiert durch die Reichsflagge) den Unbillen der Jetztzeit und der Unbrauchbarkeit des „falschen“ Prozesses entgegensetzen wollen, weil sie sich in einer konstruierten Pseudo-Umwelt etwas zurechtbasteln, was sich meinem eigenen Verstehen bislang entzieht.
Und hier der Gedanke von Walter Benjamin aus seinen geschichtsphilosophischen Überlegungen:
Die Vorstellung einer diskontinuierlichen oder aufzusprengenden Geschichte geht vor allem auf Walter Benjamins geschichtsphilosophische Schrift Über den Begriff der Geschichte zurück. In Paragraph XIV schreibt er:
Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit, sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet. So war für Robespierre das antike Rom eine mit Jetztzeit geladene Vergangenheit, die er aus dem Kontinuum der Geschichte heraussprengte.
Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte, XIV, S. 701.
Er konkretisiert gleich im Anschluss seine Vorstellung der Jetztzeit mit der Möglichkeit des Aufsprengens, was seine Freundin Hannah Arendt in anderen (ähnlichen) Zusammenhängen als Nativität bezeichnen wird. Unter Nativität (wörtlich: Geborensein) ist die von HistorikerInnen oft versäumte, angemessene Beachtung der Möglichkeit von Neuanfängen oder des Neu-in-die-Welt-kommen-könnens zu verstehen; dass also Dinge geschehen, die sich gegen den als normal angenommenen Verlauf der Geschichte richten. Geschichte wird dabei immer als Geschichten vorgestellt, und beim Begriff Geschichte tritt der seltene Fall ein, dass ein deutscher Begriff weniger präzise als sein englisches Pendant ist: hier ist es hilfreich, zwischen History ( = Geschichte, vorgestellt als alle vergangene Gewordenheit) und Story ( = Geschichte als Narrativ oder erzählender, sprachlicher Korpus über die Gewordenheit) zu unterscheiden. Es ist kaum eine Szene vorstellbar, die treffender das Aufsprengen von Geschichte symbolisiert als folgende Sequenz aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (und wieder bin ich Heinrich Heine dankbar, darauf zurückzukommen!):
Das Bewußstsein, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen, ist den revolutionären Klassen im Augenblick ihrer Aktion eigentumlich. Die große Revolution führte einen neuen Kalender ein. Der Tag, der in Gestalt der Feiertage, die Tage des Eingedenkens sind, immer wiederkehrt. Die Kalender zählen die Zeit also nicht wie die Uhren. Sie sind Monumente eines Geschichtsbewußstseins, von dem es in Europa seit hundert Jahren nicht mehr die leisesten Spuren zu geben scheint. Noch in der Juli-Revolution hatte sich ein Zwischenfall zugetragen, in dem dieses Bewußtsein zu seinem Recht gelangte. Als der Abend des ersten Kampftages gekommen war, ergab es sich, daß an mehreren Stellen von Paris unabhängig von einander und gleichzeitig nach den Turmuhren geschossen wurde. Ein Augenzeuge, der seine Devination vielleicht dem Reim zu verdanken hat, schrieb damals: ,Qui le croirait ! On dit qu’irrités contre l’heure, De nouveaux Josués, au pied de chaque tour, Tiraient sur les cadrans pour arrêter le jour.’
Benjamin, Walter (1991): Über den Begriff der Geschichte, in: Gesammelte Schriften Bd.I/2. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 701-702.
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