[Pandemos] [Francorum] Schlüsselblumenzeit (I)

Schlüsselblumenzeit

Das Bild zeigt das Stück Waldwiese meiner Familie in der Schlüsselblumenzeit, wahrscheinlich 1981 (oder 1982? – die Verunsicherung rührt von den anderen Bildern aus derselben Diakassette). Auf der Wiese steht eine kleine Hütte, die mein Vater selbst gebaut hat. Sie dürfte zum Zeitpunkt der Aufnahme ganz neu gewesen sein, und er hat dieses Bild selbst aufgenommen. Die Wiese nannten wir auch Schlüsselblumenwiese, weil sie jedes Jahr im frühen Frühjahr – mal dichter, mal lichter – mit gelb blühenden Schlüsselblumen bedeckt stand. Während ich diese Zeilen schreibe (3. April 2020), blühen in Unterfranken auch gerade wieder die Schlüsselblumen. Ist es eine Koinzidenz? -Jedenfalls bin ich vorgestern zufällig über dieses Bild gestoßen, nachdem ich ein paar Stunden im Wald war und Schlüsselblumen gesehen habe.

Schlüsselblumen (primula veris) waren immer geschützt und besonders hoch angesehen. Trotzdem wurden sie von uns jedes Jahr unter Begeisterung in großen Sträußen gepflückt – ohne, dass dies den Schlüsselblumenbeständen geschadet hätte. Man war angehalten, nie alle Blumen einer Pflanze zu pflücken, und bloß kein Wurzelwerk herauszureißen. Die dicken Sträuße wurden geteilt und kamen auf den Friedhof, in die Hausflure, auf die Wohnzimmermöbel. Es gab streng genommen sogar immer zwei unterschiedliche Schlüsselblumensorten: die höheren Waldschlüsselblumen mit den dicken Stängeln, und die niedrigeren, üppigeren Wiesenschlüsselblumen mit den dünnen Stängeln.

Auch 1986 war dort Schlüsselblumenzeit. Damals blühten die Schlüsselblumen wahrscheinlich nicht so früh wie nach diesem fast völlig frostfreien Winter 2019/2020, im Corona-Frühling. Genau weiß ich es aber nicht, denn ich war schließlich erst sechs Jahre alt. Die Wetterdaten für das Jahr 1986 berichten für die ersten Apriltage 1986 in Bayern von Temperaturen bis zu 24 Grad, worauf aber ein „ungewöhnlicher Spätwintereinbruch mit Rekordwerten“ eingesetzt habe: „es ging vom Frühsommer in den Spätwinter„.

Vom Spätwinter ging es bald über in den atomaren Fallout: 1986 war das Tschernobyl-Jahr. Die Авария, die Reaktorkatastrophe, ereignete sich Ende April (26.4.) bei der ukrainischen Stadt Prypjat, damals in der UdSSR. Die sowjetischen Behörden haben zuerst versucht, den katastrophalen Unfall zu vertuschen, bis dies unmöglich war und schließlich klar wurde, dass Süddeutschland und Schweden besonders stark vom Fallout betroffen waren. Unsere Waldwiese liegt in Süddeutschland, wir waren also besonders stark betroffen. Wie stark, das wird wohl niemand mehr genau bemessen können. Es wird auch niemand mehr mit Genauigkeit sagen können, ob die häufigen Krebserkrankungen in den Folgejahren mit Tschernobyl zusammenhingen oder nicht. Oder teilweise, oder…

1986 war das letzte Kindergartenjahr. Wir Kinder waren alles andere als begeistert von den Ausgangsbeschränkungen – ähnlich wie sich heutigen Kindern das „Corona-Jahr“ einprägen dürfte. Es gibt einige Ereignisse aus meiner Kindheit, an die ich mich inselhaft besonders gut erinnern kann, und Tschernobyl war definitiv eines davon. Ich würde sogar sagen, dass Tschernobyl, und zwar noch vor dem Fall der innerdeutschen Grenze (die nur wenige Kilometer entfernt von unserer Waldwiese lag), das erste große, historische Ereignis war, an das ich mich erinnern kann. Und nicht nur das: Tschernobyl hat zu meinem politischen und ökologischen Bewusstsein entscheidend beigetragen.

Vom Tschernobyljahr führt eine Linie bis ins Jetzt, ins Corona-Jahr. Im Grundstudium – fast zwanzig Jahre nach Tschernobyl – würde ich bei Hannah Arendt über den „Erdverschrumpfungsprozeß“ (in ihrere Vita Activa) und über die Atombombe als reale Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit nachlesen, dass sich die Menschheit völlig zerstören und ihrer Lebensgrundlage berauben könnte (letzteres in den Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft). Ich würde aber in der Zeit des Studiums, also nach dem „Sturm und Drang“ in Bosnien (2000-2002), noch auf ganz andere Weise über das Fortwirken von Tschernobyl nachdenken.

Dieses Nachdenken hat vielleicht erst den Weg des Traumas zurücklegen müssen, bis ich die Auswirkungen dieses einschneidenden Ereignisses – Tschernobyls – anvisieren konnte. Das Bild unten zeigt mich an der Hand meiner Großmutter Olga in die Kamera blickend, während der Fotograf, mein Vater, aus der Hütte auf der Schlüsselblumenwiese fotografiert. Meine Zwillingsschwester ist an der Hand von Hugo, des Lebensgefährten von Olga. Krawatte und Anzug zeigen an: Sonntagsstaat.

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Olga war als Jugendliche aus der UdSSR, aus einem ukrainischen Ort bei Saporischschja (Запоріжжя), nach Deutschland geflohen oder vertrieben worden, noch mitten in der Nazizeit. Ihre Mutter war sogenannte Volksdeutsche, ihr Vater Pole. Sehr, sehr, sehr viel später würde ich erfahren: sie hat sich als Jugendliche in genau diesem Wald versteckt, um nicht an die „Flak“ geschickt zu werden. Vielleicht auch vor den Alteingesessenen: Geflüchtete hatten damals wie heute keinen leichten Stand. Der Großteil ihrer Familie ist ebenfalls nach Deutschland gekommen, wenn auch nicht alle zusammen. Ihr Vater, mein polnischer Urgroßvater, wurde „nach Sibirien verschleppt„, wie es immer hieß: er ward nie mehr wieder gesehen. Sie landete in der Welt der Dörfer, nachdem sie einen Mann (meinen Großvater) heiratete, der jedoch schon 1951 bei einem Motorradunfall verunglückte: da war mein Vater gerade auf die Welt gekommen. Mein Vater sitzt auf dem Bild unten zwischen meiner Zwillingsschwester (links) und mir (rechts).

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Olgas Mutter, unsere „dicke Uroma„, war ebenfalls nach Deutschland gekommen, aber sie war immer an sehr weit entfernten Orten anzutreffen gewesen: ob im Ruhrgebiet, oder, später, in Schwaben, wo auch der Großteil der restlichen „russischen Verwandtschaft“ lebte. Auf dem Bild unten sitzt sie ihrer Tochter Liesl gegenüber, im Schrebergarten unserer Großtante Marta (ebenfalls ihre Tochter), in Tübingen. Dazwischen sitzen meine Mutter, meine Zwillingsschwester, ich. Vielleicht ist das Bild im Jahr nach der Aufnahme der Schlüsselblumenwiese entstanden, in jedem Fall aber vor Tschernobyl, vor 1986.

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Bitte beachten Sie: tragen Sie Masken. Waschen Sie sich die Hände. Nehmen Sie sich nicht allzu ernst. Überdenken Sie immer, in allem, die „longue durée“: besonders, wenn Sie HistorikerIn sind!

Klicke hier um zu Teil II der Schlüsselblumenzeit zu kommen.

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