Dieser Beitrag ist der zweite Teil von Schlüsselblumenzeit und kommt in das Frühlingskapitel der Acta Francorum. Ich habe festgestellt, dass der Beitrag eigentlich noch nicht zu Ende geschrieben war, und dass ich in ihm zwar einen Zusammenhang zwischen der COVID-19 Pandemie (fortan: Corona), Tschernobyl und einem irgendwie größeren Kontext erkennen kann – dass das aber noch genauer geht. Nun muss nicht immer alles „genau“ oder für jeden genauso nachvollziehbar sein; aber ich musste weiterschreiben. Ich fange also noch einmal mit Ähnlichkeiten, Unterschieden und Zusammenhängen zwischen der Katastrophe von 1986, der Pandemie 2019-2020 und den Schlüsselblumen an.
Im Moment des Schreibens besteht also die Gemeinsamkeit der beiden von mir persönlich „erlebten“ Katastrophen – der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl und Corona – kurioserweise in der Schlüsselblumenwiese. Und das, obwohl diese wunderschönen Primeln weder von der einen, noch von der anderen Katastrophe groß in Mitleidenschaft gezogen worden sind: man könnte sagen, dass die Schlüsselblumen bisher allen Katastrophen getrotzt haben. Sowohl zur Zeit der Reaktorkatastrophe, da alsbald viele völlig normale Dinge anders wurden, als auch in der Corona-Zeit blühten die Schlüsselblumen beständig auf ihrer jährlich gemähten Wiese im Wald. Der Unterschied zwischen damals und heute ist, dass ich mich in der Corona-Zeit immer am sichersten im Wald gefühlt habe – während der Wald und der Waldboden durch Tschernobyl verseucht (verstrahlt) worden waren: kein Picknick auf dem Waldboden, keine Pilze aus dem Wald, kein Wildfleisch. Heute ist dagegen die Rede davon, dass Ortschaften und Menschen, zum Beispiel Ischgl, „durchseucht“ sind. Durchseucht, Durchseuchung: was für ein hässlicher Ausdruck!

Außerdem erinnern mich die Bilder und die hier nur angedeutete Geschichte der schon 1990 verstorbenen Olga, ihrer Eltern und ihrer zahlreichen Geschwister und Verwandten daran, dass unsere Familiengeschichte eine durch und durch europäische ist. Und dass Migration und Tschernobyl einen festen, nicht unwesentlichen Platz in meinem (unserem) Europa-Narrativ einnehmen. Meine Familiengeschichte reicht väterlicherseits von Baden – von wo die Russlandauswanderer zur Zeit Katharinas der Großen gegen Ende des 18. Jahrhunderts gekommen waren – und Franken – wo Olgas späterer Ehemann, mein unbekannter Großvater herkam – in das Russische Reich der südlichen Ukraine bzw. Polen. Mütterlicherseits erstreckt es sich nach (Ex-)Jugoslawien, das heißt heute besonders nach Bosnien und Kroatien, wobei die Familie durch Arbeits- und Kriegsmigrationen seit zirka 1990 in besonders großer Zahl in Österreich „clustert“ (d.h. einen „Siedlungsschwerpunkt“ bildet). Wenn man die Nachkommenschaft (dd.h. den Vater meines Neffen) bedenkt, spannt das Netz nun irgendwie auch noch über den Atlantik, in die Karibik. Immer wurde und wird migriert, und es ist auch gar nicht auszuschließen, dass ich selbst noch ein- oder mehrmals migrieren werde.
Das Gegenteil von Migration ist das permanent an ein und demselben Ort Wohnen, oft begleitet von der bald etwas abwegigen Vorstellung, dass darin der Normalzustand für alle anderen Menschen zu bestehen habe. „Alle“ besäßen demnach das, was das Territorium, im Prinzip also der Erdboden, genannt wird; „Alle“ sind aber nur diejenigen unter Allen, die sich dauerhaft auf diesem begrenzten Erdboden befinden, die „zu ihm gehören“, der „ihnen gehört“: begrenzt durch Grenzen und Staatsbürgerschaften. Immer waren Grenzen und (politische, weltanschauliche, geschichtliche) Gegensätze im Hintergrund ein Thema in unserer Familie, wobei sie meistens ein implizites und unbewusstes Thema waren, an das nicht so viel gedacht und welches selten deutlich als solches angesprochen wurde. Ein Thema, das aber trotzdem ständig Probleme bereitete, das alles umständlicher und schwerer machte: spätestens, wenn man an der österreichischen oder jugoslawischen Grenze stand und den Kofferraum aufmachen musste. Oder den bosnischen Onkel für einen Wochenendausflug in die tschechische Republik im Kofferraum über die Grenze schmuggelte. Ja: das kam tatsächlich vor. Von Grenzen wurde dennoch, also obwohl sie ständig am Zerrütten, sich Verändern und neu Entstehen waren, angenommen, sie stellten den Normalzustand dar.
Zu Tschernobyl fällt mir noch ein, dass ich über die Jahre fast vergessen habe, dass ein Cousin von Olga mit seiner Familie erst nach Olgas Tod nach Deutschland gekommen war. „Aus Russland„, wie es immer hieß. Also eigentlich aus der Ukraine. Ich habe seinen Namen vergessen, und nicht einmal meine Mutter, die sonst immer alles weiß, erinnert sich an ihn: nennen wir ihn also Sergej*. Das war wieder in so einer Zeit mit viel Ent- und Umgrenzung. Nach Tschernobyl, in den sogenannten Wendejahren: für die einen – für uns im unterfränkischen Zonenrandbezirk – bedeuteten sie nicht viel mehr als Wochenendausflüge „nach drüben„, „in die DDR„, deren Grenze sich die Leute nun als stabilen Eisenzaun um ihre Komposthaufen in ihre Zonenrandgärten stellten. Für die anderen – besonders für die jugoslawischen Verwandten, sowie für Sergejs* Familie – bedeutete die Wendezeit Ende und Neubeginn von Grenzen, Krieg, Flucht oder Auswanderung aus der späten Sowjetunion. Deren Zerfall hing ja irgendwie auch mit Tschernobyl zusammen.

Unter den „russischen Verwandten“ sprach eigentlich nur Sergej* einigermaßen Deutsch, wenn auch mit einer ganz, ganz merkwürdigen, irgendwie uralten Sprache, an die ich mich immer erinnert fühle, wenn ich Jiddisch lese oder höre.1 Leute, „deren Großmutter einmal einen deutschen Schäferhund besaß„, wie es in der Zeit oft abwertend über sogenannte „Spätaussiedler“ und „Russlanddeutsche“ hieß.2 Sergejs* Frau, an deren Namen sich gerade auch niemand erinnert, war wohl Moldawien-Russin, und seine geschiedene Tochter, die ganz sicher auch Olga* hieß, brachte zwei etwas jüngere Töchter (jünger als ich) und zwei etwas ältere Söhne mit, von denen einer den merkwürdigen, deutschen Namen Woldemar trug. Ich erinnere mich noch, dass uns die eine Tochter immer sehr leid tat, weil sie wegen Tschernobyl an Leukämie erkrankt war. Vielleicht hieß sie Lilli, so hieß jedenfalls eine von ihnen. Sergejs* Leute bewohnten bald nach ihrer Auswanderung ein riesiges, altes fränkisches Sandsteingemäuer in Ochsenfurt am Main, wo wir sie oft besuchten, und wo es in meiner Erinnerung unentwegt Borschtsch gab. Borschtsch war bei uns Kindern gar nicht gut angesehen, zumal fortan auch unser Vater immerzu Borschtsch kochte und sogar auf Reserve einfror. Außer Borschtsch – ich koche inzwischen selbst gerne Borschtsch – ist aus dieser Zeit aber nicht soviel hängen geblieben.
Aber diese Schnipsel der Familiengeschichte – und es ist fragwürdig, wieviel mehr ich darüber noch in Erfahrung bringen werde, nach all dem Sterben – werden wohl Teil der Acta Francorum werden. Dort werden sie davon künden, dass Migrationen immer schon normal waren – mindestens ebenso normal wie Grenzen, Territorien und Nationalstaaten. Und obwohl es Anfang Februar überhaupt noch nicht so geplant (wenn auch problemlos bereits vorstellbar) war, werden wohl auch katastrophische Zusammenhänge ihren Platz darin finden – ob Tschernobyl, Corona oder diverse Staatszerrüttungen und Kriege.
Abschließend muss ich aber noch einmal auf die Schlüsselblumen zurückkommen. Ich habe eingangs geschrieben, dass Schlüsselblumen bisher allen Katastrophen zum Trotz jedes Jahr aufs Neue auf ihrer Schlüsselblumenwiese in betörendem Gelb und zur Freude der sie pflückenden Kinder aufgeblüht sind. Sicher, es gab gute und schlechte Schlüsselblumenjahre – aber sie sind nicht verschwunden, erfreuen sich bester Gesundheit und können am ehemaligen Zonenrand in Unterfranken auch im Coronafrühjar 2020 nicht ernsthaft als gefährdet gelten.3 Allerdings mache ich mir trotzdem große Sorgen um die Schlüsselblume, besonders um die Waldschlüsselblume, da im Coronafrühjahr noch eine andere Katastrophe – gewissermaßen eine Parallelkatastrophe – geschieht, jeden Tag: die Klimakatastrophe. Ich weiß nicht, wie es anderen geht, aber ich konnte diese Katastrophe spüren, da ich in der Schlüsselblumenzeit täglich im Wald war: der Wald war bereits im April extrem ausgedörrt, und seitdem gab es auch nur einen einzigen, ergiebigen Regentag an dem es fast schüttete. Ich hoffe, das reicht für die Schlüsselblumen. Und ich wünsche mir so etwas wie einen Lockdown, nicht nur für die Schlüsselblumen, sondern für den ganzen Wald, der inzwischen unübersehbaren Schaden genommen hat.

1. Das kommt leider sehr selten vor, zuletzt im Buch Unorthodox von Deborah Feldman, das es auch als Mini-Serie gibt. Das Buch habe ich auf Deutsch gelesen, was ich nur sehr empfehlen kann, da es wirklich sehr gut geschrieben ist und an maximal zwei Abenden eininhaliert werden kann. Besonders fantastisch fand ich an dem Buch, dass viele jiddische Worte im deutschen Text einfach beibehalten worden sind, die man ohne Probleme versteht, wie zum Beispiel das Kosewort Shefele. Feldman, Deborah (2016): Unorthodox. Übersetzung Christian Ruzicska. Zürich: Secession Verlag. ↩
2. „Anfang der Neunziger ist der Russlanddeutsche ein Trunkenbold, der sich in Russendiskos rumtreibt und gern mal für Ärger sorgt, so der damals öffentlich vermittelte Eindruck„, schreibt die Deutsche Allgemeine Zeitung (Общая Немецкая Газета) aus Kasachstan, die auf Deutsch und Russisch erscheint und eine deutschstämmige Leserschaft in Zentralasien sowie Russlanddeutsche Spätaussiedler anspricht. Peter, Irina: „Kaum jemand weiß, wer sie sind“, in: DAZ vom 28.5.2018, URL: http://daz.asia/blog/kaum-jemand-weiss-wer-wir-sind/↩
3. Ganz im Gegensatz zu anderen Regionen Deutschlands, wo sie laut WWF als stark gefährdet gelten, etwa in Brandenburg oder Sachsen. Schlüsselblume, in: Artenlexikon von WWF, URL: https://www.wwf.at/de/schluesselblume/ ↩