[Media] Algowas?

Das ganze Postfaktische ist womöglich nur ein Dreher im Algorithmus, über den wahrscheinlich ebenso viel gewusst wird wie über Hedgefonds, Schäubles Griechenlandphantasien, und dergleichen Unwägbarkeiten mehr. Es sei einmal zum Beispiel ausgeführt, wie zum Essay: vor wenigen Stunden habe ich mit der erstgeborenen, einflussreichsten und machtvollsten Frau aller Pendiće, der mithin unangezweifelten Chefin des mir anverwandten und auf viele, zumeist gebirgige Länder (mit und ohne Zugang zu warmen Meeren) verteilten Clanes telefoniert. Wozu die ganze Information?

Abwarten – das kommt noch, das wird noch schön postfaktisch, denn alles ist wichtig, und in Zukunft wird man sowieso viel weniger Prioritäten setzen müssen bei der Einschätzung von Information jeder Art. Ach was: es wird keine „Arten“ von Information mehr geben. Müssen. Es wird nur noch Information geben, und die Leute werden dann auch endlich aufhören, sie nach „postfaktisch“ und „faktisch“ zu unterscheiden. Es müssen halt nur alle mitmachen, sonst kommen viele ärgerliche Fragen und Hallo-Momente auf, und das versaut.

Das versaut und das befängt, und davon sollte man sich frei machen. Glaubt man Hannah Arendt – und es spricht viel dafür, ihrem Wort Gewicht zu schenken, gilt sie doch heute mehr denn je als wichtigste politische Denkerin des 20. Jahrhunderts – ist Freiheit gleichbedeutend mit Politik. Würden sich nur alle in den Prozess des Politischen einbringen: „unsere Gesellschaft“ wäre eine viel freiere. Wobei man heutzutage nicht mehr so genau weiß, wo die eine Gesellschaft aufhört, und die andere anfängt; wo sind wir wir, und wo sind die die? (There is no there there) Alle Gesellschaften und Politiken scheinen miteinander so stark verwoben zu sein, dass sich nun Alle von allem je gehörten und gelesenen treiben lassen, so dass auch noch die Geringste und der Geringste aller eingebildeten Westen und Osten etwas zu Trump zu sagen haben. Das ist alles so kompliziert und komplex, dass es sich anbietet, so zu tun, als habe man eigentlich gar nichts zu schaffen in dieser Welt. Das kompliziert die Arendt’sche Grundannahme ungemein, denn sie besteht auch noch darauf, dass Politik und Freiheit unbedingt plural – also unterschiedlich – sein müssen. Deshalb erscheint es vielen als viel größere Freiheit zu sagen: „Ich hab‘ doch nix zu verbergen!“

Zurück zum Telefonat. Meine Gesprächspartnerin erzählte mir also, dass sie in naher Zukunft die von ihr oft und gerne bereiste, von mir nun endlich wieder bewohnte Hauptstadt dieses auftauenden Landes besuchen werde. Mit einer unterfränkischen Delegation. Und wer dermaßen vernetzt ist, wohnt im Hotel. Sie verriet mir den Namen des Hotels, den ich „in Echtzeit“ synchrongegoogelt habe, weshalb diese Information nun natürlich längst weltbekannt und algorithmisch vertextet ist – das kann man sich ja alles gar nicht mehr vorstellen – so dass ich darüber ebenso gut ins Weiße Haus hätte twittern können.

Ins Weiße Haus kann man aber nicht twittern. Richtungsmetaphern darf man so nicht mehr denken, ein Hashtag genügt heute, der Algorithmus leitet entsprechend weiter. Wie gesagt ist die Frage, wen das interessiert, völlig irrelevant. Außer, man hat Postfaktizität nicht verstanden, und genau damit kämpfe ich. Ebenso fällt mir ein, dass ich das während des Telefonats genannte Datum des Besuchs synchron zum Gespräch in meinen Terminplaner eingetragen hatte – also eigentlich in den Algorithmus. Wobei ich argwöhnte, auch den Namen des Hotels in eine Zeile des Terminkalenders einzutragen, denn mein Terminplaner ist klug, vernetzt, fragt nach, und synchronisiert sich auch gegen meinen Willen mit dem zweiten „elektronischen Device“, das ich irgendwie nicht unter Kontrolle habe. Dem sagst du was, und es macht das Gegenteil. Es hält sich an keine Anweisungen. Besonders mit dem Terminplaner ist es arg: wehe, es hat sich irgendein rumänischer Feiertag aus Versehen eingetragen – das Device wird mich eine halbe Stunde und zehn Minuten vorher mit einem digitalen Zither-Vierklang darauf hinweisen.

Ich kann meinen Terminplaner übrigens nicht bei seinem eigentlichen Namen nennen, weil der Algorithmus sofort den ganzen restlichen Algorithmus informiert, wenn ich die viel gebräuchlichere, „eigentlichere“ Bezeichnung anstatt „Terminplaner“ verwende. Ich schrieb ursprünglich in einer Facebookzeile, die mich ständig fragt: Ne düşünüyorsun? („Was denkst du?“ — so sieht tägliche Konfrontation mit der adoptierten Fremdsprache aus). Die eigentlichere Bezeichnung für „Terminkalender“ führt einer meiner Facebookfreunde – wobei ich absichtlich das Geschlecht verfremde – nämlich als Familiennamen. Schon beim Schreiben des vorletzten Buchstaben jener „eigentlicheren“, homologen Bezeichnung fühlt sich der Algorithmus gereizt, mir eine Verschlagwortung jenes hier homologisch und geschlechtlich verfremdeten Freundesnamens vorzuschlagen. Da dieser Freund aber meines Wissens nur in anderen Zungen spricht und liest, möchte ich das nicht. Ich möchte das nicht, wie Hape Kerkeling so schön empowert. Und ich wünsche dem Algorithmus, dass er sich diese Information nun immerhin über verschachtelte Relativsätze, doofe Wörter, Synonymfindung, Übersetzung erschließen muss. Ob er das auch hinbekäme, wenn ich jeden zweiten Buchstaben kyrillisch schriebe? I-s und e-s wegließe? Umlaute mit einer variablen Zahl vertauschte? Vielleicht überschätze ich ja den Algorithmus (aber das kann man sich ja alles gar nicht mehr vorstellen).

Wieder so ein Sprung. Zurück zum Thema Telefonie-cum-Google: nennen wir das Weiße Haus, äh, Hotel, „Aksumit“, um Ähnlichkeiten zum „wahren Namen“ vorzugaukeln, die tatsächlich so groß sind, dass sich der Algorithmus nicht lange wird abstrampeln müssen; Und um vielleicht weiterhin irgendwie mit der Weißes-Haus-Metapher zu plänkeln. Na und sogenannten „wahren Namen“ sollte im postfaktischen Zeitalter oft so richtig witziger Profilnamen keine allzu große Rolle mehr eingeräumt werden.

Dieser Gedanke, obwohl ich niemals Mathe studieren könnte: vielleicht kann ich so den Algorithmus ja ein wenig verwirren, gar Postfaktisches in die Welt setzen, dünkt es mir lausbübisch. „Ex-ante postagiert haben“. Äh, agieren (?). Denn die Wahrscheinlichkeit ist groß – aber nur der Algorithmus weiß, wie groß – dass etwas Unterhaltsames mit Link dabei herauskommt. Ich könnte das Wort „Aksumit“ natürlich auch gleich synchrongooglen, was soll die unnötige Spannung – aber wer weiß, was ich dann in den Werbebannern und Newsfeeds noch so angeboten bekomme. Es will dazu gesagt werden, dass mein Facebook-Profil während des Synchrongoogelns abgemeldet war, weil mir eine innere Stimme suggerierte, es habe etwas Ungehöriges, während des Raum überwindenden Sprechaktes der Telefonie fettige Fingerabdrücke in den Newsfeed zu scrollen.

Das steckt einem einfach im Habitus, ist Leib gewordene Gewohnheit, ist strukturierend und strukturiert gleichzeitig: denn früher, vor dem vier Kilo schweren, ersten schnurlosen Haustelefon, ging es zum Telefonieren mit dem beigen Leih-Telefon von der Post mit Wählscheibe und Ringelkabel noch in den Hausgang. Nur dort konnte, durfte telefoniert werden, wobei Telefonieren nicht zu den jederzeit nutzbaren Grundrechten gehörte, sondern rituell gemaßregelt und gegängelt war. Manchmal war es auch recht willkürlich verboten, wenn zum Beispiel nach einem Jugoslawientelefonat das Thema der drohenden Telefonrechnung als heftiges Geschütz aufgefahren wurde. Telefonrechnungen durften eine bestimmte Höhe nämlich auf gar keinen Fall überschreiten, und die Schuldigen wurden unerbittlich ermittelt und zur Rede gestellt. Obwohl selbst oft im Mittelpunkt der Tribunale, hatte die Clanchefin hier die Fäden insgeheim immer selbst in der Hand. Sie musste die „proaktiven“ Jugoslawientelefonate abseits vom gebilligten Angerufenwerden verteidigen und gewährleisten, was sich noch zuspitzte, als in Jugoslawien scharf geschossen wurde. Nach zwei Jahren post-postkartischer Telefonverbindung (es gab erst ab Anfang der 90er Telefon in jenem Jugoslawien, das hier relevant ist) wurden teure Satellitentelefonverbindungen virulent, die zudem den ganzen Telefoniertag dramatisch strukturierten. Was wurde gebangt und gewartet und geschossen, bis nicht telefoniert werden konnte.

Gab es in diesem Text eine Handlung und Pointe, fragen Sie, fragst du? Und wenn ja, wo sind wir hier eigentlich, und wo will der Schreiber dieses Textes verdammt noch mal hin? Was hat der Algorithmus aus dem Hotel „Aksumit“ gemacht, und ist es nicht auch eine Art von Unanständigkeit, diese ganze angeblich nicht hierarchisierbare Information so mikadostäbchenhaft der Leserin hinzuschmeißen, auf dass sie sich selbst einen Reim, einen Text daraus bilde? Kann man das nicht vorher algorithmisch verdichten und irgendwie gezielter damit manipulieren?

Geduld. Dauert nicht mehr lang.

Zunächst bin ich noch am Telefonieren, in meinem sogenannten Text. Es kam also, dass sich das wie immer unterhaltsame Gespräch hinzog. Wer mit einer solchen Clanchefin telefoniert, gewinnt gewollt, ungewollt Einblicke in Clanstrukturen, die sonst kaum etwas übereinander erfahren, und man muss schon extreme Erfahrungen gemacht haben, um das alles zu überblicken (also ich überblicke es nicht). Denn der Clan setzt sich ja teils behänd, teils schwerfällig über Grenzen hinweg, egal, wie viele es ihrer gerade gibt. Über die jüngsten Schneefälle im bosnischen Dorf hin zu den jüngsten Sterbefällen im unterfränkischen Dorf geriet das Synchrongoogeln des Hotelnamens „Aksumit“ fast in Vergessenheit – wäre der Algorithmus nicht eingeschritten und hätte nicht „nie vergessen“.

Jedenfalls mache ich nach dem beendeten Telefonat, einem weiteren Telefonat, einer niederen körperlichen Verrichtung, sowie einem nächtlichen Einkauf bei einem in der Nähe gelegenen Supermarkt (der sich an die mir gewogenen Öffnungszeiten 8:00-24:00 Uhr hält) das Facebook-Profil auf. Zuoberst im Newsfeed, als oberwichtigste Information – schon wieder diese traditionelle Hierarchisierung von Information – lädt mich das Hotel „Aksumit“ zu sich ein. Ende der Informationen.

Ich bin jetzt auch eine Information, ein „Datum“.

Postfaktum est.

Je suis une donnée.

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