Ich sitze im Bus von Sarajevo nach Split und versuche zu schlafen, aber es geht nicht. Ich bin aufgewühlt, verwirrt, unzufrieden. Ich habe das Gefühl, nie etwas zu Ende zu schreiben, und dieses Gefühl wird auch nicht weg gehen, bevor ich meine Dissertation nicht zu Ende geschrieben haben werde. Deswegen wird auch dieser Beitrag nicht einmal an seinem Ende zu Ende geschrieben sein. Immer fange ich etwas an, habe aber dann nicht den langen Atem, um einen Gedanken zu Ende zu bringen und auszuformulieren.
Dann
vergeht
Zeit.
Der Gedanke wühlt und gärt, das Projekt bleibt liegen, ohne zu verschwinden, und wenn ich versuche, es wieder aufzunehmen oder zu Ende zu bringen, ist zu wenig Spannung und Motivation abrufbar, weil bereits andere große Spannungen da sind. Ich frage mich, wie andere Menschen es hin bekommen, schnell und zügig ihre Blogprojekte zu verfolgen. Neben ihren Dissertationen. Mir fehlt die Konzentration, der Fokus. Vielleicht habe ich ja ein allgemeines Konzentrationsproblem. Vielleicht habe ich ein Problem mit der „Leistungsgesellschaft“ oder mit „brotlosen Künsten“. Vielleicht habe ich ein Problem damit, meine Rolle zu akzeptieren. Nur: welche Rolle eigentlich? Mir fällt ein Spruch von Stefan ein: „Du bist Wassermann und kannst nichts dafür.“
Ich sitze also im Bus von Sarajevo nach Split. Nachdem ich den Versuch zu schlafen irgendwo kurz vor Čapljina aufgegeben habe, habe ich einen Artikel im Guardian gelesen, in dem es um Bilingualismus oder Multilingualismus und den Zusammenhang von kognitiven Fähigkeiten und Konzentrationsvermögen bilingualer Menschen geht. Ich kann mich vorerst sowieso nur bis zur EU-Grenze konzentrieren, und diese liegt kurz hinter Čapljina. Danach werde ich im „Ausland“ sein und keinen mobilen Internet-Zugang mehr haben (auch wenn einige Einwohner des Grenzortes Metković nicht wahrhaben wollen, dass sie in gegenseitigen Ausländern wohnen). Deshalb beeile ich mich, neben dem Guardian Artikel über Bilingualität noch ein paar weitere interessante Beiträge herunterzuladen, die ich dann offline werde lesen können. Als hätte ich nicht genügend Lesestoff im Handgepäck. Dem Artikel zu Folge sind bi- oder multilinguale Menschen besser in der Lage, sich zu konzentrieren und zu fokussieren.
Konzentrieren, fokussieren: bei mir klappt das phasenweise gar nicht. Vielleicht bin ich dazu auch nicht ausreichend bilingual, obwohl ich doch immerhin rudimentär von Anfang an mit zwei Sprachen aufgewachsen bin. Es gab in meiner Familie immer Serbokroatisch- und Deutschsprecher, und diese zwar in sich etwas ignorante Mehrsprachigkeit zu Hause hat bei mir auf jeden Fall eine generelle Interessiertheit bewirkt, vor allem an Jugoslawien und an dem, was danach kam. Doch ziemlich zeitgleich mit der DDR, der Sowjetunion, der Tschechoslowakei und Jugoslawien hörte auch Serbokroatisch bald auf, offiziell zu existieren. Keine Sprache wie Französisch, die man angehalten ist, zu lernen, die schmückt. Womit der Fokus, die Konzentration auch schon wieder verschwimmen.
Immer noch im Bus fokussiere ich mich um. Lese wieder etwas über den Führerkult in der Türkei. Ich kann es langsam nicht mehr hören — und erst Recht nicht mehr sehen und lesen. Sogar chatten mit türkischen Freunden fällt mir inzwischen schwer — nicht wegen ihnen, sondern wegen der Themen. Ich kann und will nicht zulassen, dass der Eindruck entsteht, ich wäre nur „bei ihnen“, wenn Istanbul friedvoll ist. Wir schicken uns friedvolle und satirische Video-Clips zu. Trotzdem gibt es diese Ermüdung, dieses angewidert sein von der Demagogie, die immer lauter wird. Die toxisch wirkt.
Als hätte die Menschheit, ob in der Türkei oder anderswo, nichts besseres und dringenderes zu tun, als auf die Befindlichkeiten und narzisstischen Störungen eines, mehrerer verunsicherter Cis-Männer und ihrer Helfeshelferinnen einzugehen. Ich habe mir jetzt schon mehrmals erklären lassen, was Cis-Männer eigentlich sind — und immer wieder vergesse ich es, obwohl ich mir sicher bin, dass es auch irgendwie mit mir selbst zu tun hat, und dass Demagogen irgendein Cis-Problem haben.
Ich lese hastig nach.
Sollte es so etwas wie Cis-Männer geben, hätten sie jedenfalls per Definition kaum Grund, verunsichert zu sein. Cis-Männer sind nämlich Normalos, die sich mit großer Wahrscheinlichkeit in ihrer Haut wohlfühlen. Ein Privileg, dass nicht allen Menschen zukommt — besonders nicht solchen, die von Normalos mit Normalität zugedrängt werden. Normalos tendieren dazu, anderen Menschen ihre Norm aufzuzwingen, weil sie an eine normale Vision glauben, und vielleicht heimlich Angst davor haben, selbst gar nicht allzu normal zu sein. Das ist auch kein Wunder, denn Normalität ist ein nie erreichter Idealzustand. Ich klassifiziere den demagogischen, türkischen Präsidenten jetzt einfach als einen verunsicherten Cis-Mann, denn all seine Äußerungen und Handlungen, sein schnaubiges Brüllen, seine zornigen Sätze mit dem Anfang „Eeeyy Europa!„, „Eeeyy Amerika!„, „Eeeyy Israel!“ — sie alle deuten in Richtung Cis.
Deniz Yücel fragte vor ein paar Tagen in der Welt, ob es nicht vielleicht doch sein könnte, dass der Türkei durch das populistische Geschehen am heutigen Sonntag, den 7.8.2016 in Yenikapı/Istanbul, eine Einigung und nationale Versöhnung bevorstehe. Ich denke nicht, dass er diese Frage ganz ernst gemeint haben kann. Es ist schon merkwürdig, dass ich mich im Bereich der deutschsprachigen Medien zuerst in der Welt über die Geschehnisse in der Türkei informiere: die Welt ist immerhin das Krönungsblatt des Springer-Konzerns. Andererseits werde ich auch immer dünnhäutiger in Bezug auf die Rechtschreibfehler der TAZ, die konservative Besserwisserei der FAZ, die münchnerische Staatstragung der SZ, die Wir-haben-noch-Magister-studiert-Haltung der ZEIT, den Make-up Intellekt des Guardian, und so fort.
Tatsächlich liefert Deniz Yücel die interessantesten und kritischsten Beiträge zur Türkei. Allerdings frage ich mich zwischendurch auch, ob seine Artikel nicht ein wenig zu sehr eingenommen sind: von einer Art teilnehmender Beobachtung, welcher der kritische Abstand ein wenig fehlt. Das ging mir schon bei ein paar vorangegangenen Befunden so, als die CHP en passant als „sozialdemokratische Partei“ bezeichnet wurde; oder als die durch und durch faschistoide, ultranationalistische MHP einfach als Oppositionspartei bezeichnet wurde. Wahrscheinlich bin ich kleinlich. Was den fehlenden Abstand betrifft, so ist das kein Vorwurf, den ich (ohne Abschätzung) einem Journalisten machen will. Ich kenne diesen Effekt gut, ohne je Journalist gewesen zu sein, und es schmälert auch überhaupt nicht die journalistische Leistung — wenn man einmal davon ausgeht, dass jeder Journalist aus einer subjektiven Perspektive schreibt und außerdem unter Zeitdruck steht. Allerdings hat derselbe Autor noch einmal mit einer „Intervention“ gegen die besorgten Stimmen aus dem Ausland nachgelegt (Bang, Boom, Bang, Türkiye kaputt) — und zwar mit der Schlussfolgerung, dass man jetzt noch gar nicht sagen könne, worauf das alles hinauslaufe. Eine Inthronisation habe es jedenfalls nicht gegeben.
Zum einen ist das nicht ganz unwahr. Man kann natürlich nicht sagen, worauf das alles hinausläuft — auch wenn es am Ende des Schreibens dieses Beitrags darauf hinausgelaufen sein wird, dass die Türkei jetzt auch aktiv am Krieg in Syrien teilnimmt, wo türkische Einheiten gegen kurdische Einheiten kämpfen.
Damit ist das eingetreten, was nicht nur ich letztes Jahr bereits befürchtet habe: der nach den Wahlen vom 7. Juni 2015 sehenden Auges und bewusst wieder provozierte Ausbruch des latenten kurdisch-türkischen Konflikts bleibt dieses Mal nicht, wie in den 1990er Jahren, hauptsächlich auf die Türkei beschränkt, sondern verbindet sich mit dem Krieg in Syrien, und womöglich im Irak. Mit wahrlich unabsehbaren Folgen. Grenzüberschreitend war der Konflikt freilich auch früher schon – aber damals gab es einen Staat Syrien, und auch der Irak war nicht in der selben, hoffnungslosen Lage (und Nein: ich kann dem Saddam-Regime nichts positives abgewinnen). Es gibt zwar keine logische Kette von Kausalitäten, in der sich das eine wie umfallende Dominosteine zum anderen wenden muss und voraussehbar ist, allerdings bietet die Situation Anlass zu großer Sorge.
Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr muss ich Hannah Arendts Blick auf Geschichte und ihrer Kritik an der Historiographie zustimmen: die Pathologien menschlichen Handelns können gar nicht angemessen gesehen werden, wenn aus dem selben Diskurs, der für das Geschehen federführend ist, beim Erzählen nicht ausgebrochen wird. Und wohlgemerkt, in ihrer Sicht und in der ihres Freundes, Walter Benjamins, ist der Geschichtsschreiber ein Geschichtenerzähler.
Ein weiterer Grund, warum ich Deniz Yücels Analyse zunächst zustimmen kann, hängt ebenfalls mit Hannah Arendt zusammen: es gibt immer die unvorhersehbaren Momente („Nativität“), die durchaus sehr viel irrationales beinhalten können, und die Folgen sind naturgemäß noch weniger voraussehbar. Das, was Hannah Arendt als Nativität bezeichnet, nämlich die urmenschliche Möglichkeit des Neubeginns, des Handelns ohne einen fest zuschnurrbaren Zwang der Kausalität, kann alle vermeintliche Kausalität narren, obwohl sie das oft in einem positiven Sinn gemeint hat.
Andererseits ist dies keineswegs immer der Fall, und so auch nicht im Fall der Entwicklungen in der Türkei. Hier geschieht Neubeginn als Gegenteil von Neubeginn im Sinne politischen Handelns. Hier wird „erratisch“ gehandelt, wie es deutsche Politikwissenschaftlerinnen so gerne wie nichtssagend nennen.
Hinsichtlich meines Eindrucks, dem Autor fehle es manchmal vielleicht ein wenig an Distanz, denke ich an meine eigene Erfahrung mit Nähe und Abstand. Solange ich in der Türkei war, solange ich in Bosnien bin, versuche ich, die Entwicklungen aus nächster Nähe nachzuvollziehen. Die nächste Nähe ist dabei natürlich meine nächste Nähe. Das bedeutet zum Beispiel, sich auf hitzige Diskussionen einzulassen, sie nachzuvollziehen, den Abstand aufzugeben, sich vom Strudel der Diskurse mitnehmen zu lassen, (hoffentlich) rechtzeitig wieder auszusteigen.
Neben den Diskursen in den traditionellen Medien wie Zeitung sind soziale Netzwerke sehr aufschlussreich, mit der Einschränkung, dass die Lage unübersichtlicher ist als bei der alleinigen Auswertung von Printmedien oder Fernsehbeiträgen. Ratsam ist eine möglichst hohe Ekeltoleranz. Aufgrund der zahlreichen Ekelerfahrungen beim Lesen von Diskussionen in sozialen Netzwerken ist mir schon oft eine viehische Metapher in den Sinn gekommen: wenn Facebook-Postings ein Reiter oder ein Pferd sind, schaut man dem Gaul ins Maul, indem man sich die darunter stehenden Kommentare durchliest. Dort verlieren viele Diskursteilnehmer jeden Anstand und lassen sich zur Äußerung extremster Positionen, abgrundtiefer Dummheit, von Gewaltaufrufen, und zur Offenlegung von Denkfehlern und Holzwegen hinreißen. Das macht diese Beiträge jedoch (leider) nicht irrelevanter.
In Beschreibungen und Erfahrungswerten zu ethnographischen Feldstudien, aber auch in der Soziologie Norbert Elias‘ wird Subjektivität als Grundvoraussetzung des Verstehens genannt. Ohne die eigene Subjektivität kann ich Zusammenhänge nicht durchschauen. Andererseits ist eine gewisse Objektivität notwendig, für die wiederum Abstand unabdingbar ist, denn manche Zusammenhänge oder Prozesse ergeben sich erst aus der räumlichen, zeitlichen oder mindestens inneren Entfernung. Die Entfernung ist ebenfalls nicht die Entfernung, sondern meine Entfernung, weshalb auch ihr Subjektivität innewohnt und Objektivität auf gar keinen Fall mit der Reagenzglasobjektivität der Naturwissenschaften verglichen werden kann.
Der Abstand – sofern er überhaupt möglich ist, weil er erschwerenderweise erst unter Bedingungen weitestgehender Handlungsentlastetheit wirksam wird – kann durch Rückzug eingenommen werden: in die Bibliothek, in einen Schreibretreat, auf den Blog, ins reflektierende oder verächtlich machende Gespräch mit Freunden, in Lob- und Schmähklatsch, in den Bus von Sarajevo nach Split, mit Tablet und Tastatur.
Das zwischen Nähe und Abstand hängen bleiben und sich in eine Richtung verrennen können birgt die Gefahr der Parteilichkeit, die unter allen Umständen zu vermeiden ist. Im Bereich wissenschaftlichen Schreibens führt sie nicht nur zur Produktion törichter Texte, sondern kann auch Gesichtsverlust nach sich ziehen. Weil es gar nicht so einfach ist, den „richtigen“ Abstand auszutarieren, und weil Parteilichkeit auch unterstellt werden kann und von den Sanktionsmechanismen des jeweils hegemonischen Diskurses abhängig ist, haben die meisten (vor allem jungen) SozialwissenschaftlerInnen auch insgeheim Angst, vorzeitig (und schlimmstenfalls für immer) ihr Gesicht zu verlieren. Das erklärt auch das problematische, weit verbreitete Schweigen von SozialwissenschaftlerInnen zu aktuellen gesellschaftlichen Debatten, mit denen sie sich eigentlich gut auskennen. Das Schweigen hinter Macbook, Citavi und MAXQDA.
Damit noch einmal zurück zur Entwicklung in der Türkei. Auch wenn man die scheinbar unausweichliche Logik der Kausalität in Frage stellt, gibt es doch so etwas wie einen Prozess — oder, wie es Norbert Elias fasst: eine Figuration. Der Prozess gesellschaftlicher Dynamik in der Türkei (und im transnationalen Raum unter türkischen Vorzeichen) erinnert mich an die Meetings im Serbien (Jugoslawien) der 1980er und 1990er Jahre, an das sogenannte Sich-Ereignen-des-Volkes. Das Volk – das Volk in Gestalt der nationalen Imagination, beziehungsweise die Zugehörigkeit zur Nation – ist zwar an sich nicht politisch, und wird auch nicht politischer, indem es „sich ereignet“, wie auf den serbischen und montenegrinischen „Meetings der Wahrheit“, etwa bei der berühmten Rede auf dem Amselfeld von 1989, während der „Joghurt-Revolution“, und des gesamten Prozesses der „Antibürokratischen Revolution“. Ähnliche Meetings werden in der Türkei (und anderswo) abgehalten.

Bei der Zugehörigkeit zum Volk handelt sich um eine Zuschreibung, für die nichts getan werden muss, auch wenn das nicht heißt, dass nichts dafür getan werden kann. Martyrium, Kampf, Sterben, Gedenken des Martyriums, Gedenken des Kampfes, Gedenken des Sterbens, zu Meetings und Inthronisierungen zu kommen: das alles kann getan werden, zum Beispiel. Wo sich Volkszugehörigkeit in unpolitischer (eigentlich anti-politischer) Weise auf Zuschreibung stützt, gibt es automatisch auch Abschreibung. So wie der eine dem Volk zugeschrieben wird, wird der andere als Volksangehöriger abgeschrieben. Das Gegenteil davon ist eine politische Gemeinschaft, die nicht auf Homogenität basiert, sondern auf Pluralismus und handeln. Aber auch einer wie RTE muss ständig handeln, wenn auch aus einer Getriebenheit, die von ständiger Spannung und wachsender Polarisierung gekennzeichnet ist. Betrachtet man also nicht nur einzelne Veranstaltungen, sondern den Prozess, so könnte man über die Frage der „Inthronisierung“ schlussfolgern, dass es freilich keine endgültige Inthronisierung gegeben hat, zumindest nicht vor dem Moment, zu dem sich ein Herrscher allumfassende Machtbefugnisse verfassungsmäßig hat zusichern lassen. Heute besteigen, abgesehen von den noch bestehenden Feudalsystemen, keine Alleinherrscher einen Thron, um in einem zentralen Akt inthronisiert zu werden. In einem „plebiszitären Cäsarismus“ findet die Inthronisierung im Verlauf des Prozesses immer wieder statt und muss auch als solche ständig neu inszeniert werden, was mir auf die Türkei im Moment zuzutreffen scheint.
Aber ich denke nicht nur so vor mich hin: ich sitze auch im Bus, bin eingepfercht und ausgeliefert. In einem Reisebus ist man schon deshalb eingepfercht und ausgeliefert, weil neben einem, hinter einem, vor einem Leute sitzen, die man sich nur bedingt aussuchen kann. Besonders als Alleinstehender. Vor mir sitzen meine Freunde A. und M. aus Sarajevo. Hinter mir sitzt ein viel telefonierender Abiturient aus Deutschland, den ich zuerst für einen alleinreisenden asiatischen Touristen halte, bis er beginnt zu telefonieren. Racial Profiling. Ich lebe in einer und mehreren rassistisch strukturierten Gesellschaften, und so bin ich gewissermaßen selbst „Rassist“. Ich versuche zwar, achtsam zu sein, keine rassistischen Denkmuster zu reproduzieren, Leute nicht vorschnell zuzuordnen und zu beurteilen. Trotzdem tue ich das, egal wie reflektiert ich zu sein versuche, und ich finde auch nicht, dass das Problem damit gelöst ist, indem sich Leute als „Antirassisten“ bezeichnen und implizit den Rassismus auf Rassisten verlagern. Dazu wären freilich noch ein paar Ausführungen mehr zu verlieren.
Im Bus sitzen außer A., M., mir, dem deutschen Abiturienten und vielen bosnischen Reisenden außerdem britische, spanische, polnische, vornehmlich jugendliche Touristen (Untergruppe: Backpacker; wieder ordne ich zu und ein). Der Abiturient hinter mir spricht immer wieder übers Telefon auf Deutsch, und ich denke mir: wie merkwürdig und ungewohnt es ist, Deutsch zu hören. Erst in dem Moment fällt mir wieder auf, wie selten ich die deutsche Sprache in den vergangenen zwei Jahren höre. Auf Vis werde ich permanent von Deutsch, Bosnisch/Kroatisch/Serbisch und Englisch umgeben sein, und oft das Gefühl haben, dass keine der Sprachen richtig funktioniert. Ich werde mir einen hauptsächlich sprachfreien Aufenthalt wünschen. Auf eine fast „voyeuristische“ Art finde ich es vorerst interessant, den ernsten und gleichzeitig irgendwie unschuldigen Themen des jungen Sprechers, und seines für mich stummen Gesprächspartners, zuzuhören. Der Junge sitzt seit Sarajevo im Bus, wo er Freunde mit den bosnischen Namen Anel und Haris getroffen hat. Er erwähnt sie häufiger gegenüber seinem Gesprächspartner, der wiederholt anruft (oder angerufen wird), und sich einige Stunden später mit dem jungen Sprecher an der Küste treffen wird. Ich versuche, herauszuhören, woher aus Deutschland der Abiturient kommt. Auf jeden Fall aus Süddeutschland: „des passt schon“. Ich tippe auf Münchner Straße. Die Vokale werden großzügig und vollständig ausgesprochen, die Sprache klingt, für meine Ohren immerhin, lebendiger als das sterile, skalpellierende Hochsprech des Nordens. Die bajuwarische, möglicherweise schwäbische Verwurzelung und Rundung der Sprache ist erkennbar, wenn auch rudimentär und urban verhochdeutscht. Der Sprecher benutzt ausgiebig Ausdrücke der Milieusprache, des Soziolekts, der Jugendsprache. Er wiederholt immer wieder, wie wichtig es jetzt sei, zu chillen. Ich denke mir, das Wort chillen könnte ich eigentlich auch öfter gebrauchen, und dass ich auf jeden Fall selbst stärker chillen sollte. Die Vokabel „chillen“ kam in meiner Abizeit gerade erst auf, um alsbald inflationär gebraucht und zu einem festen Bestandteil der Alltagssprache zu werden. Ich erinnere mich daran, dass wir uns früher oft „locker gemacht“ und „keinen Stress!“ gefordert haben. Der Junge hat eine sympathische Art zu sprechen, der man gerne zuhört. Aus irgendeinem Grund scheint es bei einem längeren Telefonat Klärungsbedarf zu geben, was eigentlich unter chillen zu verstehen sei. Er präzisiert: „Na du weißt schon, halt vollkommen behindert zu sein.“ Ich finde das weniger sympathisch, und versuche mir trotzdem vorzustellen, in welchen Situationen die Gesprächspartner und ihre Peers „vollkommen behindert“ sind. Philipp und ich werden uns auf Vis zu ständigen Repliken von Jugendsprache und Soziolekten hinreißen lassen, was von An. und D. noch, etwas humorlos zwar, als klassistische Witze verurteilt werden wird.
Wir erreichen Makarska – oder besser: wir rasen mit einem Affenzahn nach Makarska hinein. Je enger die Straßen und Gassen werden, desto mehr scheint der Busfahrer auf das Gaspedal zu treten, um endlich den Busbahnhof zu erreichen. Der Junge steigt aus, es ist 2:40 Uhr. Er hat extrem Hunger und muss jetzt erst mal was essen, vielleicht gehen sie dann auch noch irgendwo hin, aber das wissen sie noch nicht genau. Abiturienten steht die Welt offen, oder zumindest wird ihnen das suggeriert.
Die Zeit um das Abitur, die Zeit nach dem Abitur. Die Zeit um das Abitur, die Zeit nach dem Abitur ist eine besondere Zeit, die bei mir schon zwei Jahre vor dem Abitur anfing, und gewissermaßen auch erst zwei Jahre danach wieder endete. Ich hatte einen Führerschein, ich war achtzehn, neunzehn und zwanzig, ich unterschrieb meine zahlreichen Entschuldigungen wegen Abwesenheit in der Oberstufe selbst. Ein erstes Gefühl von Freiheit und Selbstbestimmung, auch wenn der Zweier-Golf auf die Mutter gemeldet war, ich keine Miete zahlen musste, der volle Ernst des Lebens noch nicht wirklich angefangen hatte. Erwachsensein in der Spiel-und-Spaß-Version. Anstalt, Veranstaltung, Befreiung: ich befreite mich vom Cis-männlichen Sportunterricht. In den vier Semestern der Kollegstufe besuchte ich vier Male den Sportunterricht. Zum Theorietest – ausreichend für einen Punkt im Zeugnis.
Zwischendurch halte ich ein Buch unter die Leselampe: „Žena bez koje se može“, die Übersetzung Rabih Alameddine’s An Unnecessary Woman. Ich bin am Abend des 27. Juli in Sarajevo auf dem Literaturfestival Bookstan mehr oder weniger zufällig in eine moderierte Präsentation Rabih Alameddines geraten. Ich kannte den Autor vorher nicht, und er war mir auch während seiner Präsentation nicht hundertprozentig sympathisch, auch wenn ich mich in seinen Äußerungen oft wiedererkannte. Mein freundliches Fremdeln mit dem Autor lag wahrscheinlich daran, dass ich die Gründe seiner immer wieder vortretenden Ressentiments zwar oft verstehen konnte, die Art offener Zurschaustellung von Ressentiment jedoch einen unangenehmen, vulgären Beigeschmack hinterließ. Vielleicht eine gewollte, und damit gelungene Provokation, vielleicht auch einfach biographisch begründet, und wahrscheinlich beides. Der Autor ist schwul, und darüber hinaus durch seine Raumbeziehungen womöglich eine Überzeichnung dessen, was Lila Abu-Lughod als Halfie bezeichnen würde. Halfie ist ein Begriff, den wir an der Graduiertenschule im Rahmen des Theorien und Methoden-Seminars diskutierten, und dem ich wegen seines immanenten Essenzialismus unschlüssig bis ablehnend gegenüber stand, obwohl er mich immer noch beschäftigt. Halfieness als Erfahrung ist nämlich auch von mir selbst nicht ganz von der Hand zu weisen. Halfie zu sein beschreibt, grob gesagt, jeweils unvollständige Fremdheits- und Zugehörigkeitserfahrungen zu machen, wobei Lila Abu-Lughod in ihrem Text Writing Against Culture nicht vordergründig auf das Unbehagen in Geschlechterrollen einer Cis-normierten Gesellschaftsordnung eingeht, und auch das Dazwischen der Liminalität nicht ganz fasst. Ohne den Begriff Halfie zu verwenden, und ohne dass ich weiß, wie er diesem Begriff gegenübersteht, drückt sich Rabih Alameddine in Koolaids so aus:
In America, I fit, but I do not belong. In Lebanon, I belong, but I do not fit.
Unter MigrantInnen, die selbst unvollständige Fremdheits- und Zugehörigkeits-erfahrungen gemacht haben, ist das ein relativ oft so-oder-so formulierter Allgemeinplatz. Dahingestellt, ob ich meine eigenen, längeren Aufenthalte in Bosnien (und womöglich in der Türkei) als Migrationserfahrung bezeichnen kann: das kann ich gut nachvollziehen. Hauptsächlich motiviert durch eine Antwort, die Alameddine einer Sarajevoer Künstlerin auf ihr lang ausformuliertes, halb fragendes, halb feststellendes Statement gegeben hat, habe ich mir letzten Endes zwei seiner Bücher gekauft: Kool Aids (Koolaids. The Art of War) und das besagte Žena bez koje se može (An Unnecessary Woman). Die Musikerin aus Sarajevo stellte, von ihrer eigenen Erfahrung ausgehend, bald fragend, bald fordernd in den Raum, dass „man“ Kunst und Künstler schlechtenfalls nicht kritisieren, sondern bestenfalls zu verstehen versuchen solle. Worauf Rabih Alameddine entgegnete (ich zitiere nach bestem Gewissen hoffentlich möglichst wörtlich):
I don’t believe in art. There is no art. We talk about art, when we don’t have an idea what we are talking about.
Ich weiß nicht mehr, ob das Konzept Camp vorher oder danach angesprochen wurde, aber jedenfalls ist es kein Zufall, wenn Susan Sontag in Sarajevo bemüht wird, nach der immerhin der Theaterplatz in Sarajevo benannt ist. Zweitens trifft Camp die Performanz von Alameddine. Camp – die Karikierung einer Karikatur, die Überzeichnung eines Klischees, eine gehörige Portion Unverschämtheit und Deplaziertheit, die Nähe zum Kitsch, zu Homosexualität – das alles trifft auch auf Rabih Alameddine zu. Gefühlt jeder Satz beinhaltete das Wort fuck. Wann immer er eine Dialogsituation aus seinen oft ressentimentschwangeren Erfahrungen zwischen San Francisco und Beirut präsentierte, wurde fuck verwendet.
Meistens handelte es sich um Dialoge zwischen lebenserfahreneren Libanesen auf der einen Seite und infantilen, naiven Amerikanern oder Franzosen auf der anderen. Die Libanesen sind mit allen Wassern des überstandenen Krieges gewaschen, sie werden erwachsen kolportiert. Die Amerikaner und Franzosen werden in stark negativen Klischees gezeichnet, ihre Einwände mit fuck-versehenen Antworten ruhig gestellt. Wie passend! In Sarajevo ist das eine bekannte Schablone: Leute aus dem Westen werden oft in Bausch und Bogen als naiv wahrgenommen; wer den Krieg nicht erlebt hat — den Krieg — kann ja schließlich gar nicht mitreden. Ähnlich die Diaspora, die djeca gastarbejtera (die Gastarbeiterkinder).
Diese provokanten Rollenüberzeichnungen rückten Alameddines Auftritt teilweise in die Nähe des schwer erträglichen. Teils lag Fremdscham in der Luft, teils machte mich dies aber auch neugierig. Wenn ich mich nicht getäuscht habe, war auch das Auditorium verhaltener, als es der Anblick des prall gefüllten Raumes hätten vermuten lassen. Parisienne L. und Parisien M., meine neben mir sitzenden Freunde aus Frankreich, klatschen noch wesentlich seltener als ich. Die meisten der lobenden Redebeiträge kamen von der rechts von mir sitzenden Gruppe von Kolleginnen und Kollegen des Autors: eine Filmemacherin aus Sarajevo, eine ägyptisch-amerikanische Feministin, ein amerikanisch-bosnischer Schriftsteller.
Ich war jedenfalls beruhigt, dass die Organisatoren des Literaturfestivals Bookstan mit dem fürchterlichen Untertitel East meets West keine einfachen, apolitischen Gestalten eingeladen haben, die bekannt für einwandfreie Ästhetik, politische Glattheit, gar religiöses Geschwurbel sind. Als ich zuerst vom Literaturfestival Bookstan gehört habe und flüchtig sah, dass das Motto wieder irgendwas mit Ost und West zu tun hatte — zumal mit der Türkei als Schwerpunktland — war ich auf eine der üblichen, kitschigen Klischeeproduktionen bosnisch-türkischer „Geschwisterschaft“ eingestellt.
Und so lese ich also auf der Busfahrt von Sarajevo nach Split Žena bez koje se može, die Geschichte einer Übersetzerin von Übersetzungen, die ihre nie von irgendwem gelesenen Übersetzungen für die Schublade übersetzt. Bevor ich das Buch wieder in den Rucksack packe, falte ich ein Eselsohr bei folgendem Zitat:
Seljaštvo, kad god želi prebjeći iz seljaštva, već stoljećima, u svim državama, uvijek prebjegne u uniformu.
Wann immer das Bäuerische dem Bäuerischen entfliehen will, dann flieht es bereits seit Jahrhunderten und in allen Staaten immer (gekleidet) in Uniform.
(Žena bez koje se može, p. 76)

In Split fasse ich den eingebildeten Gedanken, die Kausalität des geschichtlichen Verlaufs radikal aufzugeben.
Wir befinden uns nicht nur in Kroatien, sondern in Jugoslawien. Split ist eine jugoslawische Stadt, in der ein albanischer Burekladenbesitzer aus Makedonien kein Ausländer ist, sondern ein jugoslawischer Staatsbürger. Er hat dort genau soviel zu suchen wie die sezessionistische Waschmaschinenherstellerin aus Slowenien, wie die exportierten Arbeitslosen aus Bosnien, wie der großserbisch gesinnte Fabrikarbeiter aus der Šumadija, und so fort. Der albanische Burekladenbesitzer hat auch nicht in der Zwischenzeit die kroatische Staatsbürgerschaft angenommen, denn Kroatien gibt es nur als Föderative Sozialistische Republik, die keine eigenen Pässe ausstellt. Pässe sind föderative, staatliche — jugoslawische — Angelegenheit.
Auf der Insel Vis präzisiere ich den Gedanken. Immerhin gibt es auf Vis jugosphärische Eurokrem ( = Jugo-Nutella), es gibt dort Burek und Pita, es gibt dort Ajvar (wenn auch nicht Баш Ајвар aus Gevgelija, was sich durch die Insellage entschuldigen lässt), die Autokennzeichen sagen Zagreb, Karlovac, Belgrad, Novi Sad, Bosnien, Ljubljana, Kranj, Novo Mesto, München, Frankfurt, Hochsauerlandkreis, Warschau, Prag, Bologna, Padova und Brexit. Halt, Moment: das beschert meinem Gedanken ein abruptes Ende, da Vis zu jugoslawischen Zeiten eine für Ausländer geschlossene Insel war. Außerdem fiel mir schon bei der Einfahrt nach Vis das Ur-Ekel auf, von dem ich mich während des Urlaubs eigentlich habe verabschieden wollen: Nationalismus. Hier kleidet sich der Nationalismus natürlich in kroatische Gestalt, in Form einer Aufschrift zum Willkommensgruß und Gedenken an den Krieg, gleich bei der Einfahrt in den Hafen.
Trotzdem gelingt es mir, auf Vis abzutauchen, und zwar wortwörtlich. Ich entdecke eine andere Welt, mache einen Tauchkurs. Tauchen — das hielt ich immer für ein sehr elitäres Hobby, das mir nicht in den Sinn gekommen wäre, oder eben für eine Sache der Meeresbiologen und Sondereinsatzkommandos. Doch jetzt bin ich ganz fasziniert: ich sinke in fast 20 Metern Tiefe stehend auf den sandigen Meeresgrund, neben mir wächst eine riesige Muschel, ich sehe eine sogenannte Gorgonie.
Der Urlaub ist alsbald wieder vorbei. Wir nehmen die Fähre nach Split, wir verlassen die maritime Jadrolinija, wir verabschieden uns von meiner Schwester und von meinem kleinen Neffen. Der kontinentale Centrotrans-Bus, der Greyhound der Jugosphäre, nimmt uns auf. Die Neretva verweist uns über ihr Delta zunächst in die karstige Herzegowina. In Čapljina stehen die letzten großen Palmen. Dort wirft der Centrotrans unbarmherzig einen Rucksacktouristen heraus, der wohl geglaubt hat, er könne ohne Geld und ohne Fahrkarte reisen; er stößt nicht auf Mitleid. Anschließend schleppt uns der Centrotrans über den nächtlichen Ivan in die dichte Grünheit Bosniens, wo es auch keine Zikaden mehr gibt.
Ich reise mit dem gutsten Berliner P., seiner Tochter Berlinerin L., sowie mit Sarajka A. und Sarajlija M. Sarajka A. kündigt der kleinen Berlinerin L. an, sie werde jetzt das schönste Land der Welt kennenlernen. Wir Großen wissen: Sarajka A. hat ja irgendwie Recht. Recht, aber. Tagsdrauf, auf dem Vilsonovo Šetalište — auf „Wilsons Spazierstraße“, wo gedämpfte Maiskolben und frittierte Kartoffelspiralen angeboten werden — kann uns kein Spielplatz, kein Tito-Café, kein Miljacka-Rinnsal mehr trösten: das kristallerne Meer ist in Dalmatien geblieben.

Kommentar verfassen