[Tropik] Das binär gebürstete Hin- und Her des Neo-Re: unser Interregnum, Herrschaften wie Jair Bolsonaro, das sich-Bewegen von Bewegungen.

Unser anhaltender, mit tweetendem Tempo um sich greifender Zwischenzustand ist wohl mit Antonio Gramscis Interregnum reichlich treffend erfasst, den ich hier als Alternative für den Begriff der Metamorphose diskutieren will. Die Erfassung dieses Interregnums – und ihm so überhaupt beikommen zu können – erscheint mir dringender denn je. Auf die Gefahr hin, zu wiederholen, was ich bereits in anderen Beiträgen häufiger geschrieben habe, will ich versuchen, dieses Interregnum und sein Funktionieren zu erfassen, um Ansätze sichtbar zu machen, wie der zerstörerischen Logik eines seiner Phänomene Einhalt geboten werden könnte, das ich hier Neo-Re nennen werde. Motiviert dazu hat mich ein Artikel von Boris Herrmann aus der Süddeutschen Zeitung vom 19. Oktober unter dem vielleicht erst einmal plakativ daher kommenden Titel „Wir stehen am Anfang der Barbarei“.

Ein Blick nach Brasilien

Dieser Titel ist ein Zitat des brasilianischen Künstlers Wagner Schwartz, der inzwischen ins Exil gehen musste, weil ihm in Brasilien die Ermordung droht. Wer sich ein bisschen mit der brasilianischen Militärdiktatur befasst hat und denkt, das alles erinnere an jene Zeit, als Künstler des Tropicalismo wie Gilberto Gil, Chico Buarque und Caetano Veloso (u.v.a.) ins Exil gehen mussten – wird bei der Lektüre wahrscheinlich bald befürchten müssen, dass das aufziehende Unheil unter dem Namen Jair Bolsonaro sehr viel verheerender ausfallen könnte. Man sollte sich diesen Namen also wahrscheinlich einprägen. Parallelen sind allerdings durchaus vorhanden, etwa hinsichtlich der Freiheit des Kulturbetriebs. Der Artikel beginnt bezeichnenderweise mit einer Beschreibung der Verwahrlosung der Reste des abgebrannten Nationalmuseums in Rio de Janeiro, über dessen Bedeutung für eine breite Öffentlichkeit ich mir ehrlich gesagt nicht ganz im Klaren war:

Das Nationalmuseum gehörte in besseren Zeiten zu den wenigen demokratischen Orten von Rio. Es war ein begehbares Schulbuch. Hier erfuhren Kinder aller Schichten, arm und reich, schwarz, weiß und indigen, wie vielfältig die brasilianische Kultur ist, wie alt die Neue Welt, wie einzigartig die Natur. Der Rechtsextremist Bolsonaro steht für die Negierung all dessen: für die Vorherrschaft des weißen Mannes, für Ausgrenzung und Rassismus, für die Verherrlichung der Diktatur, für die wirtschaftliche Ausbeutung des größten Regenwaldes der Erde. Von einem Politiker, der ankündigt, unter seiner Regierung werde „kein Zentimeter“ für die Nachfahren der Ureinwohner übrig bleiben, braucht man wohl nicht erwarten, dass er bedauert, wenn in Rio unter anderem das größte Dokumentationszentrum indigener Sprachen in Flammen aufgeht. (Zum Artikel)

Ich war leider noch nie in den südlichen Bundesstaaten Brasiliens, und so auch nicht im Nationalmuseum von Rio. Ich würde mich als nicht sehr guten Kenner Brasiliens bezeichnen – eines Landes, das ich nur von einer sechswöchigen Reise durch den Nordosten und Amazonien sowie meinen quasi-familiären Beziehungen dorthin kenne. Es geht mir hier aber gar nicht „nur“ um Brasilien, sondern, wie gesagt, um das Interregnum, als welches man unsere Zeit auch (zwar ungenau) bezeichnen könnte: Im Neo-Re-Phänomen Bolsonaro, im Verbund mit der grassierenden evangelikalen Bewegung als trotzig aufbäumendes Glaubenssystem, lässt sich eines von zahlreichen Symptomen unseres Interregnums oder, in Ulrich Becks Worten, der Metamorphose erkennen. Die binär hin- und herrennende Dynamik, die gerade dabei ist, in Brasilien von einer Machtdynamik zur Herrschaftsform zu verklumpen, ist Teil einer globalen Bewegung – die also potentiell auf alle Gesellschaften in ihrem je eigenem Gewand daher kommt. Deswegen werde ich mich im Folgenden auf unterschiedliche Beispiele beziehen, die sich jedoch strukturell alle ähneln. Sie alle sind Neo-Re.

Was heißt „Neo-Re“?

Doch was heißt Neo-Re? Den Begriff Neo-Re gibt es (meines Wissens) nicht, obwohl er zugegebenermaßen wenig originell ist. Ich halte ihn aber vorerst für passend, und sehe ihn einerseits als Erweiterung von Zygmunt Baumans treffender Beschreibung der „Re-Bewegungen“ (vgl. Reislamisierung etc.). Baumans Re- ist keineswegs als platte „Rückkehr der Geschichte“ zu deuten, und verdiente eigentlich eine gesonderte Darstellung und Würdigung, wofür ich an dieser Stelle aber keine Zeit habe. Das Präfix Re- zeigt an, dass im Neo-Re regelhaft Gebrauch von „alten“ Themen gemacht wird (z.B. Make America great again; die Verherrlichung der osmanischen Größe durch das AKP-Regime; der Geschichtsrevisionismus übergriffiger Regime wie des Putinismus, Orbáns, etc.). Das vorangestellte Neo- des Neo-Re macht deutlich, dass es sich beim Neo-Re um etwas dennoch genuin Neues handelt, das seinen Anfang zwar bereits in der europäischen Industriemoderne und der ihr inhärenten Produktion von Risiken (vgl. Becks Risikogesellschaft) genommen hat. An Fahrt aufgenommen hat Neo-Re jedoch erst mit der unglaublichen Geschwindigkeit und schieren Massenhaftigkeit von Textproduktion der Digitalen Revolution, die Ulrich Beck als einen Aspekt der Metamorphose der Welt begreift. Die vox populi des Neo-Re ist vielleicht nicht unbedingt eine andere als die der vorangegangen populistischen Bewegungen, dabei aber von nie dagewesener Voluminosität. Doch worin genau bestehen die Ähnlichkeiten und Unterschiede der alten und neuen vox populi?

Das „Re“ des Neo-Re

Von der vox populi spricht der serbische politische Anthropologe und Schriftsteller Ivan Čolović immer wieder, wenn er das sich-Ereignen des Volkes (događanje naroda) im Serbien der 1980er Jahre beschreibt, da sich die Gesellschaft am Abgrund des horror vacui glaubte, und sich in plebiszitärem Cäsarismus zur Rettung den „Re-Alpha“ Slobodan Milošević inthronisierte („Re-Alpha“, da zwischen den mittleren 1980er und während der 1990er Jahren vom noch genauer zu beschreibenden Neo- noch keine Rede sein kann). Zu diesen Bewegungen bestehen große Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen, und zwar ganz besonders in der Struktur des tropischen Hin- und Hers. Auch heute ist noch die Rede von Meetings, wenn sich das Volk zu Massen rottet um sich an vereinenden Symbolen wie der nationalen Flagge zu berauschen, wie das Jahr 2015 in der Türkei hindurch, da ich mich zu Feldstudien in Istanbul aufhielt.

meeting

Auch beim serbischen događanje naroda waren Massenmedien außerordentlich zentral und mobiliserend, und seit jeher hat Propaganda die zentrale Rolle bei der Thronbesteigung und Festsetzung der stets männlichen politischen Cäsaren gespielt. Ein weiteres Kennzeichen sind die Vergangenheitsbezüge des Neo-Re, die auch in den Re-Bewegungen vor der Digitalen Revolution typisch waren. Es soll dabei nicht verwirren, dass gerade die Re-Bezüge des Neo-Re oft mit Neo- attribuiert werden, wie etwa beim Neo-Osmanismus, der durch seine Grenzüberschreitungen einen nahezu prototypischen Vertreter des Neo-Re bildet. Die Neo-Nazi-Bewegung wird von außen als Neo-Bewegung bezeichnet, ist aber keine Neo-Re-Bewegung, da von ihr bereits zu einer Zeit die Rede war, als noch über alte Medien und relativ kompakt innerhalb nationaler Grenzen diskursiv hin- und hergerrannt wurde. Allerdings ist es völlig berechtigt, dass von Neo-Nazis die Rede ist, und nicht von Re-Nazis oder Nazis, da der Bezugsrahmen dieser Bewegungen durchaus Unterschiede zu den „echten“ Nazis aufweist (zum Beispiel im Klamottenkult, in der Musik, etc.). Insofern als auch alte Bewegungen mit Rückwärtsbezügen immer etwas Neues darstellen, könnte man auch sie als Neo-Re-Bewegungen bezeichnen. Allerdings wird im Folgenden noch darzustellen sein, warum es eine wesentliche Schwelle zwischen alten und neuen Bewegungen gibt.

Grundsätzlich stimmen alte und neue „neo-rechte“ Bewegungen darin überein, dass sie auf einen mythischen Text angewiesen sind, der von streng binären Tropen strukturiert wird, die auf letztendlichen, verbindlichen Sicherheiten fußen. So paradox es sich zuerst auch anhören mag, sind Neo-Re-Bewegungen, genau wie ihre vorrevolutionären Vorgängerinnen, auf Unsicherheit und Bedrohungen, ob real oder eingebildet, angewiesen. Den Bedrohungen und Unsicherheiten halten diese Bewegungen totale Sicherheiten entgegen, und diese totalen Sicherheiten finden sie nur in der Vergangenheit und im autoritativen und nicht in Frage zu stellenden Logos des Glaubenssystems. Deshalb argumentieren Neo-Re-Bewegungen immer geschichtlich und religiös. Durch Anciennität wollen sie sich legitimieren und postulieren ihre „Eigentlichkeit“, wie Holm Sundhaussen es am Beispiel des Kosovo-Mythos des serbischen und montenegrinischen Nationalismus formuliert hat. Liegen keine Bedrohungen vor, werden sie hergestellt. Das Neo-Re des Neo-Osmanismus zum Beispiel ist durch seine Verdichtung religiöser und geschichtlicher Tropen dringend auf das Thema Islamophobie angewiesen. Dieses ist durch die Vertreibungen europäischer Muslime (Muhacir) sowohl historisch vorliegend und verwendbar, als auch in der zeitgenössischen, rassistischen Gewalt gegen Muslime in Europa und Nordamerika (im tropischen Westen des Narrativs) aufgreifbar und aktualisierbar. Es wird immer wieder textuell reproduziert, indem etwa kaum eine Rede des türkischen Neo-Re-Alphas Erdoğan über Europa ohne das Wort Islamofobi auskommt.

Den religiösen Tropen des mythischen Hin- und Herrennens des Diskurses soll weiter unten in diesem Text noch ganz besondere Aufmerksamkeit zukommen. Meiner Meinung nach wurde und wird nämlich nicht ausreichend verstanden, dass es ab einer bestimmten Schwelle überhaupt nicht mehr möglich ist, dem Hin- und Her des Neo-Re anders Einhalt zu gebieten als durch (dann bereits nicht mehr durchsetzbare) Sprachverbote, oder darauf zu warten, dass das Glaubenssystem des Neo-Re zusammenbricht und seine Proponenten vor aller Öffentlichkeit entblößt dastehen, was in aller Regel mit brachialer Gewalt einhergeht. Auch hinsichtlich der Sakralisierung ihrer Diskurse ist zu befürchten, dass sich Neo-Re-Bewegungen und ihre Vorgängerinnen gleichen. Andererseits stellt es keine Zwangsläufigkeit dar, dass das Glaubenssystem alsbald zusammenbricht, wie die Zähigkeit bestimmter Narrative, wenn auch in fortgeschriebener Gestalt, zeigen. Ein Beispiel für den Zusammenbruch bildet der Nazismus, der als krassestes mir bekanntes Beispiel einer populistischen Vorgängerbewegung des Neo-Re angesehen werden kann. Weitere Beispiele für nicht zusammengebrochene, wenn auch relativ „erfolglose“ Bewegungen, deren Narrative sich zu historisch-religiösen Mythen verdichten und sich zäh zu halten scheinen, sind der Kosovo-Mythos in Serbien oder die offizielle Ideologie der Islamischen Republik Iran.

Man kann freilich nicht in die Zukunft sehen. Man kann noch keine erfahrungsbasierten Analogieschlüsse ziehen, wie sich die Effekte der Digitalen Revolution auswirken werden. Zudem schreitet die Digitale Revolution in rasantem Tempo mit immer neuen Erfindungen voran. Es ist nicht auszuschließen, dass die stattfindenden Veränderungen so tiefgreifend sind, dass es zu einer „Zeitenwende“ kommt, die nicht nur die Narrative des tropischen Hin- und Hers umschreibt, sondern ihre struktuerierenden Prinzipien, die Tropen und Gewissheiten, hinwegfegt.

Das „Neo“ des Neo-Re

Nach dieser Betrachtung einiger der feststellbaren Parallelen zwischen den Neo-Re-Bewegungen und ihrer populistischen Vorgängerinnen, will ich hier auf das Neo des Neo-Re eingehen, also das Neue und Unterschiedliche. Die Unterschiede bestehen in erster Linie im wie des Sprechens der vox populi und ihrer Alphas, die heute nicht mehr auf UKW-Wellen, Telefonleitungen, Fernsehbildschirme und Zeitungspapier eingegrenzt ist, sondern digital kommuniziert, teilt, liked, kommentiert, betrachtet, erschrickt, staunt oder schreit. Es besteht kein eindeutiges Datum, mit dem die Digitale Revolution eingesetzt hat. Sie nimmt jedoch ihren Ausgang in den globalen Zentren des technologischen Fortschritts in Nordamerika, um sehr schnell zu einem globalen Kind zu werden. Es wird angenommen, dass sie die Grenze des „Davor und fortan“ ungefähr um das Jahr 2002 überschritten hat, da die Hälfte der menschlich produzierten Informationen der Welt in digitaler Form verfügbar gemacht wurde.

Die vormalige Dominanz des Journalismus, der in Zeitungswesen, Rundfunk und Fernsehen, bei öffentlicher Berichterstattung, Meinungsbildung und in seiner politischen Kontrollfunktion eine „vierte Gewalt“ in pluralistischen Systemen bildete, hat das weitgehende Monopol verloren, Informationen massenhaft zu verbreiten.[21] Es ändere sich etwas, so Beckedahl und Lüke, wenn beispielsweise die 56 Sekunden währende Videoaufnahme, die einen Fünfjährigen mit einem Dreijährigen unter dem Titel Charlie bit my finger (Charlie hat mich in den Finger gebissen) zeigt, auf YouTube annähernd 400 Millionen Mal betrachtet werde oder wenn das, „was in irgendeiner Kneipe passiert und besprochen wird“, per Livestream vom Mobiltelefon aus beliebig viele andere Menschen weltweit erreichen könne. (Quelle: Wikipedia)

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Quelle: Wikipedia (English)

Prägend für das Neo-Re sind die Neuen Medien, deren Auswirkung auf die sich täglich fortschreitende „Metamorphose der Welt“ (Ulrich Beck) für jeden Menschen der Erde – mit der sehr seltenen Ausnahme derjenigen Menschen, die sich der Digitalen Revolution durch Isolation noch irgendwie entziehen können – tagein tagaus spürbar, aber schwer begreifbar sind. Das Beispiel eines Youtube-Videos, das 400 Millionen Menschen erreicht, zeigt die nie da gewesene Macht: nie zuvor konnte in einer solchen Geschwindigkeit „Inter-Esse„, ein „Zwischen-den-Menschen“, erzeugt werden. Nur zum Vergleich:

Die christliche Bibel ist das meistgedruckte, am häufigsten übersetzte und am weitesten verbreitete Buch der Welt. Allein 2014 wurden weltweit fast 34 Millionen vollständige Bibeln verbreitet. (Quelle: Wikipedia)

Dem Beispiel der Bibel muss nicht hinzugefügt werden, dass auch sie in alter Gestalt, als gedrucktes Buch, und in neuer Form, als Online-Bibel, existiert. Jeder Lebensbereich wird nicht nur tiefgreifend, sondern derart rasant verändert, dass für Einhalten, Reflexion und die Entwicklung von Begriffen für das, was geschieht, keine Zeit bleibt. Man googelt sich heute schnell das ansprechendste Rezept für die zuzubereitende Apfeltorte, anstatt in den handschriftich gesammelten und ausgetauschten Rezepten des persönlichen Rezeptbuches nachzuschauen. Man ist sich nicht permanent darüber bewusst, dass man mit jedem Konsum von Information gleichzeitig auch Information produziert, auch wenn man nicht bei Facebook teilt oder Twitter tweeted. Derweil hat Facebook unsere Vorstellung von Freundschaft signifikant beeinflusst. Man redet vielleicht noch von Medienkonsumentinnen, obwohl man eigentlich von Prosumentinnen reden sollte, da sich das Wesen der Medien – der Neuen Medien – gewandelt hat. Begriffe haben sich seit jeher geändert, wie Lucien Febvre’s berühmtes Beispiel frontière (Grenze) im Französischen, früher allerdings wesentlich langsamer.

Das Tempo, in dem sich in unserer revolutionären Zeit Begriffe eigentlich ändern müssten, scheint zu bewirken, dass sich Signifikant und Signifikat abhanden kommen. So ist fälschlicherweise nach wie vor die Rede von Nationalismus, wenn im Verlauf einer Neo-Re-Bewegung nationale Flaggen geschwungen werden, die jedoch die Dimension des Nationalen transzendieren. Dies ist bei der bosniakisch-türkischen Figuration (meinem Dissertationsthema) oft der Fall, wie etwa bei einer jährlichen Massenveranstaltung in der bosnischen Stadt Zenica, da den mit Bussen aus dem ganzen Land (sowie aus der Türkei) angereisten, zehntausend Kindern von türkischen Kulturdiplomaten zum „Feiertag der Nationalen Souveränität und des Kindes“ symbolisch die Reife der Souveränität verliehen wird. Wie über die Neuen Medien, nämlich dem Online Social Network (OSN) Youtube, in ganzer, mehr als zweistündiger Länge zu betrachten, teil-, like- und kommentierbar ist, werden auf dieser Veranstaltung zwar „alte“ nationale Flaggen, wie die türkische, und relativ neu erfundene, pseudo-nationale Flaggen, wie die bosnisch-herzegowinische, in einem rot-weiß-blau-gelben Flaggenmeer geschwungen; die Flaggen künden jedoch vom Ende der alten nationalen Organisationskonzepte – und zwar seines zentralsten Organisationsprinzips der nationalen Souveränität, das mit dem Merkmal der territorialen Begrenzung verbunden ist, die auf dieser Veranstaltung und in ihrem Nachleben und Fortwirken über die OSN entgrenzt wird.

Ich verwende in diesem Sinne den Begriff des Neo-Re im interpretativen Teil meiner Dissertation, um das Phänomen des Erdoğan-Kults und das diskursive Hin- und Her des Neo-Osmanismus zu beschreiben, in welchem historisch-religiös verbrämte und verdichtete Tropen bestimmend sind: die Muhacir-Ensar-Binarität von Geholfenen und Helfern; die Rede von älteren und kleineren Geschwistern; das Antreten historischen Erbes; verlorene, wieder bereiste und „in Besitz genommene“ (sahip çıkmak) Böden von Vorvätern (atalarımızın toprakları) oder Vorfahren (ecdat). Dazu hoffentlich bald mehr. In den folgenden Abschnitten setze ich auseinander, warum das genauere Verstehen des sich-Bewegens von Bewegungen dringend nötig ist,warum es für Sozialwissenschaftlerinnen sogar als zwingende Priorität gesehen werden sollte, und welche Rückschlüsse uns vergangene „Zwischenzustände“ für die Frage nach der Rolle von Glaubenssystemen bieten können. Hierfür verwende ich den Begriff des Interregnums und die Feststellung, dass es in Zwischenzuständen zu Krisen und erratischen Neuzusammensetzungen des Glaubenssystems kommt, wie es Antonio Gramsci formuliert hat. Im Anschluss will ich meine zentralen Annahmen zum Hin- und Herrennen der Tropen des Glaubenssystems formulieren, um am Ende zu vorübergehenden Schlussfolgerungen zu gelangen.

«Liberté, égalité, fraternité», dit la République française. «Identité, sécurité, intolérance», répondent les nationalistes. Des méthodes légales, un appel à la souveraineté populaire, peu de violence physique : le fascisme n’est pas aux portes. Mais partout les mêmes thèmes, les mêmes simplismes, les mêmes slogans agressifs et sommaires dominent. Il y a les «démocratures», comme la Turquie, passée sous la coupe du sultan Erdogan. Il y a surtout la victoire de partis réactionnaires coulés dans le moule constitutionnel, au pouvoir en Italie, en Hongrie, aux Etats-Unis ou aux Philippines. Et bientôt, il faut le craindre, au Brésil.

Quelle: Libération, par Laurent Joffrin

Was ist entgegenzusetzen?

Trump, AfD, Orbán, Erdoğan, Polen, Österreich, Italien, Bolsonaro in Brasilien, Duterte auf den Philippinen: ist es nicht zum verzweifeln? Will man etwas dagegen tun, sollte man sich die Funktionsweise – das sich Bewegen dieser Regime und ihr Zustandekommen – ganz genau anschauen. Ich stelle mir natürlich dabei die Frage: wer will eigentlich in einer Gesellschaft leben, in der Menschen Gefahr laufen, auf offener Straße oder während eines Konzertes regelrecht hingerichtet zu werden, weil sie von einer archetypischen „Norm“ abweichen? Man muss ja außerdem bedenken, dass die oben genannten Regime nach wie vor eingedämmt von demokratischen Institutionen sind, die noch Schlimmeres bisher verhindern. In einem Regime, das jemand wie Bolsonaro nach eigener Aussage anstrebt, würden sie einen wie mich jedenfalls schnell an die Wand stellen. Ich sehe mich also verpflichtet, dagegen anzuschreiben. Mit welcher Begründung, so frage ich mich oft, darf man sich heute eigentlich noch einer Forschungsfrage zuwenden – das gilt besonders für Historikerinnen – die sich nicht direkt als Widerstand gegen die Neo-Re-Bewegungen versteht?

Im SZ-Artikel wird am Beispiel des Nationalmuseums in Rio de Janeiro haarklein beschrieben, was Wissenschaftlerinnen blüht – und zwar jeder Couleur. Der zugrunde gehende Bestand des Museums zeigt es: man kann sich nicht mehr mit Amazonien beschäftigen – ohne sich mit der Zerstörung Amazoniens zu beschäftigen. Was bringt es, seltene Schmetterlinge beschrieben zu haben, wenn hinterher die Beschreibung in einem systemischen Nihilismus und Zerstörungsdrang vernichtet wird? Welchen Nutzen hat es, eine aussterbende Sprache zu erfassen und zu erforschen, wenn  systematisch kein Wert darauf gelegt wird, zu verhindern, dass der Ort der Lagerung dieser Dokumentation bei nächster Gelegenheit abbrennt? Man sollte also keine Zeit verstreichen lassen, irgend etwas zu erforschen, ohne sich vor Augen zu halten, dass es künftig verboten oder unerwünscht sein könnte, überhaupt zu forschen.

Ich möchte das allerdings nicht als „Gegennihilismus“ verstanden wissen, „neutrale“ Forschungsthemen sein zu lassen; es ist eher so, dass es keine „neutrale Forschung“ gibt. Jede Forschung, die sich in der Sprache der Kritik formuliert — der wissenschaftlichen Methode schlechthin — kann zu bedrohlichen Erkenntnissen für Neo-Re-Bewegungen führen. Es ist freilich ganz klar, dass sich die Alphas des Neo-Re zuallererst an das Verbot und die Zensur diskurskritischer Themen machen. Zusammen mit Satire und humorvoller Verächtlichmachung befürchten die Alphas des Neo-Re nichts mehr als den Zeigefinger des Kindes, das sich vor die applaudierenden Massen stellt und auf die Nacktheit des Kaisers deutet.

Die Mythen des Neo-Re werden, in altbekannter Manier, vor der Dekonstruktion durch Sakralisierung und Errichtung von Unsäglichkeiten geschützt. Kritische Journalisten, Akademiker und „Influencer“ der OSN werden vor Gericht gezerrt oder gleich weggesperrt. Besonders zornig erwischt es diejenigen Kritiker, wie zum Beispiel Deniz Yücel in der Türkei, die nicht nur kritisch, sondern auch noch laut lachend und geistreich auf die Absurditäten des Neo-Re zeigen. Aber auch scheinbar neutralen Forschungsarbeiten droht in den Neo-Re-Bewegungen Bücherverbrennung oder Instrumentalisierung – wenn ich mich auch frage, wie im Zeitalter der Digitalisierung noch Bücher verbrannt werden können. Im „niemals nicht Vergessen“ des Internets sehe ich dabei immerhin einen kleinen Hoffnungsschimmer. Als Beispiel sei hier nur genannt, dass das AKP-Regime in der Türkei beschlossen hat, die Evolutionstheorie von den Lehrplänen zu streichen: selbst eine Theorie wie die der Evolution gereicht dem Neo-Re zur Gefahr, weil sie ihrem monogenetisch-monotheistisch-vatermännerischen Herrschaft die Legitimation abzugraben droht. Es muss gar nicht erst erwähnt werden, dass „Gedöns“ wie die kritische Auseinandersetzung mit Geschlechterrollen in Neo-Re-Regimen in der Regel unerwünscht und dissidentisch sind.

Interregnum: wenn die Massen nicht mehr an das glauben, woran sie zuvor glaubten

Ergiebig erscheint mir Gramscis Begriff des Interregnums aus unterschiedlichen Gründen. Also noch einmal dazu, was er darunter verstanden hat, und was das mit uns heute zu tun hat. Ich zitiere dazu, der Einfachheit halber, aus einem Beitrag des Journals „Luxemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis“ der Rosa-Luxemburg-Stiftung von 2012, geschrieben im Windschatten der arabischen Proteststürme, die 2011 zuerst in Tunesien ausgebrochen sind. Ich halte es für absolut lohnenswert, die Hannah Arendt, Walter Benjamin, Norbert Elias, Zygmunt Bauman und Ulrich Beck-Lektüre um einen genaueren Blick auf Gramscis Gefängnishefte zu erweitern, wenn man das eigentliche „Hin- und Herrennen„, das dis-currere des Diskurses, also das eigentliche Bewegen von Bewegungen, verstehen will. All diese Denkerinnen haben sich schließlich als Zeitgenossinnen von Zwischenzuständen mit Zwischenzuständen (mit „Interregna“) auseinander gesetzt, wobei Bauman und Beck (aus zeitlichen Gründen…) je auf eigene Art und Weise aus der Rolle fallen (und sicher wären hier weitere Namen zu nennen).

Beck und Bauman haben erkannt und formuliert, dass auch wir in einem Zwischenzustand leben. Beck hat das zuletzt metaphorisch als Metamorphose beschrieben, und Bauman mit seiner außergewöhnlich langen Lebensspanne und -Erfahrung hat dafür das Präfix „Re“ verwendet (was Beck vielleicht als Blindenstab der Intellektuellen zurückweisen würde). Allen Denkerinnen (außer Gramsci) ist außerdem gemein, dass sie sich nicht ohne weiteres in die Links-Rechts-Binarität einordnen lassen, die man heute sowieso aufgeben sollte. Aber damit zum ersten (ziemlich bekannten) Zitat von Antonio Gramsci, das sich auf Herrschaft und den Niedergang des Glaubenssystems beziehen lässt, womit ich mich im Anschluss beschäftigen will:

„Mit dem Begriff des Interregnum bezeichnete Gramsci Übergangsepochen der Krise, in denen »die herrschende Klasse den Konsens verloren hat, d.h. nicht mehr ›führend‹, sondern einzig ›herrschend‹ ist, Inhaberin der reinen Zwangsgewalt«. In diesen Phasen haben, so Gramsci, »die großen Massen sich von den traditionellen Ideologien entfernt« und glauben nicht mehr an das, »woran sie zuvor glaubten«.“ (Zum Beitrag)

Was ich für herausragend halte an diesem Zitat ist das Aufhören des Glaubens, das typisch ist für Interregna. Hier wären also in aller erster Linie Sozialwissenschaftlerinnen gefragt, die sich mit Glaubenssystemen beschäftigen. Es kann nämlich kein Zufall sein, dass dieses Aufhören des Glaubens mit einer scheinbaren Rückkehr des Glaubens einhergeht: wie im Beitrag über Brasilien auch dargestellt wird, ist das Neo-Re-Phänomen Bolsonaro ohne die evangelikale Bewegung nicht vorstellbar. Die Parallelen zu anderen Neo-Re-Phänomenen liegen auf der Hand: was wäre Trump ohne den Bible Belt? Was wäre der Rechtsruck in Polen und Kroatien ohne den Katholizismus, was der Erdoganismus, die Muslimbrüder, ISIS (etc.) ohne den Islamismus, was die Pegidisten ohne ihre merkwürdigen Kreuze, was der serbische Nationalismus oder der Putinismus ohne die Neo-Re-Orthodoxie? Und man könnte die Liste fast endlos fortsetzen.

Glaubenssystem und Neo-Re

Ich will also ein paar vorübergehende, nicht erschöpfende Feststellungen und offene Fragen zu diesem gar nicht so einfach zu bewältigenden Zusammenhang von dogmatischen Glaubenssystemen und Neo-Re-Bewegungen treffen. Zusammengenommen stellen die folgenden Punkte, Feststellungen und Fragen einen Arbeitsauftrag dar, und zwar in erster Linie an mich selbst. Es handelt sich dabei um ein schwieriges Thema, das Sozialwissenschaftlerinnen oft nur mit großer Vorsicht anfassen mögen („don’t touch their faith“); schließlich berührt diese Frage das stark tabubelegte Thema der Religionskritik, da es schnell als unredlich gilt, Religionen anzugreifen, indem ihnen eine negative Rolle zugeschrieben wird. Diese Tabubelegung ist kein Zufall, wie weiter unten noch zu sehen sein wird, da Neo-Re-Bewegungen auf unhinterfragbare Glaubenssysteme dringend angewiesen sind. Das ändert natürlich rein gar nichts daran, dass man sich mit diesem Zusammenhang befassen muss, so man irgendetwas über Neo-Re-Bewegungen und Bewegungen an sich verstehen will. Nach dieser Auflistung will ich die Relevanz dieses sich befassen Müssens mit dem Zusammenhang zwischen Glaubenssystem und Neo-Re-Bewegung mit einem weiteren Zitat zu/von Gramsci begründen. Hier also ein paar Überlegungen:

  • Was haben die Neo-Re-Bewegungen genau mit Glaubenssystemen zu tun?
  • Feststellung: all diese Neo-Re-Bewegungen sind ganz offensichtlich engstens mit Glaubenssystemen verwachsen; Glaubenssysteme als Machtfigurationen sind die Wegbereiter bzw. das Vehikel dieser Bewegungen.
  • Konzepte wie Framing innerhalb der sogenannten „Bewegungsforschung“, welche die Zentralität von Glaubensystemen als Vehikel – vielleicht sogar als das eigentliche Bewegen von Bewegungen – nicht ausreichend miteinbeziehen, erscheinen deshalb als ungeeignet.
  • Worin besteht das eigentliche Bewegen von Bewegungen?
  • Das Bewegen einer Bewegung lässt sich als Diskurs beschreiben.
  • Diesen kann man am besten fragmentarisch versuchen, zu erfassen (zur Fragmentierung der Tropen, „3D-Stereotypen“, Archetypen und Mythologeme werde ich hier voraussichtlich aber nicht mehr kommen).
  • Dabei lohnt ein Rückblick auf die Etymologie des Wortes Diskurs, der erschreckenderweise ebenso oft als etwas rein Textuelles missverstanden wird, wie noch geglaubt wird, Macht sei etwas, was einer besitzen könnte: Diskurs geht auf discurro bzw. dis-currere zurück, was nichts anderes bedeutet als: hin- und herrennen.
  • Aber was rennt eigentlich hin und her?
  • Was eigentlich hin- und herrennt, sind Tropen (sowie Stereotypen, Mythologeme und Archetypen, zu denen ich, wie gesagt, hier nicht komme): nicht umsonst heißen die Tropen, also die Klimazone der Tropen, fäschlicherweise (und beruhend auf einem widerlegten Glaubenssystem) Tropen.
  • In der Himmelsrichtungsmetaphorik wurde geglaubt, die Sonne renne zwischen dem südlichen und dem nördlichen Wendekreis („tropisch“) hin und her, wo sie zur Sommer- wie zur Wintersonnenwende eine Wendung nehme;
  • Sie tut das selbstverständlich nicht, wie man längst, aber erst nach dem Zusammenbruch mehrerer überalterter Glaubenssysteme weiß, aber einst nicht genau wissen konnte;
  • Damit wäre man eigentlich schon beim Glaubenssystem, das zum Einsatz kommt, wenn etwas nicht genau gewusst werden kann.
  • Im Altgriechischen bedeutet Tropos (τρόπος) bzw. Plural Tropoi (τρόποι), die Tropen, soviel wie „Wendung“. Logisch: Wendung, weil zwischen ihnen hin- und hergerannt wird.
  • Was sind Tropen im Diskurs? Welche Tropen rennen im Diskurs hin- und her?
  • Im Diskurs rennen Tropen als semantische Figuren wie Metaphern, Metonymien, Synekdochen oder als Ironie hin und her.
  • Um sich auf die Tropengattung der Metapher zu beschränken: Meta-phorein, hinüber-tragen, über-tragen, über-setzen, trans-ferre, trans-latio ist ein Abstraktum, und da das Abstraktum oft wie ein Roh-Datum behandelt wird, wird nicht durchschaut, dass es das Abstraktum nur gibt, weil daran geglaubt wird: ein datum (von dare: geben) gilt als Gegebenes, als la donnée, the data, die als Vor-Annahme vor-angenommen und nicht weiter hinterfragt wird.
  • Wie die Vorstellung der Tropen und des angeblichen tropischen Hin- und Hers der Sonne zwischen den Wendekreisen zeigt, orientieren sich Tropen (als metaphorische Übertragungen) zur Raumorientierung an Naturraumbildern, die grundsätzlich binär vorgestellt werden.
  • Die Ubiquität des binären Prinzips begründet sich darin, dass anscheinend kaum etwas (sehr zum Leid nicht-binärer Wesen) nicht-binär vorgestellt werden kann.
  • Die beschränkte Fähigkeit der Nicht-Anwendung des binären Prinzips zur Raumorientierung hat wahrscheinlich einen physiologischen Ursprung: man hat grundsätzlich zwei Augen, zwei Hirnhälften, zwei Hände, zwei Beine, zwei Lungenflügel; man geht von zwei Geschlechtern aus, man unterscheidet nach Links und Rechts, nach Westen und Osten, männlich und weiblich und so fort.
  • Die binär-tropische Übertragung zur Orientierung findet selbst dann statt, wenn — wie im Fall des Blicks der Kosmonautin von außerhalb der Atmosphäre auf die Erde, da die Kosmonautin erkennen kann (muss), dass jederzeit überall, an jedem Ort der Erde Osten und Westen herrscht — eigentlich klar sein könnte, dass die binäre tropische Übertragung keinen Sinn macht.
  • Analoge Überlegung: ein Insekt richtet sein physiologisch veranlagtes Raumorientierungsprinzip auch dann am leuchtenden Himmelskörper aus, wenn dieser leuchtende Himmelskörper eine todbringende Gaslampe ist.
  • So hat eine jede und ein jeder scheinbar immer einen Osten und einen Westen; die Wirklichkeit wird mit diesen Orientierungs-„Hilfen“ in zuverlässigem Hin- und Her verschränkt und erklärt.
  • Tropen halten sich relativ hartnäckig: sie rennen scheinbar konstant hin und her, weshalb sie gewissermaßen die eigentümlichsten Fragmente des Diskurses darstellen: die Grundannahmen eines Glaubenssystems, die beständig zu sein scheinen — auch in Zeiten, da doch so weniges noch beständig ist.
  • Durch die Unbeständigkeit und die ständige Zunahme der Möglichkeit des nicht genau wissen Könnens kommt dem Schutz der Tropen als Grundannahmen besondere Brisanz zu.
  • Diese Brisanz erklärt sich dadurch, dass ein Angriff auf die scheinbar wenigen verbliebenen, genau wissbaren Grundannahmen als Angriff auf das Glaubenssystem selbst, und damit als Angriff auf die Grundsicherheit des Soseins der Dinge und der Ordnung der Dinge aufgefasst wird.
  • So erklären sich die zornigen Gegenangriffe der Schützer des Glaubenssystems, mit denen nicht-binär lebende, queere, nicht-heterosexuelle Menschen zu rechnen haben (vgl. SZ-Artikel zu Brasilien; diese Morde gegen nicht-Binäre gehören zum Standardrepertoire neo-rechten Hin- und Hers weltweit): die Schützer der binären Ordnung wollen die Möglichkeit einer Anders-Ordnung aus der Welt schaffen: gerade in Zeiten atemberaubender Veränderungen, denen viele Menschen (oft schlecht gebildet) angstvoll begegnen, darf nicht sein, dass durch die vorgelebte, womöglich noch in einer Kunstaktion, gar in deutlich ausgesprochenem oder geschriebenem Wort die Möglichkeit bestehen könnte, anders zu sein als es die Grundannahme des sicher geglaubten Glaubenssystems gebietet.
  • Durch die schiere Möglichkeit, die Dinge könnten ebenso gut ganz anders sein, als geglaubt wird, wird — und zwar völlig zurecht! — befürchtet, das ganze Glaubenssystem könne zusammenbrechen und anachronistisch werden.
  • Das wollen die Schützer der Glaubenssysteme um jeden Preis verhindern: ihre politische Macht, ihr Mitreißenkönnen in das Hin- und Her ihrer tropischen Diskurse, steht und fällt mit den Tropen des Glaubensystems.

Damit wären wir zurück zum ersten Zitat von Antonio Gramsci: Glaubenssysteme brechen zusammen, da sich „die großen Massen (…) von den traditionellen Ideologien entfernt“ haben und nicht mehr an das glauben (können), „woran sie zuvor glaubten„. In diesem Zwischenzustand, in der abhorrenten Angst des horror vacui, in der oft zornvollen Furcht vor Leere und vor der Möglichkeit, die Dinge könnten ganz anders sein als geglaubt, scheint eine Kontingenzbewältigung überhaupt nicht mehr machbar. Deshalb sind Zwischenzustände – das Interregnum – typisch für Krisen, womit ich abschließend zum zweiten Zitat komme:

Die Krise bestehe gerade darin, »dass das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann: in diesem Interregnum kommt es zu den unterschiedlichsten Krankheitserscheinungen« (1991, 354). (Zum Beitrag)

Demnach ist ein Neo-Re-Phänomen wie Jair Bolsonaro, das eng verstrickt mit einem tropisch strukturierten Glaubenssystem ist (in diesem Fall ist es das evangelikale Hin- und Her), eine jener Krankheitserscheinungen, die sich zu Lebzeiten Antonio Gramscis, Hannah Arendts, Norbert Elias‘ und auch Zygmunt Baumans in Form der zornerfüllten, faschistischen Glaubenssysteme Bahn gebrochen haben. Man weiß heute sehr genau – bzw. man könnte sehr genau wissen – wie falsch die primitiven und stets streng binär gebürsteten Grundannahmen dieser katastrophischen Systeme waren. Dennoch scheint es keine Möglichkeit der „Läuterung“ zu geben, indem verstanden wird, wie falsch und verbrecherisch damals gehandelt wurde. Deshalb taucht immer wieder die Rede von der „Rückkehr“ der Geschichte auf (vgl. auch Zitat unten), was natürlich als metonymische tropische Rede nicht wörtlich zu nehmen ist. Was tatsächlich stattfindet, und womit man also immer wieder zu rechnen hat, ist das Hin- und Herrennen der Tropen des Diskurses.

Warum wir einseitig auf Bewegungen blicken

Wie ich am Anfang geschrieben habe, ist es für jeden Versuch, den Neo-Re-Bewegungen, die das Interregnum hervorbringt, etwas entgegen zu setzen, erst einmal zwingend nötig, sich über das sich Bewegen von Bewegungen klar zu werden. Um dies zu erreichen, müssen drei verbreitete Irrtümer über Bewegungen vermieden werden.

Erstens sollte man unbedingt vermeiden, unter sozialen Bewegungen nur solche Bewegungen zu verstehen, die emanzipatorische Ziele verfolgen und der Kategorie Protestbewegungen zugeordnet werden. Sozialwissenschaftlerinnen irren, wenn sie glauben, sie könnten sich mit dem demokratischen Maydan befassen, der „echten vox populi„, und dabei die sich abzeichnende Wandfahrt der viel wirkmächtigeren Neo-Re-Bewegungen außer Acht lassen. Die Erkenntnisse einer solchen Schau dienen wohl eher der Selbstversicherung. Ebenso irren sie sich, wenn sie, wie zum Beispiel Chantal Mouffe, glauben (und zwar übrigens, was ganz erstaunlich ist, ohne jede plausible empirische Grundlage), sie könnten dem „Populismus“ einen „Gegenpopulismus“, einen „linken Populismus“ oder dergleichen, entgegensetzen. Der real existierende Sozialismus winkt uns zu aus seinem atheistischen Grab.

Die Selektivität, sich „sozialen Bewegungen“ als gesonderter Kategorie zuzuwenden und gleichzeitig „rechte Bewegungen“ zu vernachlässigen, setzt a priori eine Normativität, die davon ablenkt, zu verstehen, warum es „soziale Bewegungen“ gerade in Zeiten der Krise so schwer haben, sich gegen ihre Gegner durchzusetzen. „Soziale Bewegungen“ haben es sehr viel einfacher, in Zeiten relativer Stabilität und Prosperität ihre Ziele zu erreichen, nicht aber unter Bedingungen der Krise, da die tropischen Gewissheiten bedroht scheinen. In diesem Sinne waren die 1960er und 1970er Jahre alles andere als eine revolutionäre Zeit: die damals besonders erfolgreichen Bürgerrechts- und Studentenbewegungen haben viel mehr zu einer Aktualisierung der Organisationsform geführt, die auf der festen Grundlage sicher gewusster Überzeugungen (Fortschrittlichkeit und dergleichen) stand, die es heute nicht mehr gibt. In Zeiten der Krise treten große Ängste und Unsicherheiten auf – wie der horror vacui vor Verlorensein, Leerheit und Weltverlust – die fließend in die Sphäre des Zorns und der zornvollen Gewaltbereitschaft übergehen. An diesen mobilisierenden, großen und existenziellen Emotionen knüpfen die Neo-Re-Bewegungen an, die deshalb unbedingt als Bewegungen zu betrachten sind, die keineswegs ausschließlich staatlich orchestriert sind, sondern auf das bewegende Momentum der sich mitreißen Lassenden, mitmachen Wollenden und nach Sicherheit Gierenden angewiesen sind. Deswegen wäre auch bei allen Führerkulten, wie dem Hitlerismus, aber auch den Neo-Re-Führerkulten wie dem schrillen Erdoğanismus, von einer Bewegung zu sprechen. Die normative Unterscheidung von „sozialer Bewegung“ und Bewegung macht ebenso wenig Sinn, da ohnehin alles, was zwischen Menschen passiert, sozial ist.

Prävention und Blick in das Innere des Sich-bewegens

Zweitens darf sich ein Verständnis von Bewegungen nicht darauf beschränken, ihre Symptome und ihre explizit gemachten Zielsetzungen als eine Art rational choice zu beschreiben, und demnach die Mitgerissenen als „dumm“, „unmoralisch“ oder „ungebildet“ misszuverstehen, da doch die außertropischen Ziele des Neo-Re völlig irrational sind. All diese Faktoren, und ganz besonders Bildung, spielen zwar eine wesentliche Rolle; natürlich ist die Wirtschafts- und Sozialpolitik eines Jair Bolsonaro gegen die Favela gerichtet, die er beschießen lassen will. Ein ungebildetes Elektorat kann aber nicht über Nacht „umgebildet“ werden. Mit der Inthronisierung des plebiszitären Cäsarismus des Neo-Re ist es zu spät, da Macht bereits zu Herrschaft verklumpt ist, und als solche alle Kräfte der Trägheit daran setzen wird, da zu bleiben, wo sie ist: ganz oben.

Es muss vermieden werden, sich bei der Beschäftigung mit Bewegungen auf ihre leicht zu beschreibenden Symptome zu beschränken oder Bewegungen ausschließlich dahin gehend verstehen zu wollen, dass man ihre Zielsetzungen erfasst: die Lesben- und Schwulenbewegung will die Abschaffung diskriminatorischer Institutionen erreichen, die Frauenbewegung die Gleichstellung von Mann und Frau, die Bürgerrechtsbewegung will Bürgerrechte für alle, die Landlosenbewegung die Umverteilung von Land, die Tahrir-Bewegung will den demokratischen Maydan. Ein solcher Ansatz ist nicht nur tautologisch; er verkennt die menschlichen Bedürfnisse, die von Neo-Re-Bewegungen als „rechte Bewegungen“ bedient und mobilisierend genutzt werden (Anm.: die Anführungszeichen rühren daher, dass ich die Rechts-Links-Binarität in Frage stelle; Neo-Re-Bewegungen sind jedoch in diesem Schema eindeutig als „rechte“ Bewegungen zu klassifizieren).

Michael Walzer hat das in seiner Liberalismus-Kommunitarismus-Diskussion bei der Beschreibung des Erfolges des Nationalismus als „Bedürfnisse des Herzens“ bezeichnet, was im Deutschen freilich merkwürdig klingt. Die „Bedürfnisse des Herzens“ deuten aber gerade in den innersten Kern dessen, was sich links verortendende Sozialwissenschaftlerinnen oft nicht verstehen, und demnach auch nicht erklären können; wofür es eigentlich nur einer gesunden Portion Bauernschläue bedürfte, wie sie den Neo-Reo-Alphas zu eigen ist. Wenn die sich Bahn brechende Dynamik des Neo-Re verstanden werden soll, muss die historisch begründete, allzu verständliche und nachvollziehbare Scheu aufgegeben werden, sich vor der Schau auf die „Bedürfnisse der Herzen“ zu verschließen, und also das tabubelegte Thema Spiritualität der Verlumpung und Instrumentalisierung derer des Neo-Re zu überlassen.

Dem Neo-Re die machtvollste Waffe entziehen: die Kontrolle über die „Bedürfnisse der Herzen“

Drittens muss in diesem Sinne anerkannt werden, dass das Problem der nicht bewältigbaren Kontingenzfrage als ernstzunehmender Mobilisierungsfaktor unbedingt mit einzubeziehen ist. Es muss eine Möglichkeit gefunden werden, dieser Problematik in Zeiten der Krise des Interregnums zu begegnen, da die binären Tropen der Neo-Re-Bewegungen besonders vehement hin- und herrennen, und dabei doch keine andere Lösung als die sich ständig wiederholenden Wandfahrten anbieten können.

Dass es dabei kracht, liegt auf der Hand. Harald Welzer hat in seinem Buch Klimakriege eine ernst zu nehmende Prognose getroffen: die „Flüchtlingskrise“ (und er hat das Buch vor der sogenannten „Flüchtlingskrise“ von 2015 geschrieben) bietet nur einen Vorgeschmack auf die Folgen der Klimakriege, da weite Landstriche zu „inhabitablen Zonen“ werden. Die schreckliche Wahrheit ist nämlich, dass die Alternativlosigkeit, mit der Angela Merkel 2015 verkündet hat, die Grenzen seien offen, gar nicht alternativlos ist. Die einzige Alternative wäre allerdings der Schießbefehl an den jetzt mit Mauern und Zäunen „abgesicherten“ Außengrenzen der EU gewesen, und er wird es auch in Zukunft sein. Wie mittlerweile niemand mehr abstreiten wird, sind es Szenarien wie die „Flüchtlingskrise“, die dem streng binären, tropischen Hin- und Her des Neo-Re Momentum bescheren. Um vor dem ganzen Ausmaß der eigentlichen Krise die Augen verschließen zu können, greifen die Alphas des Neo-Re regelhaft nach den großen Gewissheiten, mit denen das Innerste der Unsicherheit, die nicht bewältigte und nicht bewältigbare Kontingenz, also Spiritualität, darstellt.

Es bleibt festzustellen, dass Möglichkeiten gefunden werden müssen, mit der offensichtlichen, engen Verschränkung von Neo-Re-Bewegungen und Glaubenssystemen umzugehen, da hier ein Kernelement des Erfolges dieser Bewegungen liegt. Glauben und Glaubenssystemen, die sich in mitreißender und hemmungsloser Manier der menschlichen Bedürfnisse der spirituellen Kontingenzfrage bedienen, kommt ausgesprochene Zentralität zu. Das zeigt das Beispiel Bolsonaro, der als rechtsradikal gilt, aber gleichzeitig von einer christlich-religiösen Bewegung, der Neo-Re-Bewegung der Evangelikalen, getragen wird.

Eine besondere Herausforderung stellt diese Herangehensweise womöglich für Menschen dar, die selbst nicht nachvollziehen können, was es heißt, den Gewissheiten eines Glaubenssystems vollständig verpflichtet zu sein, und die Bedrohung seiner eigentümlichsten Fragmente – der hin- und herrennenden Tropen – als existenzielle Bedrohung des Soseins der Dinge und ihrer Ordnung zu empfinden. Durch den Angriff auf die kosmologische Ordnung der Dinge wird befürchtet, das Selbst könne völlig irrelevant sein; wenn die grundsätzliche Binarität von Mann und Frau, schwarz und weiß, oben und unten, alteingesessen und hinzugezogen, Ost und West nicht mehr funktioniert, so wird befürchtet: was gilt denn dann noch als versichernd? Die Kontingenzfrage, die im heiligen inneren Bezirk und Rotationspunkt des Glaubenssystems steht, wird durch die Gewissheiten des Glaubenssystems beantwortet, bzw. wird durch das Glaubenssystem verhindert, dass die Kontingenzfrage vor dem Sterbebett zu einer Krise des nicht wissen Könnens eskaliert und den Menschen vor die grausige Möglichkeit des Nichts wirft. Dafür ist eine schonungslose, nicht von wie auch immer begründeten Tabus des Denk- und Sagbaren eingehegte Kritik von Glaubenssystemen nötig, die doch nichts anderes tun, als das sich eigentliche Stellen der Kontingenzfrage und spirituellen Suche als Grundbedürfnis der Menschen („Bedürfnisse der Herzen“) zu verschleiern.

Das beinhaltet, es für die dem Glaubenssystem verpflichteten Menschen offensichtlich zu machen, dass ihre Angst um die mögliche Nichtbewältigung der Kontingenzfrage instrumentalisiert, missbraucht und doch nicht beantwortet wird. Die Frage der Kontingenzbewältigung selbst kann niemand endgültig für einen anderen Menschen beantworten: sie ist eine Frage des Glaubens, und möglicherweise auch der Erfahrung von Leerheit.

„Noch ist Brasilien eine der Demokratien mit den fortschrittlichsten Bürgerrechten der Welt, der Verfassung zufolge. In der Praxis bewegt sich das Land auf direktem Weg zurück in seine dunkelste Vergangenheit. Wer sich dagegen auflehnt – im Moment sind das vor allem die Künstler und Kulturschaffenden – wird als Staatsfeind, als Kommunist, mitunter auch als Pädophiler verunglimpft. „Wir stehen am Anfang der Barbarei“, sagt Schwartz. Es begann in den sozialen Netzwerken, wo die Bolsonaro-Fraktion einen Großmarkt der Fake News erschaffen hat. Seit diese Bewegung aus den Wahlumfragen weiß, dass sie die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich hat, schwappen die Intoleranz und der Hass zunehmend in die Realität hinein.“ (Zum Beitrag)

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3 Kommentare zu „[Tropik] Das binär gebürstete Hin- und Her des Neo-Re: unser Interregnum, Herrschaften wie Jair Bolsonaro, das sich-Bewegen von Bewegungen.

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