Ich habe gerade dank der Facebook-Seite von Eirene, meiner früheren Freiwilligenentsendeorganisation, den weiter unten eingepflegten Videobeitrag von Jäger & Sammler gesehen. Darin geht es zusammengefasst darum, dass Deutschland Nummer vier und fünf im internationalen Waffenhandel ist. Weiterhin ist die Rede davon, dass entgegen der gesetzlichen Bestimmungen ein beträchtlicher Teil der deutschen Waffen (insbesondere Kleinwaffen) in Staaten exportiert werden, die keine NATO-Staaten oder EU-Staaten sind oder diesen gleichgestellt sind. Diese Staaten werden Drittstaaten genannt.
Warum soll es eigentlich viel problematischer sein, Waffen in Drittstaaten als in NATO- oder EU-Staaten zu exportieren? Etwas naiv gesagt gebe ich zu, dass mir das angesichts der Entwicklungen in der Türkei gerade auch nicht unbedingt einleuchtet. Um sowohl die Logik hinter dieser Bestimmung als auch ihr Scheitern zu begreifen, sollte vielleicht noch einmal über die sogenannten „Aporien der Menschenrechte“ (anders formuliert: Ausweglosigkeiten/Sackgassen der Menschenrechtsfrage) nachgedacht werden.
Die angebliche Universalität der Menschrechte
Laut der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen von 1948 sind die Menschenrechte universell. Sie gelten also, zumindest laut UNO, für alle Menschen auf der ganzen Welt. In der Praxis jedoch hat diese Erklärung noch nie gegolten: Menschenrechte gelten nur sehr punktuell und eingeschränkt, nur in bestimmten Staaten. Deutschland zählt sich selbst zu denjenigen Staaten, die eine im internationalen Vergleich positive Bilanz aufweisen können, und auch von außen herrscht diese Wahrnehmung vor. Es gibt in Deutschland natürlich Verstöße und Probleme, es gibt strukturellen Rassismus, es gibt Benachteilung, Ungleichheiten und andere Arten von Ungerechtigkeiten. Das Deutsche Institut für Menschenrechte berichtet jährlich über die Menschenrechtsverstöße in Deutschland, was hier recherchiert werden kann. Der globale Vergleich wird trotzdem zeigen, dass Deutschland beim Umgang mit den Menschenrechten relativ gut abschneidet — zumindest innerhalb seiner eigenen Grenzen.
Demokratisch verfassten Staaten wie Deutschland ist das Gefälle zwischen solchen Staaten, die sich um die Einhaltung der Menschenrechte kümmern, und jenen Staaten, die sich darum wenig scheren (tendenziell sind das Drittstaaten), bewusst. Die Exportbegrenzung von Waffen in Drittstaaten geht natürlich auf den Grundgedanken zurück, dass der „Missbrauch von Waffen“ — und hier stellt sich natürlich sofort die Frage, was denn der „gute Gebrauch“ von Waffen sein sollte — in EU- oder NATO-Mitgliedsstaaten besser eindämmbar sei als in Drittstaaten. Auf letztere kann ein Land wie Deutschland durch die fehlenden Bündnisse (EU, NATO) weniger Einfluss üben. Logisch.
Aus diesen Gründen ist es natürlich skandalös, wenn deutsche Waffenhändler diese Regelung umgehen, bzw. dass es überhaupt vorgesehen ist, dass zu einem geringeren Teil (20 Prozent) Waffenexporte in Drittstaaten möglich sind. Außerdem übersieht die Regelung großzügig, dass auch NATO-Mitgliedsstaaten wie die Türkei die Menschenrechte in großem Stil missachten. Dazu gehören die angeheizten Konflikte im eigenen Land, wo Minderheiten wie den Kurden die Menschenrechte enthalten werden, dazu gehören aber auch die zunehmenden, außenpolitischen Aggressionen des herrschenden Regimes. Aus diesem Grund muss die Türkei zu den menschenrechtslosen Staaten gezählt werden.
Dabei ist es erst einmal begrüßenswert, dass in Deutschland gerade über den Waffenhandel so lebhaft diskutiert wird. An die Diskussion anschließend, argumentiere ich in diesem Beitrag, dass mit dem Verkauf von Waffen in menschenrechtslose Staaten Menschenrechtslosigkeit direkt und proaktiv mitverhandelt wird. Deshalb reicht es auch nicht aus, innerhalb des eigenen Gemeinwesens auf die Einhaltung der Menschenrechte zu achten.
Die Aporien der Menschenrechte
Der Begriff der „Aporien der Menschenrechte“ stammt von Hannah Arendt, die ihn in ihrem Monumentalwerk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft verwendet hat. Dort argumentiert sie, dass Menschenrechte sowieso nur diejenigen in Anspruch nehmen könnten, die einen Staat haben, und damit das „Recht, Rechte zu haben„.
Hannah Arendt hat das am eigenen Leib erfahren und darüber geschrieben, zum Beispiel in ihrem Essay We Refugees. Seit Arendts Vertreibung aus Nazi-Deutschland und ihrer vorübergehenden, mehrjährigen Staatenlosigkeit hat sich bis heute wenig daran geändert. Menschenrechtslosigkeit betrifft also in erster Linie diejenigen, die entweder staatenlos sind, oder die in einem „schlechten Staat“ leben, der ihnen vielleicht irgendwelche anderen Rechte gewährt – aber halt keine Menschenrechte. Oder in einem solchen Staat leben, der nur einer bestimmten Bevölkerungsgruppe Menschenrechte gewährt — andere dagegen wie Bürger zweiter oder dritter Klasse behandelt.
Der Widerspruch, der zwischen dem universalen Anspruch der Menschenrechte der UN Menschenrechtserklärung und der tatsächlichen Wirksamkeit von Menschenrechten klafft: das sind die „Aporien der Menschenrechte“.
Das Problem des methodologischen Nationalismus
Man könnte den Arendtschen Aporien noch ein Kapitel hinzufügen − und zwar eines, das längst noch nicht geschrieben, ja noch nicht einmal zu Ende durchdacht worden ist: wie nämlich der „methodologische Nationalismus“, die Menschenrechtsfrage gerade im Fall grenzüberschreitenden Waffenhandels stets universal zu formulieren, aber nur national zu meinen, überwunden werden kann und muss.
An diesem Kapitel sollte aus der Notwendigkeit eines „normativen Kosmopolitismus“ umso dringender gearbeitet werden, da trotz oder gerade angesichts aller neuen Mauerbauten die ganze Welt immer stärker zusammenwächst. Um es sehr platt auszudrücken: es ist heute weniger denn je möglich, Waffen in eine entfernt gelegene Geographie zu exportieren, und darauf zu vertrauen, dass sich die Menschen dort „die Köpfe damit einschlagen“, ohne, dass das direkte Auswirkungen auf das eigene Gemeinwesen haben wird.
Obwohl die nationalstaatliche Ordnung zusehends porös wird, ist die politische Ordnung nach wie vor, zumindest optisch, zu einem nicht unerheblichen Teil von nationalstaatlichen Strukturen bestimmt. Dies betrifft vor allem die nationalstaatliche Institution des Rechts. Dabei gibt es Staaten, die keine Menschenrechte achten, obwohl sie natürlich aus kosmetischen Gründen der Gesichtswahrung so tun können, als achteten sie die Menschenrechte. Solche Staaten, wie zum Beispiel Saudi-Arabien oder die Türkei, schaffen es unter Umständen sogar in internationale Gremien, die sich vorgeblich um Menschenrechte kümmern, wie etwa die UNO. In solchen Staaten ist es durchaus denkbar, dass Morden und Töten legal ist, wobei natürlich auch nach innen demokratisch verfasste Staaten wie die USA völlig legal Tötungen von Menschen vornehmen lassen. Die ganze Bandbreite von Menschenrechten, wie die Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit, muss hier nicht einzeln aufgeführt werden. Auch diese Aspekte der Menschenrechtslosigkeit müssen letztlich mit Waffengewalt hergestellt werden.
In Staaten, in denen die Menschenrechte gesetzlich verankert sind, sind Morden, Töten, Folter, Zensur und weitere Einschränkungen der Menschenrechte dennoch weitestgehend geächtet (was natürlich nicht heißt, dass es in all diesen Ländern problemlos zuginge, und dass Verletzungen der Menschenrechte nicht stattfänden). Aber immerhin besteht ein rechtlicher Rahmen, und es kann so getan werden, als sei Menschenrechtslosigkeit das Problem anderer. Dementsprechend gleichgültig kann es einem Waffen produzierenden und sich daran bereichernden deutschen Unternehmen einschließlich all seiner Angestellten sein, die sich ebenso am Waffenhandel bereichern, wenn mit deutschen Kleinwaffen und anderen Waffen außerhalb ihres (unseres) Staates Menschen ermordet werden. Zusammen mit uns allen, die im gleichen Rentensystem leben, bereichert sich das staatlich-gesellschaftliche System über die Steuern am Waffenhandel, und oft genug wird sogar das Argument der „Arbeitsplätze“ angeführt. Solange der Aspekt des Mordens und Tötens, der ja die Wirtschaftsgrundlage eines Waffenherstellers ist, außerhalb der Grenzen geltenden Rechts stattfindet, muss auch derjenige keine Verantwortung übernehmen, der nur mit denjenigen Aspekten des Waffengeschäfts zu tun hat, die nicht Morden und Töten lauten. Sondern „Arbeitsplätze“, „Steuereinnahmen“, „Statistik“. Wie gesagt: auf die Menschenrechtsfrage in Saudi-Arabien oder in der Türkei, um bei den zwei genannten Beispielen zu bleiben, kann aus dieser Perspektive aporisch, – „ratlos“, „ausweglos“ – geblickt werden.
Ein Grund für ein denkbares Zusatzkapitel zu den „Aporien“ wäre meiner Meinung nach, dass Menschenrechtslosigkeit zwar hauptsächlich, aber nicht nur ein Problem eines schlechten Staates ist: hauptsächlich, weil ja dort gemordet und getötet wird; nicht nur, weil durch die Waffenexporte Regime stabilisiert werden, die keine Menschenrechte gewähren. Diese können nach dem Morden und Töten dann zwar dankbarerweise dafür angeprangert werden; das ändert aber nichts daran, dass diese Regime mit unserer Unterstützung durch den Waffenhandel sogenannte „Fluchtursachen“ herstellen – wenn es dann doch einmal dazu kommt, dass Waffen zum Töten und Morden eingesetzt werden, was durch die Waffenhersteller ausgeblendet wird… Mit dem Waffenhandel zusammen wird also tätliche Menschenrechtslosigkeit gleich mit verhandelt.
Das ganze destabilisiert am Ende auch die Gemeinwesen, innerhalb derer Menschenrechte gewährt werden. Deshalb – ich erinnere an den Zusammenhang Krieg, Flucht, Freital; an das Erstarken der AfD; an die fortschreitende Verlumpung der CSU und anderer Parteien – sollte es eigentlich streng geahndet werden, dass nur weitaus weniger als 20 Prozent der Waffen in „Drittstaaten“ verkauft werden. Wenn schon nicht der durch in Deutschland hergestellte Waffen Ermordeten und der in Zukunft noch durch in Deutschland hergestellte Waffen zu Ermordenden selbst wegen, so unserer Selbst wegen. Warum das so ist, und warum Waffenhandel, Fluchtmigrationen, neo-rechter Populismus und die stattfindende „Metamorphose der Welt“ in Form von Klimakriegen und Klimawandel miteinander zu tun haben, und wie ein für alle Beteiligte akzeptables politisches Konzept der Menschenrechtsfrage aussehen könnte, darüber will ich mir in einem späteren Beitrag den Kopf zerbrechen.
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