[Klima] Die Tropische Zone ist zusammengebrochen (I)

Was bringt es, den Ventilator richtig in der Nähe des Schreibgeräts zu platzieren? Soll man die Nachrichten überhaupt lesen? Muss man seiner täglichen Bildungs- und Reflexionspflicht nachkommen? Über Nachrichten, in denen ein wachstumsideologischer Finanzminister vorkommt, der völlig abgekoppelt von der Wirklichkeit auf einem ganz anderen Planeten zu leben scheint? Wozu das ganze schreckliche Meinungselend der lumpigen Plattformen noch wahrnehmen?

So und so ähnlich ist die Stimmung.

Was soll man zur Klimakatastrophe also überhaupt noch denken, schreiben und vorschlagen — wenn es im Resonanzraum einzig und allein um Gas und Krieg geht? Und sollte man doch etwas dazu schreiben — wann, wenn nicht mitten in der Hitze eines Sonntags, der eigentlich am Sacrower See geplant war? Ein Blick auf die Wetterprognose sagt mir, dass es auch gar nichts bringen würde, ein paar Tage abzuwarten: für Mittwoch sind schon wieder 36° C vorhergesagt. Nachtsüber kühlt es gar nicht mehr auf unter 20° C ab. Das Gemäuer der Stadt wirkt wie der oft zitierte Backofen. Wir sind keine Wärmeinsel, auf der Papageien und Feigenbäume überleben: wir sind eine Hitzeinsel inmitten einer brennenden Steppe. Die Belüftung und Habitabilität der Wohnung wird zu einem aerodynamisch durchdachten, rechtzeitigen Vorgang.

Berlin-Neukölln im August 2022

Ich stelle fest, dass ich so nicht funktioniere. Ich bin derangiert — und dieses Dérangement hat nicht nur mit mir zu tun. Es hat mit dem Wetter, dem Klima, dem sozialen Klima und mit dem Zusammenbruch der tropischen Zone zu tun. Ich komme hoffentlich in einem weiteren Beitrag noch ausführlicher zur tropischen Zone und ihrem Zusammenbruch (wenn es denn Sinn machen sollte, den Ventilator zu platzieren…). Zuerst aber muss ich auf ein paar quasi automatische Einwände eingehen, die man meinem angeblichen Dérangement entgegenhalten könnte. Schließlich muss ich zur Kenntnis nehmen, dass es in dieser Gesellschaft einflussreiche Menschen gibt, die allen Ernstes vorschlagen, wir müssten noch mehr und noch länger arbeiten — statt weniger und kürzer. In solchen Vorschlägen zeigt sich am deutlichsten die mentale und kreative Sackgasse, die der Resonanzraum der öffentlichen Meinungen in weiten Teilen darstellt: das Schrumpfen der Wirtschaft wird nur unter Horror wahrgenommen: es muss mit allen Mitteln bekämpft werden. Das momentan Offensichtliche aber — nämlich die kausale Verbindung zwischen der Katastrophe und dem mehr und länger, wird zu erkennen aufgegeben; wohl zugunsten eines höheren Werts, der aber nicht benannt werden muss (oder darf), weil er durch die Tabus des Glaubenssystems abgesteckt und abgetrennt vom Denk- und Sagbaren ist: Wachstum. Dass das mit derangierten Menschen freilich nicht zu machen sein wird, muss ich wohl nicht dazu sagen. Vielleicht liege ich damit ja auch daneben, aber ich beobachte, dass es immer mehr derangierte Menschen gibt. Schöpfen sie nicht von irgendwoher nach einem Weiter, aber anders, werden sie depressiv. Und vielleicht rechtfertigt das ganz allein den Griff zum Ventilator.

Vielleicht könnte man meine Derangiertheit aber auch wie Jammern auf hohem Niveau empfinden. Als ich mich einmal für sechs Wochen in der eigentlichen tropischen Zone aufhielt, nämlich in Brasilien, fragte ich mich, damals selbst gerade Student, wie die Leute bei diesem Klima überhaupt studieren, Abschlussarbeiten und Bücher schreiben können. Sie tun das ja zweifellos trotzdem (und nebenbei bemerkt bringen sie unter diesen tropischen Bedingungen eine der kreativsten und produktivsten Kulturen der Gegenwart hervor, was besonders für die Musik gilt). Ähnlich, aber noch ein bisschen drastischer waren meine Eindrücke außerhalb der eigentlichen tropischen Zone, im Bereich der Wendekreiswüsten. Im August 2012 hielt ich mich für eine Woche in der ägyptischen Hauptstadt Kairo auf: es herrschte die dort übliche Gluthitze von durchweg über 40°C, und die Menschen brachten es tatsächlich auch noch fertig, unter diesen Bedingungen zu fasten. Ich werde nie den Blick der armen Menschen auf dem Weg vom Tahrir-Platz zum Chan el-Chalili vergessen, die irgendwo im Schatten auf ihren Kartonunterlagen saßen, vor sich ihr dürftiges Iftar-Mal mit einer kleinen Tüte roten Karkadehtees gebreitet, geduldig auf den Sonnenuntergang wartend. Was sollen sich diese Menschen erst fragen, wenn sie auf ihre Wetter-App blicken und Temperaturen von über 40° C sehen? Das klingt erst einmal nach relevanten Einwänden. Natürlich haben sich ganz besonders diese Menschen zu fragen, was aus ihnen noch werden soll, nachdem sich in unserer Luft viel mehr CO2 befindet, als je zuvor — und ihre Hitze eine noch größere Hitze werden wird, als ohnehin schon. Während ich mir nur über wenige Wochen Gedanken über die Habitabilität meiner Dachgeschosswohnung machen muss, wird der Bereich der Wendekreiswüsten vollkommen inhabitabel werden. Unbewohnbar. Die Leute werden wegziehen müssen.

Salvador da Bahia im März 2006

Trotzdem denke ich, dass ich nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht auf Derangiertheit habe. Einfach so zu tun, als könnte man weiter machen wie bisher: genau darin besteht ja das Grundübel. Abgesehen von den dringenden Fragen für die bald inhabitablen Zonen und die Folgen muss jedoch gesagt werden, dass wir uns hier, in Mitteleuropa, weder in der eigentlichen tropischen Zone befinden, noch im Bereich der Wendekreiswüsten. Das Klima hier ist zwar ohnehin „nicht normal“: aufgrund des Golfstroms ist es viel zu mild für unsere Breiten. Es wird in diesem Zusammenhang regelmäßig die Frage aufgeworfen, was mit Europa passieren könnte, wenn durch den Zusammenbruch des Golfstroms die Heizung ausfiele. Doch das klingt aus jetziger Sicht viel zu hypothetisch, so in etwa wie eine Frage vom gemütlichen Fernsehabend im Spätnovember — vor dem Ukrainekrieg, versteht sich. Wir müssen uns gerade ganz andere Fragen stellen: Unser Klimasystem ist bereits zusammengebrochen. Wir spüren das — doch wir reagieren völlig unterschiedlich darauf. Unser gesellschaftliches Klima verhält sich zwar irgendwie zum naturräumlichen Klima: aber kaum so, dass es als konstruktiv oder kompatibel zu bezeichnen wäre. Zumindest dann nicht, wenn das Ziel darin bestehen sollte, die Katastrophe aufzuhalten.

Es gibt nicht den geringsten Zweifel: ohne die Wachstumsideologie aufzugeben, wird das nicht funktionieren. Doch diese Ideologie der Normalität, in der auf Gedeih und Verderb gewachsen werden muss, hat sich ein effektives Schutzsystem aufgebaut. Vor kurzem begegnete mir und einer katastrophenbewussten Freundin auf dem Hundeplatz eine Frau, die völlig selbstsicher einen jener Sätze herausließ: „Es ist Sommer, und auch früher gab es schon so heiße Sommer in Berlin, als ich hierher gezogen bin, da war das auch so, das ist gar nichts neues…“ Vorher hatte meine Freundin geklagt, dass sogar sie, die früher immer so wärme- und sonneliebend war, unter der Hitze litt. Wie die klimaleugnende Hundehalterin konterte, sei es im Jahr ihrer ersten Schwangerschaft mindestens ebenso heiß gewesen wie heute. Bei ihrem Kinde verlieh sie ihrem löchrigen Gedächtnis ihrer Ansicht nach wohl den Nimbus der Unfehlbarkeit. Klimaleugnung — und hier zeigt sich eine starke Analogie zum Geschichtsrevisionismus — dient als Mittel erster Wahl, um anderen die (durchaus angebrachte) Derangiertheit angesichts der schweren Wetterschläge auszureden. Darin steckt ein Reißt euch zusammen. Macht weiter. Lasst euch nicht gehen. Werdet (erfolg-)reich. Helft der Wirtschaft — sonst geht es uns schlecht. Kognitive Dissonanz.

Berlin Tempelhofer Feld im Herbst 2018 (die Dürre dauert fort).

Doch wovon reden diese Leute eigentlich? Man braucht sich doch nur umzuschauen: Die ganze Stadt und ihr Umfeld sind völlig derangiert. Laut Duden bedeutet derangiert unordentlich, zerzaust, durcheinander, verwirrt — was hier zutreffend ist, obwohl das Wort noch viel mehr Bedeutungen hat: kaputtgemacht, funktionsuntüchtig gemacht, für Unbehagen sorgend, irritiert sein, jemanden dauerhaft stören sagt das Online Wörterbuch Leo zum französischen Verb déranger. Ich bin vorgestern die Berliner Straße Unter den Eichen entlang geradelt, die von Lichterfelde/Dahlem in Richtung Wannsee führt, die meiste Zeit kerzengeradeaus. Der Name ist Programm: hier stehen auf dem Mittelstreifen und am Straßenrand sehr stämmige Eichen, deren massive, gerade Stämme sich markant und tiefdunkel vom Hintergrund abheben. Ein Blickfang. Früher bin ich hier oft gewesen, um neu angekommene Stipendiat:innen aus völlig unterschiedlichen Ländern in ihre Unterkunft am Studentendorf oder in einen Wohnkomplex in Lichterfelde zu bringen. Die frischen Reaktionen der Neuankömmlinge fand ich immer sehr interessant — besonders, wenn sie zum ersten Mal in der Stadt waren. Das war meistens der Fall. Oft sogar stellte sich heraus, dass es die erste Auslandsreise überhaupt war. In Erinnerung geblieben ist mir die Begeisterung eines irakischen Studenten, der die ganze Zeit auf das schiere Grün um uns herum blickte und mich fragte: „Is it always so green here? It looks like the jungle!“ Ich hatte das vorher gar nicht so deutlich und bewusst wahrgenommen. Es war doch der normale, der nicht-derangierte Zustand der Stadt. So, wie es sein soll. Der jetzige Anblick sorgt für Unbehagen und stört dauerhaft. Etwas wurde kaputtgemacht. Das, liebe Hundehalterin, solltest du dir vielleicht noch einmal anschauen. Bei deinem Kinde.

Heute würde derselbe irakische Student in einer gelben, braunen, sandigen, völlig ausgedörrten Stadtlandschaft ankommen, die ihn vielleicht gar nicht mehr ganz so vom Hocker reißen würde. Vielleicht würde sie ihn eher an die Ockertöne seiner nordmesopotamischen Heimat erinnern. Die Eichenstämme heben sich jetzt wie absurde Fremdkörper vor dem toten Gras ab. Die Fliederbüsche sowie die restlichen Stauden und Hecken lassen ihre Blätter so schlaff und kraftlos hängen, dass man sich fragen muss, ob sie es nächstes Jahr wirklich noch mal probieren wollen, auszutreiben. Und auch die Tatsache, dass die Kornelkirschen und Eichen vor Früchten nur so starren, sollte nicht in die Irre führen: das heißt nicht unbedingt, dass es wenigstens ihnen gut geht, bei all dem heißen und dürren Dérangement. Wenn Eichen Hitze- und Dürrestress haben, produzieren sie extra viel. Sie versuchen, noch einmal alles zu geben.

Eiche in Rüdersdorf im August 2022

Wo man auch hingeht ist es dasselbe. Gestern war ich zum Beispiel im Neuen Garten in Potsdam. Auch dort ist der Boden knochentrocken, das Gras gelb und tot, die Staudenvegetation schlapp und kraftlos. Im Jungfernsee, wo vor wenigen Tagen noch geschwommen werden konnte, hat sich ein ekelerregender, grüner Schleimteppich aus Algen ausgebreitet. Am mächtigen Rhein wurde der Tiefststand des Pegels aus dem Dürrejahr 2018 längst unterschritten, es werden täglich neue Rekorde gemeldet: bei Emmerich an der niederländischen Grenze wurden nun 0 Zentimeter gemessen (ohne Berücksichtigung der künstlich vertieften Fahrrinne). Über ganz Europa ist eine nie dagewesene Hitzewelle gezogen, die sogar Großbritannien Temperaturen von über 40°C gebracht haben: something unheard of.

Marmorpalais im Neuen Garten Potsdam im August 2022. Sogar in der bewässerten Gartenanlage ist die Dürre sichtbar.
Algenschleim im Neuen Garten Potsdam / Jungfernsee im August 2022
Neuer Garten Potsdam, Kanal zwischen Heiligem See und Jungfernsee im August 2022

All das hat sich lange angekündigt. Mir sind ein paar sehr starke, warme Winterorkane Anfang der 1990er Jahre im Gedächtnis, als es massenhaft Bäume umlegte wie Streichhölzer. Eine große Wegmarke war der ewige Sommer 2003, als sich Berlin wie eine einzige Strandlandschaft mit wunderbaren Seen, Schwimmbädern und begehbaren Hausdächern präsentierte. Man betrachtete den „Jahrhundertsommer“ aber noch wie eine Ausnahme, obwohl es klarsichtige Stimmen gab, und obwohl schon damals in Frankreich die Turnhallen zu Leichenhäusern wurden. Man erzählte sich und Besucher:innen vorerst weiterhin von den eisigen Fallwinden zwischen den Berliner Häuserschluchten. Man sagte sich immer noch, dass dieses ständige Auf und Ab, von warmen Sommern zu klirrend kalten Wintern, auf Dauer zu stressig für Körper und Seele sei. Man plante seine längeren Auslandsaufenthalte lieber an wärmeren Orten, die entweder näher an oder gleich direkt in der tropischen Zone lagen. Ein Paar aus meinem Bekanntenkreis zog nach Venezuela, weil es dort nicht nur richtig gut Spanisch lernen, sondern einmal ein ganzes Jahr am Stück ohne Winter erleben wollte. In bildungsaffinen Kreisen war man sich damals schon über den Klimawandel irgendwie im Klaren. Man war zu Müllsortierung und zu einem gewissen Maß an Achtsamkeit sozialisiert worden. Man war mit einem Tierfreund-Abo aufgewachsen, wusste aus den WWF-Spots vom Sterben der Berggorillas und Wale, war unbedingt für den Tierschutz. Manche flogen arglos über das Wochenende einmal nach Riga, um ihren Horizont zu weiten. Das Wort Flugscham war noch nicht erfunden. Es war noch nicht soweit.

Im Jahr 2018 war ich mir auch körperlich das erste Mal völlig darüber im Klaren, dass es jetzt soweit ist. Ich hatte gerade eine lange Fastenzeit hinter mir. Diese begann im Spätwinter, als es tatsächlich eiskalt war: the beast from the east peitschte den Kontinent arktisch durch. Der Himmel war bereits knallblau, und so sollte er bis November bleiben. Es würde so gut wie gar kein Regen fallen, bis in den November hinein. Meine Fastenzeit ging über in eine Phase der sehr langen Radtouren durch das Berliner Umland, und ich erinnere mich an diesen einen Moment: ich hielt im Tiergarten an, stellte mich unter eine große Blutbuche, die eigentlich effektiven Schatten spendete — und es veränderte sich so gut wie nichts. Die Hitze war überall. Sie kam sogar von unten. Es war wie in Kairo: es wehte einem ein heißer Wind ins Gesicht, der alles andere als Erfrischung brachte. Im ganzen Land war es so: zum Beispiel habe ich die Wiesen in Franken noch nie so dürr gesehen. Es war erschreckend, und es ging auch nie mehr fort. In meiner großen Naivität habe ich geglaubt, dass es allen so gehen müsse, wie mir. Doch der Teaser von Christian Stöckers letzter Kolumne im Spiegel bringt es auf den Punkt:

Viele Menschen wähnen sich in einer Welt, die längst nicht mehr existiert. Einer stabilen Welt, mit Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Berechenbar, planbar. Darunter sind leider weite Teile der politischen Elite.

https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/duerre-waldbraende-schmelzende-gletscher-willkommen-in-ihrer-neuen-realitaet-a-628fc3d3-abb0-43ab-8c8e-6df7bd248f49

Wann, wenn nicht jetzt, sollten wir den Ventilator an die richtige Stelle in der Nähe des Schreibgeräts platzieren? Ich für meinen Teil bin jedenfalls derangiert. Ich muss mich auseinandersetzen.

Seltener Anblick von Üppigkeit im August 2022 in Rüdersdorf bei Berlin

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