Josip Broz Tito ist am 4. Mai 1980 gestorben — vor sage und schreibe 42 Jahren. Er ist zwar schon wenige Monate nach meiner Geburt gestorben, aber sein Konterfei kannte ich trotzdem schon als Kind: es hing gerahmt an der Wand im Schlafzimmer des kleinen Hauses der Baba Verka in Bosnien. Und es wird schätzungsweise an fast allen vergleichbaren Wänden Jugoslawiens (oder Bosniens) gehangen haben. Sofern mein Gedächtnis verlässliche Aussagen über mein Mini-Me machen kann, war ich immer froh, dass bei uns zu Hause kein großes, gerahmtes Bild eines verstorbenen Politikers an der Wand hing. Und auch nicht an allen anderen Wänden meiner Umgebung.
Wer die Türkei kennt, findet einen durchaus vergleichbaren, ikonographischen Wiedergänger in Atatürk, der sich dort vielleicht „noch überaller“ an Wänden, in den kleinsten Tekels (Spätis), auf öffentlichen Plätzen, als übergroßes Plakat, als Unterschrift auf Autoheckscheiben und wo-nicht-sonst-noch findet (oder fand). Tito ist mir aber übrigens auch in der Türkei immer wieder als Konterfei und Lobtext begegnet: wie im hier abgebildeten Give-away-Kühlschrankmagneten einer nicht mehr existierenden Publikation aus dem Milieu ausgewanderter Bosniak:innen in Istanbul. Es ist nur ein Beispiel. Dort (unter Bosniak:innen Istanbuls) werden zwar die Verhältnisse in Jugoslawien nicht als „ideal“ erinnert — denn sonst wäre man ja nicht aus dem Sandžak ausgewandert — aber Tito wird zumeist in hohen Ehren gehalten. Genau wie Atatürk, dessen Konterfei sich mit Sicherheit in derselben Publikation finden wird.

Für viele, gerade ältere Stimmen aus der Jugosphäre, wird Titos Todestag als Wendepunkt erinnert, von wo ab alles bergab ging. Jugoslawien und alles, was danach kam, wird oft (und natürlich keinesfalls immer) in einer Dichotomie von Idealzustand und „auf den Hund gekommen“ erinnert. Irgendwo dazwischen positionieren sich die Stories der Erinnerung und des Wissens, die heute oft Streit führen. Mit letzterem Extrempol, dem „auf den Hund gekommen“, bin ich oft (und natürlich keinesfalls immer) einverstanden.
Allerdings würde ich ausgesprochen davor warnen, sich gleich welchem Personenkult hinzugeben. Vielleicht mit der Ausnahme der Pop-Ikonen Madonna und Prince, weil letztere nicht-männerisch, nicht-väterisch sind… Aber šalu na stranu, im Ernst: Der türkische Literaturwissenschaftler Bülent Somay hat sich mit dem Väterischen und Männerischen an diesen Kulten gewinnbringend auseinandergesetzt und dabei den Begriff the undead Father (der untote Vater) verwendet. Wie Mete H. Kaynar und eine Reihe weiterer türkischer Sozialwissenschaftler:innen bezog er sich dabei auf Atatürk, der schon dem selbst gewählten „Label“ nach der Vatertürke ist (Ata = Vater, Ahn). Aber die Tropologie ist innerhalb modernistischer Nationalstaatsmetaphoriken, die neben Gebäudemetaphern immer besonders stark auf Familien-, Vegetations- und Coming-of-Age-Metaphern beruhen, auch verallgemeinerbar. Seiner steilen, aber belegten These zufolge ist der Erdoğan-Kult ohne den Atatürk-Kult nicht zu verstehen: Erdoğan kehre gewissermaßen als Vater-Trope des allmählich leblos werdenden, aber nicht sterben könnenden Atatürks wieder. Er begründet das ziemlich ausführlich mit einer auf mich überzeugend wirkenden Totemismus-Theorie, mit der er an Freud anschließt. Auch Mete H. Kaynar gebraucht sie für die Erklärung des Vaterkults (Übersetzung im zweiten Zitat):
Freud (…) totemi, grubun bütünüyle özel bir ilişki içindeki kutsal simge olarak tanımlamaktadır. Totem, Wundt’un (1933) da belirttiği gibi, her şeyden önce içinde yer aldığı grubun atasıdır; sonra da onun koruyucu ruhu, iyilik yapıcısı. Totem gruba kehanetlerini bildirir, evlatlarını tanır ve koruma altına alır. Totem, hem topluluğun adı, hem de soyadıdır ve bu haliyle mitolojik bir anlm taşır. Yine tam da bu nedenle totemler, seremonik birer tapınma öğesidirler.
Kaynar, Mete H.: Totem, Tabu, Mustafa Kemal ve Atatürkçülük, S. 1089-1090.
Freud (…) hat Totem als heiliges Symbol definiert, mit dem sich die Gesamtheit der Gruppe in einer
Ebda. Übersetzung: Thomas Schad.
besonderen Beziehung befindet. Das Totem ist in aller erster Linie, wie auch Wundt (1933) es
ausgedrückt hat, der Vater der Gruppe, die in ihm [d.h. im Totem, Anm. TS] Platz nimmt; danach ist das Totem auch ihr Schutzgeist, ihr Wohltäter. Das Totem informiert die Gruppe über ihre Vorhersehungen (kehanet), erkennt seine Kinder an und nimmt sie unter seinen Schutz. Das Totem ist sowohl Name, als auch Abstammungsname (soyadı) und auf diese Weise trägt es eine mythologische Bedeutung. Aus diesem Grund sind Totems auch jedes für sich zeremonische Anbetungselemente.
Anhänger:innen beider Kulte, also Atatürks und Erdoğans, werden einen solchen Vergleich gewiss zornvoll zurückweisen. Gerade diese affektiv aufgeladene Zurückweisung unterstreicht aber, dass sowohl Somay als auch Kaynar damit einen wunden Punkt getroffen haben. Inwiefern der Tito-Kult nun mit anderen Personenkulten, oder auch, breiter gefasst, mit dem fruchtbaren Grund für revisionistische Texte und Bewegungen zu tun hat, bleibt besonders der Übersetzungsarbeit von Literaturwissenschaftler:innen, Historiker:innen und Sozialpsycholog:innen überlassen. Es wäre gut, wenn sie ihre Ergebnisse nicht für sich behielten.

Referenzen und weiterführende Literatur:
Kaynar, Mete H.: Totem, Tabu, Mustafa Kemal ve Atatürkçülük [Totem, Tabu, Mustafa Kemal und Atatürkismus], in: Bora, Tanıl und Murat Gültekingil (Hg.)(2009): Modern Türkiye’de Siyasi Düşünce. Cilt 9: Dönemler ve Zihniyetler. Istanbul: İletişim, S. 1089-1120.
Somay, Bülent (2014): The Psychopolitics of the Oriental Father: Between Omnipotence and Emasculation. Houndmills (UK)/New York: Palgrave Macmillan.
Somay, Bülent: The Undead Father: The ‚Epic‘ of 15 July as a Gothic Tale, in: Çiçekoğlu, Feride und Ömer
Turan (2019): The Dubious Case of a Failed Coup: Militarism, Masculinities, and 15 July
in Turkey. Singapore: Palgrave Macmillan, S. 141-167.