[NEOPOP] „Herausfinden, wo jetzt die eigene Verantwortung liegt“ (Grigori Judin)

Um zu erklären, wie ich zum Problem der selektiven Solidarität gelange — eine ziemlich ätzende Falle, vor der leider niemand sicher ist — muss ich zuerst ein wenig ausholen. Der Grund, warum ich mich gerade überhaupt so ausführlich mit Solidarität auseinandersetze, hat mit dem „roten Faden“ in meinem politischen Denken zu tun – wobei der Anfang dieses roten Fadens zwischendurch drohte, unreflektiert in den Erinnerungsregistern der Vergangenheit zu verstauben, um schlimmstenfalls später noch einmal verzerrt und verklärt zu werden. Es geht natürlich um die 1990er Jahre und die damaligen Kriege auf dem Balkan, die sich im Fall meiner Familie nicht nur „vor der Haustür“ abspielten (wie es so oft hieß), sondern die Türschwelle ungefragt überschritten haben; ohne, dass ich mich deshalb in irgendeiner Weise in eine „Opferrolle“ begeben möchte, was völlig falsch wäre und nicht meine Absicht ist. Es ist einfach nur die Zeit, in der ich elf, zwölf, 13, 14 und 15 war und „alles anfing“.

Über diese Zeit und das anschließende Coming of Age schreibe ich zur Zeit im Buch- und Blogprojekt Bosnien in Berlin, wo ich einen ersten Teil meines Essays bereits veröffentlicht habe (Duldungen, Abschiebungen und eine epochale Ungerechtigkeit des Schicksals: Lady Di ist tot). Und über die 1990er haben Kathrin Jurkat und ich auch Ende Januar eine Veranstaltung unter dem Titel Hat Europa weggeschaut? Solidarität mit Bosnien-Herzegowina 1992-1995 in Berlin organisiert – unter anderem mit Nicolas Moll aus Sarajevo, der soeben einen sehr gelungenen Artikel bei Balkan Insight veröffentlicht hat, in dem er sich mit der (begrenzten) Vergleichbarkeit der Kriege gegen die Ukraine und gegen Bosnien-Herzegowina beschäftigt hat. Außerdem wird es im Laufe des Jahres wohl noch eine ganze Serie von Veranstaltungen geben, die sich alle mit dem Thema Solidarität beschäftigen und an der mehrere Projektpartner beteiligt sein werden (ausführlicher dazu bald in einer separaten Ankündigung).

Es war aus mehreren Gründen höchste Zeit geworden, diese Phase endlich kritisch zu reflektieren und mit der Gegenwart (und vor allem mit der Zukunft) in einen Dialog zu bringen: wie ich im Inkubator Metamorφ wiederholt thematisiert habe – ohne zu einer befriedigenden Lösung zu gelangen – befinden wir uns heute Alle in einer Zeit, in der wir ohne eine kritische, reflektierte und vor allem solidarische Haltung nicht aus der Meta-Katastrophe des Klimawandels herausfinden können. Diese Meta-Katastrophe spielt sich als Serie mit oft mehreren verschiedenen, dabei oft gleichzeitigen Vorführungsorten in zahlreichen Sub-Katastrophen ab. In diesen Sub-Katastrophen geht es um Ressourcenfragen wie Energieversorgung, Wasser, habitables Land, menschliche und nicht-menschliche Sicherheit — auch wenn sich diese Konflikte freilich oft in identitäre Wortwahl und Kategorisierungen kleiden. Wir sehen diese Konflikte bereits jeden Tag an den verschiedensten bewohnten und unbewohnten Orten des Planeten. Und wenn wir einmal von Putins offensichtlichem Cäsarenwahnsinn und seiner irrlichternden, geschichtsrevisionistischen Mission Make Russia Great Again absehen – bestens bekannt auch von anderen Problemtypen wie Erdoğan oder dem Trash-Präsidenten Trump – lässt sich auch im Fall des atomar gerüsteten, russischen Rentierstaats die Meta-Ebene über diesem Konflikt erkennen. Auch dieser Krieg lässt sich – ähnlich wie der Syrienkrieg mit seiner vorangegangenen Brotpreiskrise – zumindest teilweise als Klimakrieg einstufen, sofern sich Klimakriege (als Sub-Katastrophen des großen katastrophischen Progresses) dadurch auszeichnen, dass ihr jeweiliger Streitwert in Energie- und Ressourcenfragen besteht. „Klima“ bedeutet bekanntlich nicht nur, dass es warm oder kalt wird.

Ich weiß nicht, was andere Menschen in meinem Umfeld dazu sagen, bei denen ich im Zuge all dessen – und die Effekte der Lockdowns der Pandemie kommen oft noch dazu – zunehmend eine Neigung zu Depression, Verzweiflung oder Ratlosigkeit beobachte. Mich jedenfalls hat das Bewusstsein, dass es an allen Ecken und Enden seit langem ganz falsch läuft, in eine tiefe — wenn auch kreative und suchende — Krise gestürzt. Diese Krise beinhaltet, immer noch nicht genau zu wissen, was jetzt zu tun ist.

In meinem Fall ist es in erster Linie eine berufliche Krise. Der akademische Arbeitsmarkt ist für unangepasste Menschen, die ärgerlicherweise dazu neigen, die kritische Methode ziemlich wörtlich zu nehmen, grundsätzlich alles Mögliche in Frage zu stellen und dem Drittmittelgeber nicht bei Antragstellung schon genau sagen können, zu welchem Zeitpunkt welches Buch auf dem Tisch liegen wird, noch abweisender, als er ohnehin ist. Meiner Meinung nach ist das Versagen des akademischen Feldes ein systemischer Schuss ins eigene Bein, der auf einem fatalen, ideologisch verwässerten Denkfehler beruht – und wofür ohne einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel, weit weg von neoliberalen Irrlichtern! – auch keine Lösung in Sicht ist. Meine Hoffnung hält sich insofern in Grenzen, als sich die Regenmacher des akademischen Betriebs völlig ironielos für „exzellent“ halten — und zwar ganz unverständlicherweise auch in den Sozial- und Geisteswissenschaften (in den MINT-Disziplinen habe ich seit einigen Jahren weniger Einblick und hoffe, dass es dort besser ist): der akademische Nachwuchs wird für eine begrenzte Zeit auch gnädigerweise mit „exzellenten“ Mitteln ausgestattet, wobei die dann zertifizierten und ausgebildeten Wissenschaftler:innen im Anschluss – und zwar ohne auch nur mit der Wimper zu zucken – vor die Schwelle des Jobcenters geworfen werden. Ausnahmen bestätigen die Regel: vor allem solche, die mit sozialem und kulturellem Kapital ohnehin reicher ausgestattet sind und seit jeher weniger leisten mussten, oder den gerade gefragten Etiketten aller Art entsprechen und dabei am besten noch nice schreiben können. Aber bitte die gängigen Feldregeln nicht in Frage stellen.

Keine Angst, ich komme gleich weg von diesem unschönen Thema der Verlotterung des wissenschaftlichen Felds, und ich verfalle auch bestimmt nicht in Selbstmitleid oder Gejammer; aber ich muss diese (nicht nur) berufliche Krise zunächst noch einmal gewinnbringend etwas eskalieren. Sie geht nämlich viel tiefer – da ich außerhalb dieses Feldes wenige Alternative für mich sehe: wie soll ich mich motivieren können, um in alternativen Branchen Fuß zu fassen (ein sehr beliebter Ratschlag lautet: „Und was, wenn du in die freie Wirtschaft gehst?“) – wenn all diese Branchen Teil des Problems sind, weil sie den katastrophischen Progress eigentlich nur weitersohen, und überdies noch weniger unangepasste Menschen gebrauchen können, die in vorfomatierte Lebensläufe zu passen haben? Damit kann und will ich nicht dienen.

Der russische Soziologe Grigori Judin wird hinsichtlich des Dilemmas, was jetzt zu tun ist – zumindest, wie ich es für mich verstehe – auf der gerade sehr wertvollen Seite Дekóder mit den folgenden Worten zitiert:

Das ist eine Frage ihrer Beziehung zu Gott. Wissen Sie, wir sind jetzt an einem Punkt, der bei allem, was daran einmalig ist, doch an die Ereignisse des 20. Jahrhunderts erinnert. Hannah Arendt hat dazu sehr richtig gesagt, dass es Zeiten gibt, in denen man sich eingestehen muss, dass man die Welt im Ganzen nicht ändern kann. Man muss herausfinden, wo jetzt die eigene Verantwortung liegt – was man tun muss, um weiter mit sich leben und in den Spiegel schauen zu können.

Quelle: Дekóder vom 3.3.2022

Zunächst einmal zu den Ereignissen des 20. Jahrhunderts: was meint er damit? – Judin, der laut Дekóder am 24. Februar bei einem Antikriegsprotest in Moskau zusammengeschlagen worden ist, spricht hier Parallelen zu den Jahren 1938 und 1939 an. Seine historischen Argumente verdienen natürlich eigene Vertiefung — aber ich sehe hier auch einen Hinweis auf die 90er Jahre des 20. Jahrhunderts: genau wie damals ist heute, nur ein gutes Vierteljahrhundert später und anlässlich der Ukraine-Invasion durch das Putin-Regime Russlands, erneut von einer Zeitenwende die Rede (zum Beispiel in einem aktuellen Veranstaltungstitel der Heinrich Böll Stiftung). Und ich bin mir sicher, dass in Zukunft noch deutlicher erkennbar wird, warum es sich dabei um eine sehr richtige Einstufung handelt.

Doch was mir an dem Zitat ebenso zu denken gibt, ist sein Hinweis auf Hannah Arendt und die Wichtigkeit, herauszufinden, wo jetzt die eigene Verantwortung liegt – ohne dabei an der Unmöglichkeit zu verzweifeln, die Welt im Ganzen nicht ändern zu können. Da dies zusammen mit der Gewissensfrage – um weiter mit sich leben und in den Spiegel schauen zu können – außerdem an buddhistische und andere spirituelle Lesarten von Altruismus anknüpft, wird vielleicht auch deutlicher, was er mit der Frage ihrer Beziehung zu Gott meint. Um es ohne „Gott“ zu formulieren – denn ich persönlich halte es mit dem Buddhismus und komme dadurch ohne Gott zurecht – und um stärker auf die gerade sehr aktuelle Frage des Gewissens und auch der Gewissensverweigerung umzulenken, verstehe ich persönlich Ver-Antwortung ganz wörtlich in einem wissenschaftlichen Sinn – und zwar völlig ungeachtet dessen, wie die neoliberale Wissenschaftlerei dazu stehen mag: es geht um die Suche nach brauchbaren, erprobten Antworten auf relevante und höchstdringliche Fragen unserer Zeit.

Љубав а не рат / Liebe anstatt Krieg: Nach einem Motiv von ŠkartArt Mostar, Bildquelle: Thomas Schad.

Ich bin natürlich weder der erste noch ein einzelner, der den Weg zur Frage nach der Ver-Antwortung angetreten ist: das Netz und andere Medien sind gerade voll der Versuche, Antworten zu finden, was ich erfreulich finde. Es bedeutet, dass sich viele Leute ernsthaft Gedanken machen, Dinge in Frage stellen, andere befragen, Übersetzungen anfertigen, zur Verfügung stellen und teilen. Und dann wäre da noch die ganz konkrete Solidarität, die natürlich auch missglücken kann, aber doch insgesamt sehr aufbauend wirkt. Ich habe mich entschieden, lieber in kleinen Portionen und kürzeren Beiträgen zu schreiben, um auch die immer neuen Beiträge zur Frage, was zu tun ist, einbeziehen zu können. Ich gehe dabei auch in den folgenden Beiträgen folgenden Fragen nach: Was kann durch Solidarität erreicht werden? Was kann Solidarität nicht? Was können die Folgen sein, wenn keine Solidarität entsteht, und stattdessen Indifferenz und Desinteresse eintreten? Was wäre unter falscher Solidarität zu verstehen? Und was mich am meisten beschäftigt: warum ist selektive Solidarität eigentlich so problematisch? Diese Fragen mögen weniger relevant erscheinen als alle lauten Rufe nach Waffenlieferungen an die Ukraine, Boykotte, Sanktionen und „konkreten“ Schritte. Ich bin davon überzeugt, dass gerade Indifferenz etwas sehr gefährliches ist und auch bei der Wahnsinnigwerdung Putins eine große Rolle gespielt hat. Aber dazu dann im nächsten Beitrag.

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