In diesem zweiten Teil des Beitrags Zur digitalen Souveränität und Zukunftsmündigkeit unserer Alten: ein paar letzte Gedanken des Jahres zu den häufigsten Weihnachtsgeschenken diskutiere ich das problematische Fortwirken wiederholter Fehl- und Nicht-Investitionen in die digitale Infrastruktur, wobei ich mich besonders für den Aspekt der Wissensvermittlung und -Verknappung durch traditionelle, vorrevolutionäre Bildungssysteme interessiere. Da Ältere in aller Regel weder Schulunterricht mit repetitiven Trainingseinheiten noch Universitäten besuchen, sind sie trotz genereller Zugänglichkeit zu Wissen tatsächlich viel stärker von subtiler Wissensverknappung betroffen als Jüngere. Die Folgen sind Überforderung, Unbehagen und Flucht in anheimelnde Pseudo-Wirklichkeiten — mit Folgen für die gesamte Gesellschaft.
Dass die digitale Infrastruktur in Deutschland bis heute noch mit Fehlentscheidungen der 1980er und 1990er Jahre zu kämpfen hat, muss ich hier nicht im Detail ausbreiten und erörtern, da diese Problematik in Deutschland weithin bekannt ist. Zuletzt hat Ende Oktober 2021 Ingo Dachwitz auf Netzpolitik.org in einer netzpolitischen Bilanz die „verschenkten Jahre“ der Ära Merkel noch einmal ausführlich Revue passieren lassen. Ich finde es besonders hevorhebenswert, dass der Autor den Begriff Interregnum verwendet und von einer epochalen Wendezeit schreibt, weil sich auch mir dieser von Antonio Gramsci kommende (und von Zygmunt Bauman aufgegriffene) Begriff bereits vielfach als passende Charakterisierung unserer Zeit bzw. des Zeitgeists aufgedrängt hat:
Als Angela Merkel 2005 Kanzlerin wurde, gab es weder Smartphones noch Social Media in ihrer heutigen Form. Man kann es aufgrund ihrer sedierenden Rhetorik leicht vergessen, aber die Regierungsjahre der CDU-Politikerin fallen in eine Phase massiver Umbrüche. Der Soziologe Zygmunt Bauman beschreibt unsere Gegenwart als Zeit des Interregnums: Die alte gesellschaftliche Ordnung ist für alle erkennbar abgelöst, doch eine neue ist noch nicht in Kraft. Diese Zeitenwende von epochalem Ausmaß hat nicht nur, aber auch mit der Digitalisierung zu tun. Vernetzung, Datafizierung, Automatisierung und der vereinfachte Zugang zu Wissen und Diskursen – die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte verändern unsere Welt von Grund auf.
Diesen Wandel zu gestalten gilt als eine der größten Herausforderungen des frühen 21. Jahrhunderts. Und Angela Merkel, auch darin sind sich die meisten Beobachter:innen dieser Tage einig, ist daran gescheitert. Jahr für Jahr sorgt die schlechte Platzierung Deutschlands in internationalen Rankings zur Digitalisierung für Schlagzeilen. Wie ernst es um den digitalen Fortschritt im Land steht, haben zwischen faxenden Gesundheitsämtern und Schulen ohne Mailadresse spätestens in der Corona-Pandemie viele Menschen erfahren müssen.1
Ingo Dachwitz: Verschenkte Jahre: Netzpolitische Bilanz der Ära Merkel, in: Netzpolitik.org vom 29.10.2021.
Es ist treffend, unsere Zeit eine „Zeitenwende von epochalem Ausmaß“ zu nennen: neben der rasanten Entwicklung immer neuer Technologien, die noch vor wenigen Jahrzehnten utopisch hätten erscheinen müssen und das alte Neu immerfort zu (problematischem) Technoschrott degradieren, muss jede Zukunftsprojektion vor dem Hintergrund der progressiven Meta-Katastrophe des menschlich eingeleiteten Klimawandels vorgenommen werden. Den von Menschenhand propellierten Klimawandel bezeichne ich als Meta-Katastrope, weil sich diese sowohl merklich, als auch unmerklich permanent im Hintergrund entfaltet. Dadurch bildet sie den Rahmen bzw. die Meta-Ebene für andere Sub-Katastrophen. Zu letzteren gehört auch die Covid19-Pandemie, sofern sie als Zoonose auf interspezifische Kontakte zurückgeht, die in engem Zusammenhang mit der Bedrängnis und Zerstörung der nichtmenschlichen Biosphäre steht.


Wir befinden uns mitten in einer Revolution, weshalb ich es auch für angebracht halte, sich dies sprachlich bewusst zu machen. Erst mit diesem Bewusstsein über die Notwendigkeiten einer immer schneller in die katastrophische Zukunft fliehenden Gegenwart können Wege der Wissensvermittlung gefunden werden, die sich unterscheiden von den vorrevolutionären Bildungsinstitutionen, die einen großen Teil der Bevölkerung ausschließen. Denn es ist zwar richtig, wie Ingo Dachwitz oben schreibt, dass die Zugänge zu Wissen erheblich vereinfacht sind: dennoch findet subtiler Ausschluss von der praktischen Teilhabe an der Nutzung und am tieferen Verständnis digitaler Technologie weiterhin statt, und zwar insbesondere für Menschen ohne höheren Bildungshintergrund. Nur, wenn es gelingt, viel mehr Menschen praktisch und aufsuchend zu erreichen, kann verhindert werden, dass weite Teile der Gesellschaft mit sich selbst und dem unzugänglichen Weltwissen überfordert sind und aus der Unbehaglichkeit der Wirklichkeit entfliehen. Rund um diesen Zustand des Unbehagens entfaltet der Soziologe Armin Nassehi seine Theorie der überforderten Gesellschaft, die eigentlich ein Paradox ist. Nassehi fragt:
Wie können die Menschen, kann die Menschheit, kann die Gesellschaft so viel Leid und Problematisches zulassen, während sie die Mittel dagegen doch in der Hand zu halten scheint? Warum streben die Handelnden, obwohl sie doch die Mittel dazu hätten, nicht nach dem summum bonum, das alle besserstellen und Lösungen wahrscheinlicher machen würde?2
https://www.deutschlandfunk.de/ueberforderte-gesellschaft-armin-nassehi-erklaert-warum-wir-100.html
Die neoliberale Zwangsvorstellung, alle Herausforderungen ließen sich nur auf der individuellen Ebene lösen, die in Thatcher’s berühmt-berüchtigter Phrase „There is no such thing as society“ gipfelte, beunwahrheitet sich spätestens dann, wenn Krisen und Katastrophen sichtbar und spürbar sind, die sich auf ein Kollektiv auswirken (z.B. alle Einwohner:innen des Ahrtals im Sommer 2021):
Erst in Situationen, die wie (kollektive) Krisen aussehen, […] werden die strukturell bedingten Zielkonflikte und Überforderungen sichtbar, erst hier wird deutlich, wie wenig ‚die Gesellschaft‘ aus der Perspektive des politischen Systems erreichbar und steuerbar ist, erst hier wird sichtbar, wie brutal die Selbstbeschränkung auf die je eigene Logik wirkt, erst hier wird sichtbar, dass die Leistungsfähigkeit einer funktional differenzierten Gesellschaft zugleich die Quelle ihrer eigenen Überforderung ist.3
https://www.deutschlandfunk.de/ueberforderte-gesellschaft-armin-nassehi-erklaert-warum-wir-100.html
Die Versäumnisse der Digitalisierung bestehen nicht so sehr darin, dass die hervorgebrachte Technologie neben all ihren problematischen Aspekten nicht imstande wäre, die bestehenden, vor allem aber die noch bevorstehenden Probleme nie dagewesener Ausmaße lösbar zu machen: Das Versäumnis liegt in erster Linie darin, Wissen und Wissensvermittlung über nicht geschaffene Bildungskanäle weiterhin zu verknappen. Die zu beobachtende, nachweislich falsche und irrationale Wirklichkeitsflucht zahlreicher Klima- oder Corona-Leugner:innen mit begriffllichen Mogelpackungen erklären zu wollen – wie zum Beispiel über den gerade in den Online-Werbeplattformen kursierenden Dunning-Kruger-Effekt, der in diesem Zusammenhang nicht viel mehr als einen Euphemismus für schiere Dummheit darstellt – halte ich für zynisch und verantwortungslos.

Es sollte vielmehr zusammen gedacht werden, was zusammen gehört: die neoliberale Ideologie der radikalen Eigenverantwortung des Individuums und der de facto bestehende Zusammenhang mit dem nicht wissen Können des Individuums und seiner daraus resultierenden Überforderung. Aus dieser Lage der Überforderung wird die Flucht in stark vereinfachte, aus der Vergangenheit bekannte und gewissermaßen „verlässliche“ Deutungen von (Pseudo-)Wirklichkeit angetreten. Diese Fluchten suggerieren das Gegenteil von Unbehagen — indem sie anheimeln. Solange das traditionelle Bildungssystem für Kinder und Adolezente, das aus vorrevolutionärer Zeit stammt, das einzige funktionierende, flächendeckende System der Wissensvermittlung ist, wo tatsächlich intensiv und verbindlich gelernt und repetitiv trainiert werden kann, muss das Individuum – besonders das „bildungsferne“ – an der Komplexität des Wissensstandes weiterhin scheitern. Durch die Gängelung nicht-freier Softwares, unzugänglicher Codes und alle weiteren Effekte der digitalen Halbsprachigkeit und Unmündigkeit, die in den beiden Folgekapiteln genauer unter die Lupe genommen werden sollen, ergeben sich nicht zu unterschätzende Gefahren für die freiheitlich-demokratische Ordnung mit ihren starken plebiszitären Elementen. Es steht also viel mehr auf dem Spiel als das persönliche (Un-)Behagen des Individuums.
Fußnoten
1 Ingo Dachwitz: Verschenkte Jahre: Netzpolitische Bilanz der Ära Merkel, in: Netzpolitik.org vom 29.10.2021.
2 https://www.deutschlandfunk.de/ueberforderte-gesellschaft-armin-nassehi-erklaert-warum-wir-100.html
3 https://www.deutschlandfunk.de/ueberforderte-gesellschaft-armin-nassehi-erklaert-warum-wir-100.html
Cover-Bild: The Opte Project, Internet map 1024, CC BY 2.5