Zusammenfassung
Welche Probleme gibt es auf dem Weg zur digitalen Mündigkeit und Souveränität vor allem älterer Bürger:innen im ländlichen Raum, die keinen direkten Anschluss an die institutionalisierte Bildungsvermittlung der Schulen haben? Wie hängen diese Fragen mit dem weiteren Generationenkonflikt und dem anthropogenen Klimawandel zusammen? Welche Lösungen auf dem Weg zu einer digital souveräneren, zukunftszugewandten Gesellschaft wären denkbar? Um diese und weitere Fragen, die sich mir ganz wörtlich beim Auspacken der Geschenke unter dem Weihnachtsbaum aufgedrängt haben, geht es in dieser Blogpost-Serie. An Stelle eines Jahresrückblicks – quasi als Versuch des engagierten Blicks in Richtung Zukunft – blogge ich diesen Essay zunächst in sieben Einzelteilen, um ihn im Anschluss noch auf meiner gerade neu entstehenden Seite Neopopulismus weiterzuverarbeiten. Nach der Einleitung (1) werde ich die Probleme der digitalen Infrastruktur mit Blick auf die Wissensvermittlung und -Verknappung durch traditionelle Bildungssysteme diskutieren, wovon tatsächlich mehr Alte als Junge betroffen sind (2). Im Anschluss analysiere ich den Generationenkonflikt zwischen tendenziell besser digital alphabetisierten, mündigeren Jungen einerseits und digital unmündigeren Alten andererseits – der analog zur Vorstellung der angeblich verantwortungsloseren, vergangenheitsverhafteteren Alten und zukunftsbesorgteren, verantwortungsvolleren Jungen im Kontext der Meta-Katastrophe des Klimawandels verläuft (3). Die gemeinsame Herausforderung der in allen Altersgruppen weit verbreiteten „digitalen Halbsprachigkeit“ diskutiere ich im dritten Teil genauer (4), um daran anschließend den scheinbaren Königsweg zur Lösung – nämlich die Forderung nach lebenslangem Lernen in der Wissensgesellschaft – kritisch zu diskutieren (5). Abschließend werde ich einige bestehende Initiativen und Lösungsideen präsentieren (6), aber auch versuchen, einige zusätzliche, eigene Vorschläge zu formulieren und zur weiteren Diskussion zu stellen (7).
Einleitung
Dieser Tage war wieder einmal viel darüber zu lesen, wie anstrengend es sein könne, über Weihnachten älteren Familienangehörigen die Einstellung und Bedienung neuer Geräte mit digitaler Technik erklären zu „müssen“. Bei uns wurden in diesem Jahr unter anderem eine Smartwatch und ein Tablet verschenkt: einmal ausgepackt, hatten die Beschenkten zwar schöne, Bronze glänzende Endgeräte vor sich. Doch was sind diese Schmuckstücke in der Praxis schon wert, wenn die Kopplung mit dem Smartphone oder das Einrichten des Browsers mit den Lieblingslesezeichen schwer lösbare Hindernisse darstellen? Im Idealfall einer „digital souveränen Gesellschaft“ wären alle Nutzer:innen gleichermaßen imstande, die gängige Technologie zu bedienen, oder sich immerhin selbst den Weg dorthin zu bahnen. Da dieser Idealzustand längst nicht erreicht ist, sind meine Schwester und ich eingesprungen. Ich fand das übrigens gar nicht anstrengend. Trotzdem habe ich es zum Anlass genommen, mich mit diesem Thema etwas ausführlicher auseinanderzusetzen.
Ähnliche Schenkszenarien werden sich in diesem Jahr in millionenfachen Ritualen der Gabe im Kontext des hochkapitalistischen Potlatschs rund um die geschmückten und beleuchteten Weihnachtsbäume abgespielt haben: hochkomplexe Endgeräte mit ausgefeilter Digitaltechnik werden auch dann verschenkt, wenn die Nutzer:innen (die Beschenkten) nur bedingt über den nötigen Wissenszugang um die Bedienung und Funktionsweise verfügen. Die Folge ist, dass – zumindest oberflächlich betrachtet – niemand hinterher hinkt, wenn es um die Frage des ausgestattet Seins mit neuer Technologie geht. Die Frage der digitalen Souveränität hingegen – also der selbständigen Beherrschung und Bedienung der Technologie, sowie ihre Einbettung in die dafür notwendige Infrastruktur des Wissens(-Erwerbs) – ist auf einem ganz anderen Blatt skizziert. Ich stelle mir die Frage, wie meine Elterngeneration eigentlich zurecht kommt, wenn gerade niemand zu Besuch ist – oder die/der ehrenamtlich engagierte Helfer:in einmal keine Zeit hat.
Worauf ich in diesem Beitrag hinaus möchte, sind drei Probleme, die sich durch den Ist-Stand der allgemeinen Digitalisierung sowie der (mangelnden) digitalen Souveränität ergeben: Erstens, das fortwirkende Problem der Fehl- bzw. Nicht-Investitionen in (falsche) digitale Infrastrukturen, worunter ich nicht nur Bandbreiten, Leitungen, Sendemasten und Hardware im weitesten Sinne, sondern auch die unabdingbare Struktur zur Wissensvermittlung verstehe. Zweitens fällt in diesem Zusammenhang das für die gesamte Gesellschaft relevante Problem der ungleich verteilten digitalen Souveränität bzw. Mündigkeit zwischen den Generationen ins Auge, wobei in diesem Zusammenhang (wie eingangs skizziert) besonders oft die Rolle der Älteren problematisiert wird. Drittens schließlich verdient die leicht zu übersehende Problematik der angeblichen digitalen Kompetenz der Jüngeren oder sogenannten Digital Natives Beachtung, die sich bei genauerer Betrachtung jedoch oft als digitale Halbsprachigkeit entpuppt. Diese Probleme werden in folgendem Zitat von der Seite Innovators Club abgebildet bzw. angedeutet, welches sich wiederum auf die Bertelsmann-Studie Digital souverän? – Kompetenzen für ein selbstbestimmtes Leben im Alter aus dem Jahr 2019 bezieht:
Digital souverän zu sein und zu bleiben ist nicht nur für die älteren Bevölkerungsgruppen, sondern für die gesamte Gesellschaft eine ständige Herausforderung. Die Innovationsgeschwindigkeit im digitalen Zeitalter steigt exponentiell und es ist nur in Ansätzen vorhersehbar, mit welchen Themen wir uns technologisch in den kommenden Jahrzehnten auseinandersetzen werden. Dass hier alle Bürger:innen digital derart fit bleiben, dass sie souverän digitale Entscheidungen treffen können, ist eine Herausforderung für die gesamte Gesellschaft.
In beruflichen und privaten Belangen wird es immer wichtiger, mit Online-Angeboten adäquat umgehen zu können. Nicht nur Kommunen, sondern auch viele Services des Alltages, wie beispielsweise die Angebote der Banken, werden zunehmend digitaler. Hier ist es entscheidend, dass alle Generationen gleichermaßen nicht den Anschluss verlieren bzw. diesen erstmal gewinnen.
Die Autor:innen der Bertelsmanns Publikation „Digital souverän? – Kompetenzen für ein selbstbestimmtes Leben im Alter“ verweisen auf das Beispiel Finnland. In Finnland wird mit Hilfe einer Allianz aus Wissenschaft, Politik und Wirtschaft daran gearbeitet, die gesamte Bevölkerung digital fit zu machen. In einem Pakt für eine neue digitale Alphabetisierung ist es das Ziel, jede:n Bürger:in digital mündig zu machen.
Quelle: Homepage Innovators Club (zuletzt abgerufen: 28.12.2021).
In den folgenden Abschnitten will ich die hier nur kurz skizzierten Probleme vertiefter betrachten und besonderen Wert auf die meines Erachtens vernachlässigten Aspekte legen. Im Bereich der digitalen Infrastruktur betrifft dies hauptsächlich die fehlenden Kanäle der Wissensvermittlung und die Frage, wie diese Transferleistung jenseits der individuellen Verantwortung zu gewährleisten wäre: welches denkbare Pendant zur finnischen Allianz aus Wissenschaft, Politik und Wirtschaft gibt es in Deutschland, und dort besonders auf kommunaler Ebene in ländlichen Räumen? Das zweite Problemfeld, nämlich das Gefälle der unterschiedlichen digitalen Mündigkeit bzw. Souveränität zwischen den Alterskohorten berührt einen ernsthaften Generationenkonflikt, der außerdem mit demographischen Herausforderungen einhergeht. Das dritte Problem, die verbreitete digitale Halbsprachigkeit – die keineswegs in erster Linie ein Problem der Älteren ist – muss zuerst einmal begrifflich genauer geklärt werden, um anschließend die potenziellen Auswirkungen auf die Gestaltung des politischen Gemeinwesens der Gegenwart sowie auf die Zukunft der Demokratie insgesamt darzustellen.
All diese Probleme, die oft als besonders folgenreich für den ohnehin strukturschwächeren, ländlichen Raum beschrieben worden sind, haben unterschiedliche Studien und Interessengruppen hervorgebracht, die hier bereits teilweise genannt worden sind. Ausgehend von den Empfehlungen und Ergebnissen der Studien der Bertelsmann Stiftung zur Digitalisierung und zum ländlichen Raum aus 2017 und 2019 sowie den auf dem Portal Innovators Club präsentierten Initiativen und Ideen für den ländlichen Raum will ich einen zentralen Begriff der sogenannten Wissensgesellschaft kritisch diskutieren: die oft formulierte Forderung nach lebenslangem Lernen (bzw. lifelong learning), die in ganz unterschiedlichen Segmenten der Erwachsenenbildung inzwischen zu einem Gemeinplatz geworden ist. Ich werde argumentieren, dass eine Abkehr von der nach wie vor (und besonders unter den Älteren) weit verbreiteten Vorstellung des klassischen „europäischen Bildungsromans“ unbedingt aufzugeben ist: demnach endet die Ausbildungsphase mit dem Eintritt in das Arbeitsleben angeblich. Diese überholte Vorstellung muss quasi zwangsläufig zu Frustration, Resignation und Ausschluss führen, was für niemanden in der Gesellschaft von Vorteil sein kann – und am allerwenigsten für die Betroffenen selbst, die sich ungeachtet ihrer Haltung zu Bildung mit der fortschreitenden Digitalisierung ihrer alltäglichen Lebenswelt konfrontiert sehen.
Andererseits werde ich in diesem Zusammenhang aber auch einige Tücken diskutieren, die aus einer verkürzten, neoliberalen Auffassung von der zur moralisch-ethischen, individuellen Pflicht verklärten, ewigen Weiterbildung resultieren:die ideologisierte Absicht, dass es nicht in erster Linie eine gesamtgesellschaftliche, politische Aufgabe sei, allen Gesellschaftsgruppen ungeachtet ihres Alters, ihrer persönlichen Affinitäten oder anderer Eigenschaften Weiterbildung im Sinne des lebenslangen Lernens zu ermöglichen, trägt ihren Anteil an einem herrschenden Zustand, der aus jahrzehntelanger Vernachlässigung resultiert. In einem solchen Umfeld de facto fehlender Weiterbildungsinfrastruktur lastet die Verantwortung der Wissensgesellschaft auf den Schultern der Individuen der „überforderten Gesellschaft“1. Ergänzt um einige Beispiele aus meinen unmittelbaren Gesprächen und Beobachtungen im ländlichen Raum Unterfrankens sowie der dort bestehenden Initiativen zur (Sozial-)Raumsanierung will ich ein paar Vorschläge zur Diskussion stellen, wie konkrete Maßnahmen unternommen werden könnten, um insbesondere digital abgehängte, zumeist ältere Mitglieder der Gesellschaft auf dem Weg zur digitalen Mündigkeit und Souveränität zu unterstützen.
Fußnoten
1 Vgl. Nassehi, Armin (2021): Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft. C.H. Beck Verlag.
Cover-Bild: Bundesarchiv Bild 102-01154, Reichstag, Amtseinführung Walter Simons, CC BY-SA 3.0 DE
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