Das Jahr endet mit einem rite de voyage: Kurz vor den Hochfesten fahren die Leute durchs Land. Es wird Weihnachten, und da fährst auch du ins Francorum. Natürlich war mit einer Bahnverspätung um 30 Minuten locker zu rechnen: geschenkt. Wir bitten um Entschuldigung, sagt die Bahn. Danke, das Ticket hat 90 Euro gekostet, denkt sich der Kunde. Aber noch ist dir das völlig egal. Inzwischen schaffen sie es, ihre Verspätungen per Email anzukündigen. Draußen herrscht heute eitel Sonnenschein — am zweitkürzesten Tag des Jahres ist das besonders wertvoll. So kannst du noch kurz über die Hermannova flanieren — mit Rollkoffer, wie das Leute so tun, die vor Weihnachten zum Bahnhof müssen. Dann bist du am Südkreuz: warten, Handy-Touchpad, Coffee to go, rumstehen, glotzen. Ein alter Professor aus Leipzig mit FFP2-Maske, Lodenmantel und Baskenmütze stellt sich vor dich. Ausgerechnet vor dich: als seist du zuständig für alte Professoren, und du weißt gleich: da kommst du nicht mehr raus. Er blickt hilflos: Er hat die Durchsage nicht verstanden, bittet um Entschuldigung und Klärung. Ich kläre, er lässt seinem Zorn Bahn brechen. Du sagst Ja, es ist ärgerlich, und das Ticket hat 90 Euro gekostet.
Der Zug kommt, die Wagenreihung kommt falsch. Die Menschen — seit Generationen von ihren Instinkten verlassen — stopfen sich zu Trauben. Dann schreit ein rotes Piepsen. Die Türen schließen sich, steril wie die Deckel von Tupperschachteln. Weihnachten rollt los, aber drinnen klemmen die Rollkoffer. Irgendwo ab Lutherstadt sitzt du schließlich im Ruheabteil — wo du vorher länger stehend in der inneren Traube verbracht hattest. Dazwischen bist du mit zwei mitreisenden Silberzwiebeln hintereinander geraten: Maskenfrevel. Haben andere Mitreisende vollgeschnauft. Alle stört es — keiner sagt was. Klar: dafür kannst du in Coronazeiten bekanntlich auch erschossen werden. Du bist not everybody’s darling, fühlst dich wieder einmal ters. Bist halt zuständig.
Du hast dich jetzt an die Nummer 104 gesetzt. Von deinen Transferleistungen hattest du dir eine Sitzplatzreservierung am Fenster geleistet. Markus Söder, der fränkische Baumfreund, hat vor kurzem ein Foto von einem Gänsbraten mit drei klein geratenen Klößen gepostet: für ihn gehöre der Gänsbraten zur Vorweihnachtszeit einfach dazu. Da kennt sich aber einer mit den Traditionen aus, frötzelt die adventliche Fastenzeit.
Was für den CSU-Mann der Gänsbraten — das für dich die Sitzplatzreservierung im ICE. 4,00 Euro für die Zweite Klasse — for what, you don’t know. Dieser ist mit einem Tisch am Fenster ohne Fenster ausgestattet, wo du also sitzt und PDFs hackst. Es war ja von langer Hand geplant, an einem solchen Tisch der Selbstausbeutung weiter nachzugehen. Eine Tätigkeit für sich: sie passt nicht ganz in die Kategorie Erwerbsarbeit, obwohl sie mit letzterer doch gewisse Ähnlichkeiten verbinden. Gewisse Verbindlichkeiten. Gewisse Selbstkasteiungen, könnte man vielleicht auch sagen. Mit Sicherheit hast du dich jedoch zu selbstdisziplinieren: du sollst jetzt nicht in deine Tasche greifen, zum neuen Buch mit schwarzem Hochglanzeinband. Darin geht es um nichts anderes als diese Tätigkeiten. Du willst jetzt aber lieber verbindlich sein. Du beherrschst dich. Du denkst an die territorial pissings, mit denen die anderen so gut fahren. Du zwingst dich in die Gegend der hochgelobten Hands-on-Mentalität.


Die Zugverspätung war übrigens mit Reparaturarbeiten begründet worden. Jetzt, nachdem du einige deiner Jahresendaufgaben erledigen konntest, musst du dich hier am Laptop aber beeilen. Zum einen sind wir schon im Francorum: in fehlgereihten Tupperschachteln gleiten wir zwischen Kloster Banz und Basilika Vierzehnheiligen durch den sogenannten Gottesgarten, nach Bamberg. Was für Vorstellungen die Leute früher hatten: bis heute nennen sie den alten Zonenrand in der Nähe die Heiligen Länder. Du musst dich am Laptop beeilen, denn zum anderen ist die Steckdose an deinem Fensterplatz kaputt. So war des fei ned ausgemachd, wie sie im Francorum sagen.
Ja: Das alles ist natürlich Jammern auf hohem Niveau. Das würde zum Beispiel meine Freundin J. aus Sarajevo sagen, an die ich wirklich immer denke, wenn ich — ganz deutsch — über die Deutsche Bahn meckere. Es ist durchaus vorstellbar, dass ein staatliches Bahnunternehmen Züge aus dem Ausland bestellt, aber versehentlich vergisst, für die richtige Spurweite zu bestellen. Huch, kommt vor. Hier, auf hohem Niveau, gibt es diese glorreiche Erfindung der Bahncard, die ich inzwischen zutiefst verabscheue. Bahncards trug ich jahrelang wie eine lästige, chronische, wenn auch harmlose Krankheit mit mir herum — obwohl dann Bus fahren doch immer viel preiswerter war. Und die Fernbusse konnten viel früher Internet. Diese ach so tollen, ökonomischen Plastikkarten verlängern sich nämlich jährlich automatisch von selbst. Weh‘ der Kunde vergisst, sie rechtzeitig abzubestellen.
Vorhin, irgendwo bei Erfurt, näherte sich dann die Kreissäge: die gestrenge Fahrkartenkontrolle. Diese wurde ungefähr so anmoderiert — denn heute ist alles immer eine Art Casting:
Kann es sein, dass Sie noch gar nicht eingecheckt sind?
In deiner Sichtweite heftet sich die Kreissäge zuerst an eine ziemlich alte Dame. Vielleicht kommt sie gerade irgendwem zu Besuch — kleiner Tipp: ich wäre lieber vorsichtig! Die alte Dame zu Besuch checkt das nicht sofort. Sie kramt, sie hantiert, sie hätte ihre Corona-App im Angebot. Diese findet sie ganz stolz auf ihrem Smartphone. Während sie so tut, erzählt sie der interessierten Sitzlehne erquicklich, wie sie jetzt mit diesem Ding zurechtkommt. Anfangs ist die junge Kreissäge noch gelb und freundlich — schon fern von herzlich. Nachdem die alte Dame weitere 23 Sekunden ins Kramen gerät, schägt die Säge andere Saiten auf. Sie wird falscher, verstimmter, herrischer. Jetzt herrscht Scheißfreundlichkeit. Die Kreissäge legt sich jetzt den Bass des Bohrers bei. Ihr Sound wird bald tiefer; bald hammerhaft, bald stumpf. Ihr Will tüpfelt zwar noch hell und gelb, doch ihre Worte rumpeln jetzt bedrohlich durch den fehlgereihten Wagen:
Ich will doch nur die Faaaaah-kaaaaaa-täää sehen.
Bestimmt wird die alte Dame etwas dumm sein — wird sich die junge Säge denken, die nun zur verängstigten Sitzlehne sagt, dass sie das jetzt nicht so recht glaubt und auch eigentlich schnell weiter muss. Nicht nur du richtest jetzt deinen Blick auf die Kreissäge. Der ganze, falsch gereihte Wagen weiß: da kommt bestimmt noch was dazu.
Die Bahncard bringt euch Unglück, denkst du dir, als ihr Scanner hinter der alten Dame ein glückliches Heteropärchen mit Bahncard fixiert. Die zottelige junge Frau hat alles richtig gemacht. Der glattrasierte Kerl aber hat es total verkackt: ihm hat sich die Bahncard automatisch von selbst verlängert. Die alte ist abgelaufen, die neue habe er jetzt aber nicht dabei. Irgendwas ist kompliziert an der automatischen Verlängerung, irgendwas läuft nicht nach Plan. Das Geräusch der Säge springt zwischen gelben Is zu hämmrigen As; dunkle Abers takten ihr zornvolles Stakkato. Aaaabar Sie bekommen dann in jedem Fall automatisch eine vorläufige Bahncard zugeschickt — abert die Kreissäge; Ja, aber halt nicht an diese Adresse — abert der Kerl dagegen an. Verzweifelt starrt er zur nun gleichgültigen Sitzlehne. Sie abern und schachern in einem fort um die Zahlungsbestätigung, die der Kerl übers Smartphone aus dem Weh‘, weh‘, weh‘ zu fischen versucht. Die Kreissäge werde sich das noch einmal genau anschauen, müsse aber vorher noch mal wo hin. Sie kommt rasch zurück, der Thüringer Wald zieht boreal vorbei, sie hat irgendwas überprüft. Wir sind ansonsten immer kulant, hackt die Säge in Richtung der Randfichten.
Das hier ist das Ruheabteil,
platzt es schließlich aus Not everybody’s darling heraus, denn er ist not amused. Selbst das unbarmherzige PDF erschrickt und verrutscht, während der polternde Ruprecht weiterrichtet.
Wir bitten um Entschuldigung — aber die Bahn kommt dreißig Minuten zu spät,
abert er laut zum Fenster. Die Stimmung kippt. Die Stimme ist jetzt gespannt wie eine Laubsäge — hat sie den Bogen überspannt? Das Gelb wird noch einmal kurz Neon. Es sind jetzt nicht mehr nur die Blicke und die Sitzlehnen: jetzt wenden sich Hälse. Als nächstes castet die Säge die zweite alte Dame, die sich vorher noch vornehm und hanseatisch mit einer Enkelin unterhalten hatte. Die Alte macht sich ganz greis: Sie fingiert Verwirrung. Endloses Wühlen in den Taschen. Dazwischen hanseatische Formeln. Zittrig reicht sie ihre Karte an die Säge. Sie beschließt mit einer Bitte: Ach seien Sie doch so gut, Sie junge Frau. Bringen Sie mir doch bitte einen Kaffee. Mit Milch, aber bitte ohne Zucker.
Die Kreissäge flieht aus dem Abteil.
Schadenfroh zwinkert die Alte herüber.
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