Dieser Kommentar entsteht als Echo auf einen Beitrag unter dem Titel Serbia’s War on Free Media is Moving to ‚Street Level‘ des Journalisten Milenko Vasovic, veröffentlicht auf Balkan Insight am 30.11.2021. Darin wird eine progressive Entwicklung der direkten, immer brutaleren Unterdrückung der Presse beschrieben, die unter dem Regime des derzeitigen serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić eine unerreichte Vehemenz erreicht habe. Diese zeichne sich laut Autor dadurch aus, dass nicht nur der staatliche Apparat des Regimes an dieser Unterdrückung der Presse arbeite, sondern auch parastaatliche Formationen, wie zum Beispiel die sogenannten „Volkspatrouillen“ (narodne patrole). Diese „beschützen“ beispielsweise das umkämpfte Mural des Kriegsverbrechers Ratko Mladić und sind mir bei meinem letzten Besuch in Belgrad (15. – 18. November 2021) auch schon persönlich begegnet, als ich Aufnahmen machte: sie riefen mir beim fotografieren in den Rücken, „Er ist der schönste“ / „On je najlepši“.

Die gerade (nicht nur) in Serbien zu beobachtende, illiberale Zuspitzung, die nicht umsonst tief in der Mobilisierung geschichtlichen Revisionismus‘ der übelsten Sorte wurzelt (hier Genozidleugnung), ist natürlich nicht aus dem Nichts heraus plötzlich entstanden. Und natürlich entwickelt sich die serbische Dynamik nicht in einem abgeschlossenen, nationalstaatlichen Vakuum, ohne Interaktion mit Ländern der Europäischen Union, China, Russland, und natürlich der Nachbarländer — darunter Bosnien-Herzegowinas, wo der Völkermord stattfand (in diesem Beitrag wäre besonders noch einmal die Interdependenz mit Chinas illiberalem Einfluss am Beispiel der Linglong-Fabrik in Zrenjanin nachzugehen). Aus Sicht liberaler ausländischer Akteure — und ich meine nicht neoliberale, sondern demokratisch-freiheitlich gesinnte Akteure — die in dieser Dynamik eine gewisse Rolle spielen, muss oder sollte doch eigentlich klar gewesen sein, dass aus der Unterstützung eines illiberalen Regimes — ob durch Unterlassung, ob durch direkte Unterstützung, ob durch indirekte ‚facilitation‘ — ein immer „stärkeres“, zumindest immer illiberaleres Regime erwachsen würde.
Grundsätzlich perspektivlosen, zukunftsabgewandten und auch anachronistischen — wenn auch allgegenwärtigen, dadurch also auf paradoxe Weise zeitgeistigen — Regimen ist inhärent, die Karre gegen die Wand fahren lassen zu müssen. Im internationalen Vergleich fallen mir nur Rentierstaaten wie die Feudalstaaten am persischen Golf (Qatar, Saudi-Arabien, UAE, Kuwait, Bahrain, Oman) oder große, illiberale Volkswirtschaften wie China ein, denen eine gewisse Langlebigkeit und womöglich sogar Zukunftsträchtigkeit zuzuschreiben ist. Doch zu keinem dieser Modelle gehört Serbien. Wie seine Nachbarländer ist Serbien zwingend auf eine integrative Rolle in einem internationalen Gefüge angewiesen — und in einer solchen Dynamik kann der zu beobachtende, populistische Machttaumel nur abträglich sein.
Im regionalen geschichtlichen Kontext Serbiens und (Post-)Jugoslawiens empfiehlt sich zum tieferen Verständnis populistischer Dynamiken und ihres scheitern Müssens die Wiederlektüre des Belgrader Bandes Der serbische Weg in den Krieg, den Thomas Bremer, Nebojša Popov und Heinz-Günther Stobbe (1998) auf Deutsch herausgegeben haben, und der auf Serbisch als Srpska Strana Rata erschienen ist (Popov 2001 [1996]; 1996). Besonders aufschlussreich wird die Betrachtung der Demagogie des Slobodan Milošević sein, die sich über zwei Jahrzehnte hinzog. Das Plot-Ende ist bekannt: Staat und Gesellschaft zerfielen im Krieg, wovon sich kaum eines der direkt betroffenen Gebiete bis heute erholt hat — besonders nicht Serbien. Das heißt natürlich nicht unbedingt, dass alles wie damals auf Krieg hinauslaufen muss; auch wenn kritische serbische Historiker*innen heute offen davon sprechen, dass mit dem gegenwärtigen Populismus „die psychologische Möglichkeit neuer Konflikte“ vorbereitet wird, wie in der Deklaration „Lasst uns die Geschichte verteidigen“ des Historiker*innen-Projekts Ko je prvi počeo? (Dt.: Wer hat zuerst angefangen?) nachzulesen ist. In jedem Fall sollten die Parallelen, die im oben zitierten Artikel eher angedeutet werden und die ich auch in diesem Blogpost nicht werde ausführen können, doch einer informierten, außenpolitischen und diplomatischen Beraterschaft zur Warnung gereichen.
Sollte. Hätte. Könnte. Ich erinnere mich an so einige hitzige Gespräche zwischen Mitte und Ende der Nullerjahre, während und auch nach meinem Studium (darunter im Fach Politikwissenschaft), mit Menschen, die sich, zumindest oberflächlich, „gut mit dem Balkan auskennen“. Ab einem bestimmten Zeitpunkt gingen sie in Gesprächen dazu über, alle anderen Menschen, die sich „mit dem Balkan beschäftigen“ — besonders solche, die sich mit zunehmend abgewerteten Disziplinen wie Geschichte, Sprache, gar Anthropologie und anderem „Gedöns“ beschäftigten — für dumm, naiv und weltfremd zu erklären, wenn sich diese politische Urteile anmaßten, die dahin gingen, eine EU-Politik (bzw. überhaupt eine Politik) zu fordern, die zuvorderst der Lösung bestehender (weil ungelöster) Konflikte Priorität einräumten. Wer dafür Belege sucht — und ich habe keine große Lust, dieses ideologische Lastenmaterial noch einmal zu sichten — kann sich den sogenannten Handapparaten umsehen, die in politikwissenschaftlichen Proseminaren als Lehrmaterial gelesen wurden.
Nein, hieß es: das Bestehen auf Aufarbeitung sei doch eher Blablabla. Völlig weltfremd — denn was ist denn mit der wirtschaftlichen Perspektive? Man müsse weg von der Konditionalität, man müsse den Ländern „eine realistische Perspektive einräumen“. Nun… dieser Kommentar ist jetzt keine Häme, sondern nur die Feststellung eines großen Trugschlusses, einer Fehleinschätzung, oder viel mehr als das: wir können eine ideologische Aushöhlung beobachten. Denn das, was wir hier sehen, ist diese „realistische Perspektive“. Wir sehen sie sich wirtschaftlich abbilden, aber auch sozial und antidemokratisch. Wir sehen, dass das neoliberale Programm, welches wirtschaftlichen Partikularinteressen unhinterfragt Priorität vor politischen und gesellschaftlichen Fragen einräumt, kolossal gescheitert ist. Ähnliches gilt auch für die unbelehrbare Türkei-Politik, für die auch im Nachhinein schnell zahlreiche Alternativlosigkeitsargumente von sogenannten „Kenner*innen der Türkei“ gefunden werden.
Doch das einzige, was wirklich nicht vorhersehbar war, waren die vorher tatsächlich ungekannten Effekte der sozialen Polarisierung und Vertrumpung durch die sogenannten „online social media“ — sowie, natürlich, die relative Unvorhersehbarkeit einer Pandemie und ihrer Folgen. Dabei sollten doch Spindoctoreien und Denkpanzerfabriken im Hinterkopf immer ein „Great Quake“ usw. antizipieren. Ein Worst Case Szenario. Das habe ich zumindest einmal so gehört.
Weiterführende Literatur und Referenzen
Vasovic, Milenko: Serbia’s War on Free Media is Moving to Street Level, in: Balkan Insight vom 30.11.2021, URL: https://balkaninsight.com/2021/11/30/serbias-war-on-free-media-is-moving-to-street-level/ (zuletzt abgerufen am 30.11.2021).
Bremer, Thomas / Popov, Nebojša / Stobbe, Heinz-Günther (Hrsg.)(1998). Serbiens Weg in den Krieg: Kollektive Erinnerung, nationale Formierung und ideologische Aufrüstung. Berlin: Berlin Verlag Arno Spitz GmbH.
Popov, Nebojša (Ed.) (1996). The Road to War in Serbia: Trauma and Catharsis. Budapest: Central European University Press.
Popov, Nebojša (Hrsg.): Srpska strana rata. Trauma i katarza u istorijskom pamćenju (I deo) [Die serbische Seite des Krieges. Trauma und Katharsis im historischen Gedächtnis]. Erster Teil, Zweite Ausgabe. Belgrad, 2002.
Popov, Nebojša (Hrsg.): Srpska strana rata. Trauma i katarza u istorijskom pamćenju (II deo) [Die serbische Seite des Krieges. Trauma und Katharsis im historischen Gedächtnis]. Zweiter Teil, Zweite Ausgabe. Belgrad, 2002.
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