Dieser Text entsteht im Nachtrag einer erneuten, kurzen Reise nach Belgrad und schließt mehr oder weniger direkt an den Blogpost nach meiner vorangegangenen Reise Ende August an, als ich in meinen Beobachtungen einen anderen Schwerpunkt fokussierte: nämlich die Anwesenheit Jugoslawiens „als Elefant im Raum“ in Architektur, Symbolik und linguistischer Landschaft der ehemaligen jugoslawischen und heutigen Hauptstadt Serbiens. Ich denke, dass es nicht allzu weit weg geholt wäre, meine Herangehensweise in einem weiten Sinn als situationistisch zu bezeichnen, wobei ich damit nicht genau dieselbe „situacija“ (wie ‚Situation‘ auf Jezik* heißt) oder Art von Situationismus meine, die in der Bezeichnung der französischen Bewegung der Situationisten der Bewegung L’Internationale situationniste zwischen Ende der 1950er bis Anfang der 1970er Jahre steckt, von der auch Henri Lefebvre beeinflusst war. Dennoch sind Henri Lefebvres Texte, insbesondere natürlich The Production of Space (1991) sowie seine Essays über die Beziehung und Intervention von Staat im sozialen (urbanen) Raum (Henri Lefebvre 2009), eine wichtige Inspirationsquelle für mich. Auch in diesem Beitrag beschäftige ich mich, wenn auch in einem anderen Kontext, mit dem Zusammenspiel staatlicher, nicht-staatlicher und para-staatlicher Akteure in der Produktion und (Um-)Gestaltung von Raum: indem der urbane Raum Belgrads mit bestimmten Geschichten ausgestattet wird, die im Konflikt mit anderen Geschichten oder auch der Geschichte stehen.
„Die situacija“ hinter diesem Text fließt aus drei Gelegenheiten zusammen: erstens aus der bereits genannten Reise mit den fotografischen und textuellen Reisebeobachtungen. Ich muss jedoch hinzufügen, dass ich zwischen der Anreise am Abend des Montags, den 15.11.2021, bis zur Abreise am (sehr) frühen Donnerstag, den 18.11.2021, zwar fast jede Gelegenheit bei gutem Wetter nutzen konnte, durch die Stadt zu streifen, zu fotografieren, zu beobachten, nachzuschlagen und natürlich Gespräche zu führen; dennoch waren meine zwei vollen Tage in Belgrad zur Hälfte von Treffen und Aktivitäten in geschlossenen Räumen eingenommen, weshalb ich nur Ausschnitte der Stadt beschreiben kann. Diese Ausschnitte befinden sich, mit Ausnahme der Strecke zwischen Flughafen und Zentrum, im Innenstadtbereich zwischen Vračar und Kalemegdan.

Viele Gespräche mit meinen bestens informierten, politisch aufmerksamen und kritischen Gesprächspartner*innen drehten sich dabei ebenfalls immer wieder um aktuelle Raumfragen Belgrads: Zeitgleich mit meiner Reise nach Belgrad fand nämlich, zweitens, ein regelrechter Kampf um Kriegsverbrecher verherrlichende Murale an Belgrader Häusern statt, deren harmlosere Begleiterscheinungen im gesamten Stadtgebiet von keinem Reisenden zu übersehen waren, was auch von meinen Projektpartner*innen vor und während unserer Veranstaltung ausführlich thematisiert wurden — wie zum Beispiel in einem wenige Tage zuvor veröffentlichten Artikel des Novi Sader Historikers Milivoj Bešlin („Bešlin: Policija čuva ne samo mural, već ideološki koncept ‚krvi i tla'“, 2021). Die ganze Stadt war regelrecht zugekleistert mit Murals, Stickers, Slogans, Parolen, Graffitis, Memorabilien und Flaggen aller Art und Dimension. Ich werde auf den Kulminationspunkt dieses Kampfes um das Mural des Kriegsverbrechers Ratko Mladić in Vračar im dritten Kapitel noch genauer eingehen.
Drittens schließlich passte diese gesamte Debatte über den öffentlichen Raum quasi wie die Faust aufs Auge zum eigentlichen Anlass meiner Reise: ich war zur Abschlussvorlesung des Programms Histoire pour la liberté vor Student*innen im Studentski Klub der Philosophischen Fakultät der Universität Belgrad angereist. Wie ich das ganze Jahr hindurch schon berichtet habe, hat das Thema Geschichtsrevisionismus im postjugoslawischen Raum (und natürlich ebenso sehr weit darüber hinaus) Hochkonjunktur. Die Akteure hinter den faschistoiden, Kriegsverbrecher verherrlichenden Muralen Belgrads schienen dabei genau das umgekehrte Programm zu verfolgen: Histoire pour la illiberté. Ihrer Ansicht nach, die sie besonders militant gegen Andersdenkende vertreten, war die Geschichte nämlich sowieso eine ganz andere: in ihren Geschichten gibt es gar keine serbischen Kriegsverbrecher, die Kriegsverbrechen, geschweige denn Genozid begangen hätten. Dieselben Personen und Figuren, die in nicht-serbischen Teilen Bosnien-Herzegowinas sowie in weiten Teilen der weltweiten Öffentlichkeit als Kriegsverbrecher eingestuft werden, werden seitens dieser illiberaler Storyteller ganz im Gegenteil als Helden dargestellt, die das serbische Volk beschützt hätten und nun ihrerseits Schutz vor Verfemung durch Nestbeschmutzer verlangten.
Allerdings muss ich einen letzten Aspekt der situacija hinzufügen und betonen, da ich befürchte, andernfalls einen allzu einseitigen Eindruck über die Stadt Belgrad und ihre Bewohner*innen zu produzieren. Ich habe mich aus diesem Grund ein wenig davor gescheut, diesen Beitrag zu schreiben, weil ich mich gefragt habe: stell dir vor, jemand reist in deine Stadt, in dein Land, das in den Händen eines populistischen, rücksichtslosen Regimes ist. Du bewirtest ihn gut, ihr kommt freundschaftlich miteinander aus, und nach seiner Abreise schreibt dieser Gast einen Bericht, in dem er deine Stadt nur in den allerkritischsten, hässlichsten Aspekten darstellt, die sich ihm dargeboten haben. Wie würde das bei dir ankommen? Nicht nur, dass eine einseitige Darstellung auf emotionaler Ebene unbehaglich sein könnte; diese Darstellung würde die sehr viel ambivalentere Wirklichkeit gar nicht in der gebotenen Vielschichtigkeit abbilden. Denn Belgrad ist für mich bei jeder Reise auch eine schöne Stadt mit einem besonderen „Jugoflair“ — in der mir alle Menschen sehr freundlich begegnet sind. Dies umschließt auch alle Taxifahrer, die Kassiererin im Buchladen, die Kellner im Restaurant, die Student*innen bei der Vorlesung, und natürlich die Projektpartner*innen. Bei einigen der oberflächlich begegneten Belgrader*innen weiß ich natürlich nicht, welchen Gesprächsverlauf ein bestimmtes Schlagwort bewirkt hätte, wie ich es zum Beispiel in einem Beitrag nach der August-Reise beschrieben habe, als ein Gespräch im Taxi plötzlich kippte. Doch bei vielen anderen habe ich mich regelrecht ermutigt gefühlt, und zwar durch ihr alles andere als risikofreies, gesellschaftliches Engagement in der bereits skizzierten Atmosphäre eine binärer völlig aufgeheizten situacija. Deshalb versuche ich, nach Möglichkeit immer mehrere Perspektiven mit einfließen zu lassen, was mir hoffentlich gelingen wird.

Methodisch habe ich versucht, den öffentlichen Raum möglichst genau zu beobachten und zu beschreiben, wobei ich fast nur zu Fuß mit Kamera und Notizbuch unterwegs war. Ich habe einige der relativ ikonischen, fest etablierten lieux de mémoire (Pierre Nora et al., 1996, 1998) — wie zum Beispiel die Kirche des Heiligen Markus mit der Grablege von Zar Dušan (Stefan Uroš IV. Dušan) — ebenso besucht wie jüngere Denkmäler und Erinnerungsorte, darunter einige der zerstörten, als Ruinen konservierten Gebäude der NATO-Bombardierungen von 1999. Weiterhin habe ich die umgebende und im weiteren Stadtbild flankierende, linguistische Landschaft mit ihren textuellen Botschaften zu diesen alten, neuen und womöglich vorübergehenden Orten des Gedenkens erfasst und versucht, in den weiteren Kontext der aktuellen gesellschaftspolitischen Debatte einzupflegen. Dazu habe ich auch Souvenirstände, Mauerschmierereien und Sticker beachtet. Die qualitative Erfassung der visuell wahrnehmbaren linguistic landscape (Cronin and Simon 2014, Ben-Rafael et al. 2006) erweist sich dabei als besonders hilfreiche Methode für kürzere Aufenthalte, weil sie einerseits von unmittelbarer Aussagekraft ist, andererseits eine vertiefte Kontextualisierung nach dem eigentlichen Forschungsaufenthalt erlaubt.
Die folgenden Abschnitte sind thematisch in fünf weitere Kapitel gegliedert. Erstens, unter der Überschrift Kosovo als teuerstes serbisches Wort, die ich einem sehr frischen Memoirenessay von Dubravka Stojanović (2021: 402) und ihrem Zitat Matija Bećkovićs entleihe, demonstriere ich Manifestationen des Kosovo-Mythos im öffentlichen Raum, die sich den Besucher*innen bereits direkt am Flughafen aufdrängen. Zweitens halte ich einige der öffentlichen Erinnerungsorte an die NATO-Bombardierungen fest, die unter dem Titel Die Niederlage ist Ruhm (poraz je slava) firmieren. Drittens habe ich die Ecke Njegoševa / Alekse Nenadovića im Stadtteil Vračar besucht, wo während meines Aufenthalts die Kriegsverbrecherverehrung von Ratko Mladić als Provokation nach außen (Bosnien-Herzegowina) und nach innen (ins liberale Serbien) zu besichtigen war — nicht ohne die laut kommentierenden „Wächter“, nämlich Kapuzenpulli tragender, nationalistisch gesinnter Halbstarker. Viertens gehe ich aber auch auf die schwierige Lage anderer, liberaler Manifestationen ein: der Gegendenkmäler, die ich am Beispiel des leider nicht mehr zu besichtigenden Denkmals an „Brankos Brücke“ (Brankov most) beschreibe.

Neben dem gezielten Vorhaben, die symbolische und linguistische Landschaft Belgrads zu beobachten, fotografisch festzuhalten und mit den Inhalten der Veranstaltung der Reihe Histoire pour la liberté zu kontextualisieren, habe ich keine bestimmte Fragestellung verfolgt. Im Laufe der Auswertung des Materials, aber auch im gedanklichen Nachtrag zu meiner Auseinandersetzung mit dem Thema der digitalen Medialisierung und Transformation des gesamten Diskursraums neopopulistischer Bewegungen, haben sich mir aber zwei widersprüchliche Eindrücke aufgedrängt, die, fünftens, nach einer abschließenden Diskussion verlangen: einerseits gibt es kaum etwas (oder gar nichts) an den beobachteten Inhalten, das per se „neu“ oder nicht bereits früher in der ein oder anderen Form beobachtet und beschrieben worden wäre: es handelt sich bei den Symbolen, Konterfeis und Parolen also um immer wiederkehrende Stereotypen. Andererseits scheint aber die Voluminosität, Vehemenz, Frequenz und Geschwindigkeit des Running to and fro dieser Stereotypen durch die digitale Verdichtung eine solche Masse erreicht zu haben, dass darin durchaus etwas Neues besteht: wenn auch nicht so sehr im ‚Was‘, dann doch im ‚Wie‘. Und damit komme ich im nächsten Beitrag zu den Manifestationen von Kosovo als „teuerstes serbisches Wort“.

Referenzen
Bešlin: Policija čuva ne samo mural, već ideološki koncept „krvi i tla“, in: Autonomija vom 11.11.2021, URL: https://www.autonomija.info/beslin-policija-cuva-ne-samo-mural-vec-ideoloski-koncept-krvi-i-tla.html?fbclid=IwAR3F8o3e1dAjQCtjoHBzsIQPT4x_GVoLuaEbBHv8i6n0DTwbiYWfBfpcyrY (zuletzt abgerufen am 24.11.2021).
Cronin, Michael and Sherry Simon (2014). Introduction: The city as translation zone, in: Translation Studies, 7:2, 119-132.
Eliezer Ben-Rafael, Elana Shohamy, Muhammad Hasan Amara & Nira Trumper-Hecht (2006) Linguistic Landscape as Symbolic Construction of the Public Space: The Case of Israel, International Journal of Multilingualism, 3:1, 7-30, DOI: 10.1080/14790710608668383 .
Lefebvre, Henri (2009). State, Space, World: Selected Essays (Edited by Neil Brenner and Stuart Elden). Minneapolis/London: University of Minnesota Press.
Lefebvre, Henri (1991). The Production of Space. Cambridge (USA)/Oxford: Blackwell.
Nora, Pierre (1998). Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag.
Nora, Pierre (et al.)(1996). Realms of Memory: Rethinking the French Past. New York: Columbia University Press.
Stojanović, Dubravka: Being a Trainee Historian in Belgrade, 1989, in: Comparative Southeast European Studies 2021; 69(2-3): 402.
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