Der Schalenkoffer liegt wie eine übergroße Nachgeburt mit seinen offenen beiden Hälften auf der Marmoroberfläche der Buffetkommode. Heraus starren die untragbar gewordenen Sommerklamotten, jeder Anblick ist eine anstrengende Provokation. Ich will mich nicht aufregen. Deswegen versuche ich, Begehungen des Schlafzimmers bei Tageslicht auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Ich weiß, das ist die falsche Strategie, um Ordnung zu schaffen — aber ich schaffe es nicht, ihn jetzt auszuräumen. Um ihn auszuräumen, müsste ich doch zuerst den Kleiderschrank organisieren: schließlich liegt ein Jahreszeitenwechsel hinter uns, und mit jeder neuen Jahreszeit wird der Inhalt meines Kleiderschranks teilweise untragbar. Die nutzlosen Sommerklamotten kommen dann in den riesigen Schalenkoffer, die jetzt wieder tragbaren Winterklamotten kommen in den Schrank.
Draußen macht sich das am Catwalk auf der Hermannova bemerkbar: die Leute ziehen sich allmählich hinter Schals und Mützen zurück. Wir zeigen uns gerne auf diesem bedeckten Laufsteg, weil es dadurch immer noch weniger danach aussieht, dass uns unser Alltag überfordert. Solange wir draußen herumlaufen, herrscht kein strenger Lockdown. Unsere je eigenen Waschmaschinen, unsere Briefpost, unsere Pfandflaschen, unsere Immatrikulationsbescheinigungen, unsere Lockdowns und unsere Schalenkoffer: das alles mag uns überfordern, bleibt aber zu Hause. La fatigue reste à la maison.
Es muss alles organisiert sein: ob Text, ob Kleiderschrank. Organisieren ist anstrengend, obwohl ich generell ein organisierter — oder vielleicht besser: ein Organisation liebender Mensch bin. Das ist zumindest mein Selbstbild. Sagen wir so: ich neige der Organisation von Dingen und Texten zu, auch wenn ich mitunter tagelang an einem offenen Schalenkoffer auf der Kante einer Jahreszeit scheitere. Als ich nach Berlin gezogen bin, geriet ich häufiger in die großen WGs zugezogener Schwäbinnen mit muffigen Innenräumen, keimvollen Küchenoberflächen, fusseligen Teppichböden und schmutzigen Badezimmern. Dort wohnten tiefenentspannte Bewohner*innen, das Klischee will es: mit fettstränigem Haar, in auberginefarbenen Kapuzenpullovern. Ich fand diesen bürgerlichen Rebellionshabitus gegen die Organisation immer etwas beunruhigend. Denn ich bin ja eigentlich organisiert. Das ist doch kein Putzen. Mein Putzen ist doch ein richtiges. Wenn ich putze herrscht Sauberkeit.
Doch manchmal ist das Putzen eine solche Mammutaufgabe, dass sie eine Weile hinter anderen Mammutaufgaben zurücktritt: Der Schmutz starrt dann, provoziert. Er muss eine Weile ausgehalten werden, wie der Schalenkoffer. Er beißt sich mit meinem Streben nach Organisationsformen und -Systemen, das immer möglichst total sein will. Unvollständige Ordnung beunruhigt mich. Horror perturbationis.
Ich nehme mir gerne das durch und durch organisierte Kellerregal meiner Mutter zur Chiffre für Ordnung: Nichts ist dort in Unordnung, alles ist dort absolut übersichtlich. Das geht so weit, dass die zahlreichen, leeren Einmachgläser nach Größe geordnet im abgestaubten, glänzenden Metallregal stehen und dabei zu wissen scheinen, auf welche Füllung sie warten: Gurken, Rote Beete, Zucchinis, Marmeladen und andere Einmachprodukte, auf die aus diesem Keller in jedem Jahr Verlass ist. Die gefüllten Gläser werden wieder verwendet, sie werden zurück gebracht, werden gerne verschenkt: ob an mich, meine Schwester, an Gäste oder als Mitbringsel und gelegentliche Give-aways. Quitte, Erdbeere, Johannisbeere, Brombeere, dieses Jahr Maulbeere. Sogar meine Freund*innen in Berlin profitieren hin und wieder davon. Dort finden sich auch mitgebrachte Ajvar-Gläser von Verwandten, wenn sie von unten zurückkommen. Ich nehme mir manchmal ein Glas eingelegter Roter Beete, greife zur nächstbesten Gabel und esse es zu übertrieben später Stunde einmal ganz leer. Meine Mutter und ihr Lebensgefährte freuen sich am nächsten Tag: dieses maßlose Verhalten wird als ausdrückliche Würdigung erfahren. Dieser Keller ist der Ort, wo die Heinzelmännchen wohnen: er wird zwar selten betreten, er ist aber immer aufgeräumt und geputzt. Wenn man mir im dortigen Haushalt sagt, „bring‘ mir mal vier-fünf Kartoffeln„, dann weiß ich ganz genau, an welcher Stelle, in welchem Korb sie zu finden sind. Wenn nicht, stimmt etwas nicht. Organisation ist Organisation, weil sie regelhaft immer so ist.

Es muss alles organisiert sein: Aber im Moment betrachte ich die Organisation anderer Menschen Texte, eigener Texte, schreibe Texte, diskutiere über Texte, träume Textgliederungen, wache aus einem Text auf, will aber auch gleich wieder zurück in einen Text. Der Schalenkoffer muss noch ein bisschen warten. Ich muss mich zu einem Spaziergang zwingen, der wieder übertrieben lang wird. Dort sehe ich wieder etwas, aus dem ein Text keimt: manchmal aus einem Gegenstand, aus einem Schriftzug oder einem Baumblatt auf der Hermannova, und diese Dinge werden zwar auch vorher schon da, aber noch nichtssagend gewesen sein. Diese Dinge werden dann meine Dinge in meinen Texten.
Anderer Menschen Texte sind etwas anderes und gehören mir nicht. In der Betrachtung von Organisation und Desorganisation Anderer Texte bin ich im Moment zum Glück nicht allein, wir sind ein Team. Wir schicken uns Voice-Messages hin- und her, füllen Review Sheets aus, kommentieren Kommentare. Es ist eine ziemlich intime, vielleicht auch manchmal etwas übergriffige Sache: Ich erarbeite Vorschläge für Verbesserungen der Organisation dieser Texte, und es graut mir davor, mit dieser Übergriffigkeit an die Autor:innen heranzutreten. Bald sind wir fertig mit unseren Interventionen.
Mir fällt dazu der Songtext von Melanie’s „Look what they’ve done to my song, ma“ von 1971 ein, wo mir immer die Strophe am besten gefällt, in der sich Melanie wünscht, ein gutes Buch zu finden, in dem sie leben könnte. Ein Buch ist etwas fertiges. Etwas zu Ende organisiertes, ein abgeschlossenes Projekt am Ende des Gantt-Diagramms: etwas, in dem man man abgeschlossen leben kann und nicht mehr herausblicken muss. Etwas, das auch von niemandem mehr verändert werden kann, da der Text endlich einmal zu einem Ding geworden ist. Bestimmte Dinge stehen dann fest, hat Hannah Arendt in ihrem berühmten Gaus-Interview einmal gesagt.
Ich werde für die Interventionsarbeit an anderer Menschen Texte ganz konkret unterbezahlt, wenn man es nach kapitalistischen Maßstäben betrachtet. Das wenige, was man mir zahlt, wird mir allerdings erst irgendwann bezahlt — und zwar dermaßen irgendwann, dass man mich eigentlich gar nicht dafür bezahlt. Es macht dann auch kein Kraut mehr fett. Sicher: vielleicht springen dabei irgendwelche symbolischen Meriten heraus. Aber ebenfalls dermaßen irgendwann, dass sie mir egal sind. Ich verliere aber kein bisschen an meinem Interesse, ganz im Gegenteil. Mein Interesse an dieser Tätigkeit spitzt sich zu. Es steigert sich ständig, und ich genieße die Abwärme. Wenn die Leute nur wüssten, wie sehr ich von ihren Texten profitiere, ohne ihnen etwas wegzunehmen: unfassbar, im wahren Wortsinn. Ich versuche, mal die eine und mal die andere Metapher zu finden, in der ich leben kann. Vielleicht ist an diesem Tag ja so, dass ich einen Samen gegossen habe, eine Pflanze aufgegangen ist und heute abend noch gedüngt werden muss, damit sie dermaßen irgendwann Früchte trägt. Vielleicht werfe ich heute ein paar Perlen vor die Säue — aber vielleicht ist es auch so, dass es die stolze Eiche morgen nicht kümmert, wenn sich die Säue an ihr reiben. Womöglich stürze ich aber auch von einem hohen Ross und gerate vom Regen in die Traufe.
Ich stehe zur Zeit früh auf, wenn es draußen längst stürmt. Da liegt er wieder, der Schalenkoffer, vulgär und provokant auf der Buffetkommode: schnell fort von hier! Schnell ins Bad, schnell eine riesige Caffettiera Kaffee kochen, mehr braucht es nicht. Vorher zerstampfe ich aber noch schnell eine Nelke, zwei Kardamomkapseln und ein Pimentkorn, presse sie in die Kaffeemischung, schraube die Bialetti zu und sage mir: „Das ist doch kein Espresso, wie kommen die Leute eigentlich immer darauf?“ Das ist ein ganz einfacher, starker Kaffee, der wirken soll. Bei Kaffee bin ich empfindlich. Für richtigen Kaffee (prava kafa) aus der Džezva ist jetzt weder Zeit noch Muße. Noch bevor die Caffettiera ins Röcheln gerät, beginnt sie zu riechen und zu dampfen, and this is what I am after: ich richte mein Gesicht direkt in den Dampfkegel, schließe die Augen und inhaliere. Die Haut beschlägt, und gleichzeitig setzt ein ganz feiner Rausch ein, auf den Verlass ist: jetzt bin ich auf einmal ganz wach. Ich weiß, sobald ich den ersten Schluck trinke, wird meine Auffassungsgabe so scharf und so klar sein, wie bei keiner weiteren Kaffeeladung des Tages mehr. Ich esse nichts, ich nehme keinen Zucker, es steht keine Hafermilch im Kühlschrank.
Ich werde oft gefragt: „Und was machst du eigentlich gerade?“. Und ich dann so — vor allem seit vorgestern, seit ich wieder eine Absage bekommen habe, und zwar für meinen eigenen Text: „Ich arbeite viel, aber ich verdiene kein Geld. Ich schreibe Bücher, gebe zwei Bücher heraus, schreibe Essays und mich stressen drei Rezensionen, denen gegenüber ich mich schuldig fühle“. Genau so ist es: ich arbeite viel, ich verdiene aber so gut wie kein Geld, und ich finde es richtig, darauf hinzuweisen, auch wenn es nichts ändert. Früher haben nur die Krankenpfleger:innen selbst darauf hingewiesen, dass sie unterbezahlt werden. Als die Leute wegen der Pandemie anfingen zu klatschen, hat sich nichts daran geändert, obwohl ihre sogenannte Systemrelevanz nur allzu offensichtlich geworden ist. Die Pandemie bewirkte in dieser Hinsicht, dass die herrschende Ideologie — eigentlich eine Bricolage unterschiedlicher Ideologiebausteine — gezwungen wurde, über sich selbst Auskunft zu geben: Wer ist relevant? Welche Tätigkeit ist systemrelevant? Ein regelrechter Wettstreit über deklarierte Systemrelevanz setzte ein. Sofern in diesem Raster nicht einmal jede Care-Tätigkeit als systemrelevant gilt, ist mein Tun natürlich aufs Äußerste irrelevant.
Aber dafür denke ich momentan ziemlich klar — denke ich mir unausgesprochen. Das kommt daher, weil ich zur Zeit faste, und zwar faste ich, weil ich letztes Jahr um diese Zeit auch gefastet habe. Wenigstens hier herrscht Ordnung, wiederholt sich ein Ritual, mein lieber Schalenkoffer: ab dem 7. Oktober wird gefastet. Der Fastenmodus macht das Denken viel klarer, bewirkt aber auch das zusätzliche Gefühl, einfach sitzen bleiben zu können.

Vorgestern abend zum Beispiel war ich mit Sare bei einer (systemirrelevanten) Performance im riesigen, erschütterlichen Berliner Kraftwerk. Das Stück hieß Kırkpınar, benannt nach den Kırkpınar-Wettkämpfen nahe der thrakischen Stadt Edirne. Dort treten in Öl eingeschmierte Männer mit Lederhose bekleidet zum Öl-Wrestling (yağlı güreş) an, einer besonders in Ostthrakien und anderen Teilen der Türkei, Bulgarien, Nordmazedonien und Griechenland verbreiteten Art des Ringens. Laut Programmankündigung wollte der Künstler Caner Teker Elemente von yağlı güreş aneignen, um damit queere Räume zu erschließen. Nun ja. Wir saßen auf dem Boden, im Kreis um einen (eckigen) Ring, in dem geringt werden sollte. Es gab ein paar Szenen, in denen die beiden Performancekünstler durch das im Kreis sitzende Publikum krabbelten, liefen oder schweres Gestänge schleppten. Auf unserer Seite des Rings mimte der Ringer beim durchkrabbeln viehische Geräusche. Wenn er vorbei kam, standen die Leute auf.
Ich blieb sitzen. Es würde mich doch ganz bestimmt niemand beißen, gar in den Ring zerren, oder mit einer der herbeigetragenen Eisenstangen erschlagen. Ich führe diesen state of mind — das einfach so weiter sitzen bleiben, wenn aufstehen ganz unnötigen Energieverbrauch bedeuten würde — auf das Fasten zurück. Es ist mir im Übrigen auch kein bisschen rätselhaft, wieso Menschen für vierzig Tage in die Wüste gehen, um zu fasten. Gebt mir eine Wüste, da bin ich. Ich ließe dann sogar den Kaffee weg. So etwas tut man eben, wenn man fastet und klar denkt. Ich muss dann nicht darüber nachdenken, was ich als nächstes in mich hineinstopfe: ich frage mich eher: bin ich eigentlich leer genug? Es ist nicht grausam, nichts zu essen. Es ist viel grausamer, in eigenen Maßen klar denken zu müssen. Noch grausamer als der unaufgeräumte Schalenkoffer mit den Sommerklamotten ist mein unaufgeräumter Text, der mich stark beunruhigt. Darin geht es um morbide Sommerwiesen, auf denen alle Insekten schon tot sind. Das ist beunruhigend, weil es ein wahrer Text ist.
But first things first. Zurück zu den Texten der Anderen.

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