[Geschichte] Belgrad 4.1: Ein gemeinsamer Lesesaal gegen den methodologischen Nationalismus

In den Beiträgen von Tvrtko Jakovina (Zagreb), Dragan Markovina (Zagreb), Ruža Fotiadis (Berlin) und Dubravka Stojanović am Samstagabend ging es in je unterschiedlicher Gestalt um die konflikthafte Auseinandersetzung mit Orthodoxien — also behaupteten oder verordneten „Wahrheiten“, die in ihrer normativen, bevormundenden Eigenschaft der wissenschaftlichen Methode schlechthin widersprechen: nämlich jener der kritischen Hinterfragung und Überprüfbarkeit durch Fakten. Bei aller grundsätzlicher Vergleichbarkeit unterscheiden sich jedoch die diskursiven Kontexte in der Region beträchtlich von jenem in Deutschland — eine Schwierigkeit, auf die Ruža Fotiadis genauer einging. Doch zuvor skizzierten Dragan Markovina und Tvrtko Jakovina den Diskurs in Kroatien, wo besonders bemerkenswert sei, dass die Person Franjo Tuđmans, sein Ansehen und seine Interpretation von Geschichte auch heute noch wie „in Zement gegossen“ erscheinen. Dies betreffe nicht nur Hardliner aus dem rechten Spektrum um die Partei HDZ, sondern auch vermeintlich liberalere Kreise, etwa um die sozialdemokratische Partei SDP. Diese Zementierung habe sich die ganzen letzten Jahrzehnte hindurch beobachten lassen, wie zum Beispiel bei der Enthüllung eines Denkmals für Tuđman in Split im Jahr 2013. Die quasi-Sakralisierung des ersten Präsidenten Kroatiens verhindere eine kritische und freie Auseinandersetzung mit den Kriegsgeschehnissen der 1990er, wie zum Beispiel während der kroatischen Rückeroberungsoffensive Oluja 1995. In Berlin dagegen spielen die 1990er Jahre im öffentlichen Diskurs eine ganz andere Rolle. In Deutschland, so Fotiadis, werden momentan einerseits große öffentliche Debatten über die Frage der Singularität des Holokausts geführt, andererseits aber auch über eine inklusive Gedächtniskultur einer postmigrantischen Gesellschaft — woran auch ich in meinem Beitrag am Sonntag wieder anknüpfen würde.

Bildquelle: Marija Piroški

Am Sonntag bildeten drei Teilveranstaltungen den Abschluss des KROKODIL-Festivals in der Jugoslovenska Kinoteka. In einer ersten Runde stellten die Herausgeber Vladimir Arsenijević und Igor Štiks das Literaturprojekt Gemeinsamer Lesesaal (Zajednička čitaonica) vor. In der zweiten Runde befassten sich Historiker mit der Herausforderung der sogenannten „Politik der Erinnerung“, wobei die Formulierung „Politik“ durch die damit oft mitgemeinte Anti-Politik der Erinnerungsregime mit Vorsicht zu gebrauchen ist. In der letzten und abschließenden Runde stellten sich Schriftstellerinnen derselben Herausforderung. 

Bildquelle: Marija Piroški

Das Literaturprojekt Gemeinsamer Lesesaal (Zajednička čitaonica) besteht aus einem kleinen, handlichen Paket von neun Taschenbüchern als kostenlose Give-Aways des Festivals. Wie Arsenijević und Štiks betonten, seien die Bücher kostenlos beim Zentrum für kulturelle Dekontaminierung abholbar, daneben aber auch als PDFs von der Homepage KROKODIL herunterladbar [LINK]. Jedes einzelne der neun Bücher bezieht sich aus je unterschiedlicher Perspektive zweier AutorInnen auf ein großes gesellschaftliches Themenfeld von gemeinsamer Relevanz:

  1. Predrag Matvejević, Vladimir Arsenijević: Jugoslavija (Jugoslawien),
  2. Miroslav Krleža, Igor Štiks: Evropa (Europa),
  3. Danilo Kiš, Lana Bastašić: Identiteti (Identitäten),
  4. Dubravka Ugrešević, Semezdin Mehmedinović: Egzil (Exil),
  5. Borka Pavićević, Boris Buden: Društvo (Gesellschaft),
  6. Daša Drndić, Andrej Nikolaidis: Anti/Fašizam (Anti/Faschismus),
  7. Bogdan Bogdanović, Dragan Markovina: Grad (Stadt),
  8. Mirko Kovač, Rada Iveković: Neprilagođenost (Unangepasstheit),
  9. Svetlana Slapšak, Aleksandar Hemon: Mladost (Jugend).

Die Idee zum Projekt des Gemeinsamen Lesesaals sei vor zwei oder drei Jahren geboren worden und knüpfe direkt an das Projekt Sprachen und Nationalismen mit der Deklaration zur gemeinsamen Sprache an, die auch am Ende eines jeden einzelnen Bandes abgedruckt ist. Nachdem dieses Projekt nämlich abgeschlossen war, habe sich die Frage gestellt: Und was nun? Welche praktische Konsequenzen konnte man der Deklaration folgen lassen? Die Antwort habe man in einer gemeinsamen Anthologie gefunden, die teils aus klassischen, für die Herausgeber Štiks und Arsenijević formativen Texten ausgewählt worden seien — und teils aus neueren, mit den älteren Texten thematisch korrespondierenden Werken. Das grundsätzliche Ziel des Projekts bestehe darin, zu Diskussionen und Reflexionen über Sprache einzuladen: über ihre Rolle und Bedeutung im persönlichen, professionellen wie auch gesamtgesellschaftlichen Leben. Das beinhalte auch die große Frage nach der Macht, die von Worten und Sprache ausgehe. 

Bildquelle: Marija Piroški

Das Projekt bestehe aber nicht aus gedrucktem Text allein, da man sich nicht auf eine Art Sprachfetischismus habe eingrenzen wollen, sondern aus einer lebendigen Auseinandersetzung auf öffentlichen, künstlerischen und besonders auch schauspielerischen Veranstaltungen. So habe man sich während der gesamten Projektphase immer wieder mit befreundeten SchauspielerInnen und Theaterensembles zusammengetan, die sich der behandelten Themen auf der Bühne angenommen hätten: Sprache sei schließlich lebendig, und mit diesem lebenden Gegenstand könne man sich idealerweise spielerisch auseinandersetzen.

Natürlich blieb bei aller Spielerei die Auseinandersetzung mit Sprachnationalistinnen nicht aus, wie eine kürzliche, offizielle Reaktion durch die kroatische Botschaft in Großbritannien gezeigt habe, nachdem ein ausländischer Kommentator den Begriff der „gemeinsamen Sprache“ verwendet hatte. Wie zu erwarten, gebe es laut offizieller (sprachnationalistischer) Lesart eine solche gemeinsame Sprache nicht, und es dürfe sie auch nicht geben. Dennoch hätten die Herausgeber oft die Rückmeldung erhalten, dass dieses Projekt sowie die Deklaration der gemeinsamen Sprache eine kathartische, „erleichternde“ Wirkung auf die Öffentlichkeit gezeitigt habe. Zwar habe man durch die Deklaration nichts Neues in die Welt gesetzt, sondern eher konstatiert, „dass Wasser flüssig ist“ — wie Vladimir Arsenijević dieses Stating the Obvious metaphorisch formulierte; dennoch sei oft die Rückmeldung gekommen, dass die Feststellung einer gemeinsamen Sprache, die man ohnehin spräche und verstünde, einen Rückversicherungseffekt hatte: „ich bin also gar nicht so isoliert“, womöglich sogar „verrückt“ aufgrund meiner Sichtweise, mit der ich vielleicht sogar innerhalb meiner eigenen Familie alleine stehe.

Das Projekt einer gemeinsamen Anthologie stelle ein Gegenprojekt zu den heute gängigen, nationalen literarischen Anthologien dar, so Arsenijević. Ihn nerve es auch rückblickend wahnsinnig, dass nationale Demarkationslinien zwischen einzelne Schriftstellerinnen eines völlig verwachsenen Sprachraums gezogen würden, auch wenn die Kriterien für diese Unterscheidungen oft kohärenter Argumente entbehrten und diese ausblendeten. So sie es fragwürdig, in welcher nationalen Kiste ein historischer Autor nun abgelegt werden könne, der zwar (nach heutigen Vorstellungen) ethnischer Kroate sei, aber eine Zeit lang oder zeitlebens ekavisch geschrieben habe, was als serbischer Standard gelte.

Das Problem mit den nationalen Demarkationslinien in der Literatur ist sehr viel mehr als eine einfache Differenz in der persönlichen Meinung, aber auch eines linguistisch konstruierten Arguments. Es berührt die von Arsenijević angesprochene Machtfrage von Sprache: mit der Auftrennung und Einhegung nationalsprachlich-literarischer Räume einher gehen nämlich noch eine ganze Reihe weiterer, praktischer Probleme auf dem Literaturmarkt — sowohl regional, als auch international. Wenn man sich als SchriftstellerIn der Region auf eine Buchmesse wie jene in Leipzig begebe (die für die Region besonders wichtig ist), dann werde dabei immer auf einen peinlich genauen Proporz geachtet, damit auch jeder nationalsprachlich-literarische Einzelraum durch eigene Stände repräsentiert werde. Dadurch komme es zu teilweise absurd kleinen Ständchen, die sich „irgendwo auf dem Weg zum Klo“ gerade noch finden ließen. Ohne es genau so zu formulieren, sprach er damit das fortwirkende Problem des methodologischen Nationalismus an, das dieser generativen Machtstruktur zugrunde liegt. 

Vladimir Arsenijević (l) und Igor Štiks (r). Bildquelle: Marija Piroški

Dafür seien aber nicht nur die MarktteilnehmerInnen aus der Region selbst verantwortlich, sondern alle Stakeholder. Die gesamte Struktur — die Messe und der Markt insgesamt — seien nicht anders als nationalsprachlich strukturiert. Es gebe meistens gar keine andere Möglichkeit, sich für eine Buchmesse anzumelden, als unter einer der zur Verfügung stehenden, nationalen Kategorien. Damit werde Künstlerinnen, die sich selbst gar nicht ethnonational verorten möchten, sondern gerade durch ihr Schreiben diese Kategorisierungen transzendieren, die Möglichkeit der authentischen Selbstpositionierung genommen. Auch wenn die eigene Hoffnung etwas gedämpft sei, so verfolgten die ProjektteilnehmerInnen doch das Ziel, Organisatorinnen von Buchmessen den Vorschlag zu unterbreiten, auch nicht-nationalsprachliche Kategorien zuzulassen, wie sie zum Beispiel die Kategorie der gemeinsamen Sprache anbiete. Etwas widersprüchlich ist demgegenüber die Beobachtung von Igor Štiks, dass sich ausländische Herausgeber und Verlage oft gar nicht allzusehr dafür interessierten, welcher ethnischen Zugehörigkeit ein/e AutorIn nun „sei“, sondern welche Literatur dabei heraus käme, oder auch: welche Region damit greifbar werde. Oft würde kein Marketing-Label „Serbien“, „Kroatien“, „Bosnien-Herzegowina“ oder dergleichen geschaffen, sondern größere Regionen thematisiert, wie „Mitteleuropa“, „Südosteuropa“ etc., weil dadurch eine breitere Leserschaft angesprochen werden könne.

Igor Štiks erläuterte abschließend noch, wie die Herausgeber bei der thematischen Auswahl und der Selektionen der Autorinnen vorangegangen sind. Beim Band über Europa korrespondierte ein kanonischer Klassiker, nämlich Mirosla Krležas Evropa danas (Europa heute) mit seinen eigenen Überlegungen zu Europa. Hier seien erstaunliche Parallelen zwischen der Vorkriegsgesellschaft Europas und der heutigen Situation festzustellen. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, auf alle Beiträge genauer einzugehen, und so sei im nächsten Teilbeitrag nur noch auf das Thema Exil (Egzil) näher eingegangen. 

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