[Öffentliche Diplomatie] Der illiberale Rahmen für Gemeindepolitik in der Türkei (Teil 4/8)

Vorbemerkung: Dieser Blogbeitrag ist Teil einer Serie unter dem Titel und der Leitfrage “Können Netzwerke von Kommunalverwaltungen den Aufstieg des grenzüberschreitenden Neopopulismus herausfordern?” Die komplette Serie ist mein Beitrag zu einem Sammelband von Dr. Agata Rogoś, Postdoc-Stipendiatin an der Humboldt-Universität zu Berlin. Der Arbeitstitel des von Agata herausgegebenen, englischsprachigen Bandes lautet “Permeability of dispossession / Dispossession of borders“, weshalb dieser Text zuerst auf Englisch entstanden ist. Ich habe ihn mithilfe der kostenlosen Übersetzungssoftware DeepL aus Köln übersetzt und noch einmal leicht überarbeitet. In Übereinstimmung mit Agata Rogoś veröffentliche ich meinen Beitrag auf meiner persönlichen Homepage, noch vor der Fertigstellung des Buches. Die endgültige Fassung kann sich noch ändern: sei es durch weiteres Lektorat und Korrektorat, sei es durch den unklaren und unvorhersehbaren Verlauf der Ereignisse und politischen Umstände in Europa, auf dem Westbalkan und in der Türkei. Dennoch glaube ich, dass das Phänomen des grenzüberschreitenden Neopopulismus, wie im vorliegenden Fall von Bosnien und der Türkei, nicht so bald verschwinden wird. Das vollständige Literaturverzeichnis findet sich (hier) im ersten sowie im letzten Beitrag dieser Reihe, die aus acht Einzelabschnitten besteht, die ich als Serie veröffentlichen will, um sie anschließend auch als Gesamtbeitrag zur Verfügung zu stellen. Ich freue mich über jede Art von Feedback, konstruktiver Kritik und Verbesserungsvorschläge, die hoffentlich in den fertigen Beitrag einfließen können.

4. Der illiberale Rahmen für Gemeindepolitik in der Türkei

Die Türkei ist ein zentralisierter Staat mit strengen vertikalen Hierarchien, die auf der ersten Verfassung von 1982 aufbauen, nachdem in Folge des Militärputsches von 1980 der politische Prozess des Landes zwei Jahre weitgehend eingefroren worden war. Die institutionellen Strukturen der letzten vier Jahrzehnte tragen die erkennbaren Spuren der Militärjunta — und in der Tat, wie Ayşe Gül Altınay in ihrem bahnbrechenden Buch The Myth of the Military Nation (Altınay 2004) nachgezeichnet hatte, reichen die starken militaristischen Vermächtnisse in der Türkei bis in die späte osmanische Zeit, in die preußisch-osmanische Zusammenarbeit und die Anfänge der Republik zurück. Besonders aus Sicht vieler türkischer Perspektiven führte das lang anhaltende Intermezzo erfolgloser Versuche der Annäherung an den sogenannten Acquis Communautaire der EU, die in den 1990er Jahren an Fahrt aufnahmen, zu weit verbreiteter Frustration und Enttäuschung. Das türkische Anliegen einer Vollmitgliedschaft in der EU wurde wiederholt (und aus unterschiedlichen Gründen) zurückgewiesen. Dabei spielen der stockende Demokratisierungsprozess, die anhaltenden Verletzungen der Menschenrechte, der ungelöste Konflikt mit dem EU-Staat Zypern — und nicht zuletzt der Kurdenkonflikt und die Leugnung des Völkermords an den Armeniern eine große Rolle. Darüber hinaus spielten auf der Bühne der öffentlichen Meinungen jedoch immer wieder auch Fragen der Identität, (Nicht-)Zugehörigkeit und Ausgrenzung eine Rolle, ob auf europäischer oder türkischer Seite — wenn etwa die Europäizität der Türkei ganz in Frage gestellt wurde, oder türkische Politiker die EU als christlichen Club bezeichneten (Terzi 2012; „Die Türkei und die EU 2018“).

Der lange Schatten all dieser Konflikte schwingt in der hierarchischen Verflechtung der territorial-administrativen Strukturen der Türkei mit — und auch in der Art und Weise, wie die Beziehungen zu den Gemeinden auf dem Balkan hergestellt werden. In dieser Hinsicht ist ein territorial-administratives Merkmal der Türkei entscheidend: die Institution des Bezirksgouvernements (kaymakamlık) bzw. des Gouvernements (valilik), dessen Hauptverwalter, der Gouverneur, Kaymakam oder Vali genannt wird. Der Vali wird weithin als verlängerter Arm des Staates in die Stadt hinein betrachtet — und tatsächlich kann er als Parallelverwaltung zu den gewählten Bürgermeisterämtern gesehen werden.[1] Der Vali ist direkt an die Zentralregierung in Ankara gebunden und kann als solcher den Wahlprozess, insbesondere die Kommunalwahlen (Mahallî İdareler Genel Seçimleri), umgehen. Auf diese Weise wurden viele Gemeinderegierungen und Gemeindevorsteher, die bei den Kommunalwahlen 2019 gewählt worden waren, in der Zwischenzeit gewaltsam entlassen und durch Gouverneure ersetzt.

Dieser Verlauf drohte auch der Megacity Istanbul. Nachdem Ekrem İmamoğlu von der Oppositionspartei CHP die Kommunalwahlen 2019 in Istanbul im ersten Wahlgang (31. März 2019) gewonnen hatte, weigerte sich die Regierungspartei AKP — einem bekannten populistischen Muster folgend –, das Ergebnis zu akzeptieren; daher entschied das Präsidium, dass der Vali Ali Yerlikaya als amtierender Bürgermeister von Istanbul fungieren würde, bis die Wahlen im Juni 2019 wiederholt würden — nur um dann ein zweites Mal noch deutlicher vom „unerwünschten“ Kandidaten der CHP, Ekrem İmamoğlu, gewonnen zu werden. Doch während in Istanbul die Entscheidung der Wählerinnen schließlich vom Regime akzeptiert werden musste, war dies in vielen anderen Teilen des Landes — vor allem im Osten und Südosten Anatoliens — nicht der Fall. Die weit verbreitete Praxis der Absetzung, oft gefolgt von der Inhaftierung der politischen Gegner, betrifft vor allem Mitglieder der oppositionellen Demokratischen Volkspartei (Halkların Demokratik Partisi, fortan: HDP) mit ihren kurdischen Wurzeln. Vielen Kandidaten wurde vorgeworfen, Anhänger der militanten Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistanê, fortan: PKK) zu sein, die in der Türkei und in der EU als terroristische Organisation gilt („Turkey: Kurdish Mayors‘ Removal“, 2020). Während die PKK seit den 1990er Jahren einen bewaffneten Guerillakrieg und eine Reihe von tödlichen, terroristischen Anschlägen (vor allem, aber nicht ausschließlich gegen türkische Soldaten) geführt hat, hat sich die HDP-Führung wiederholt von Gewalt und bewaffnetem Widerstand distanziert. Im Gegenteil: sie tritt für eine politische Lösung für alle Bürger im Rahmen des türkischen Staates ein. Dennoch wird der Terrorismusvorwurf von der Regierungspartei AKP als zuverlässige Methode eingesetzt, um politische Gegner in den öffentlichen Meinungen zu diskreditieren. Diese Methode stößt auch bei den meisten anderen politischen Parteien in der Türkei auf Unterstützung.

Eine nationalistische Menschenmenge in Istanbul-Kadıköy, kurz nach den verwässerten Wahlen am 7. Juni 2015. Auf die Wahlen folgte eine Kette von gewalttätigen und blutigen Ereignissen, die vielen Menschen das Leben kosten sollten. Das „Kick-off“-Ereignis war der Terroranschlag gegen junge linke Aktivisten in Suruç, an der syrischen Grenze gelegen, genau gegenüber von Kobanê: jener kurdischen Stadt, die unter schwerem Beschuss militanter islamistischer Kämpfer stand, die mit dem sogenannten IS oder Daesh verbündet waren. Der türkische Präsident verkündete damals: „Kobanê wird fallen, es fällt im Moment„. Kobanê fiel nicht, doch drei Jahre später würde die türkische Armee selbst mit dem Angriffskrieg gegen Afrîn und der anschließenden Besetzung in die kurdischen Gebiete Nordsyriens einmarschieren. Bild aufgenommen von Thomas Schad im Jahr 2015.

Kritiker des gesellschaftspolitischen Gefüges der Türkei weisen die Terrorvorwürfe des AKP-Regimes gegen die HDP als willkürlich und manipulativ zurück: In den vergangenen Jahren, aber insbesondere nach dem gescheiterten Staatsstreich vom 15. Juli 2016, wurde überdeutlich, dass Terror- und Verschwörungsvorwürfe leicht jeden beliebigen politischen oder sogar persönlichen Gegner von Präsident Erdoğan treffen können (vgl. Turan/Çiçekoğlu 2019; Somay 2019). Laut der Politikwissenschaftlerin Bilgin Ayata (Ayata 2015) und des Juristen Rıza Türmen[2] wurde die HDP vom herrschenden Regime gerade deshalb angegriffen, weil sie als Hoffnung für die Demokratie gesehen worden wäre („HDP’nin Türkiyelileşmesi“, 2018): Die kurdisch verwurzelte Partei hatte ein liberal-demokratisches Verständnis des „Türkei-isch seins“ (Türkiyeli olmak) entwickelt, dass sie dem monoethnisch konnotierten „Türkisch sein“ (Türk olmak) entgegensetzte: Im Gegensatz zu letzterem kann die erstere Dachidentität (Türkiyeli) theoretisch alle ethnischen und sozialen Gruppen der Türkei aufnehmen, unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit, und ohne alle Mitglieder der so vorgestellten Gemeinschaft sprachlich, religiös-konfessionell, weltanschaulich oder hinsichtlich der Geschlechterordnung assimilieren zu müssen, wie es im Mainstream aller türkischer Parteien gängig ist. Das Bemühen der HDP um Geschlechtergleichheit drückt sich zum Beispiel in ihrem Prinzip einer doppelten, männlich-weiblichen Parteiführung aus (Trogisch 2015): Figen Yüksekdağ (eine Frau) und Selahattin Demirtaş (ein Mann) bildeten gemeinsam die ko-präsidentielle Führung der Partei: ein klarer Widerspruch zum patriarchalen Verständnis von Geschlechterrollen in der Regierungspartei AKP. Sowohl Yüksekdağ als auch Demirtaş wurden 2016 inhaftiert.

Jede ernsthafte Diskussion über die Möglichkeiten liberaler Bürgermeisterinnenkoalitionen muss den Fall der HDP berücksichtigen: Die HDP ist wahrscheinlich die einzige bedeutende liberale Partei in der Türkei — und bisher bei der Gründung von Geschwisterstädten mit dem Westbalkan (meines Wissens) abwesend. İmamoğlus republikanische, kemalistische Partei CHP ist im Großen und Ganzen gesehen keine Ausnahme, wenn es um „lebenswichtige“ nationale Fragen, wie den Kurdenkonflikt und die Kriegsführung, geht. Angesichts der schweren Last des nationalistischen, überwiegend illiberalen Erbes der CHP verdienen die von der HDP regierten Kommunen im Südosten und die Situation der inhaftierten und verfolgten Politikerinnen noch größere Aufmerksamkeit als der Sieg von Ekrem İmamoğlu — zumindest, wenn man die Leitfrage nicht aus den Augen verlieren will, ob aus liberalen Kommunalregierungen mögliche Alternativen entstehen könnten. Angesichts all dieser Konflikte und Reibungen kann es kaum überraschen, dass die bestehenden Geschwister-Städte-Arrangements zwischen überwiegend illiberalen türkischen Kommunen und ihren Partnern auf dem Balkan diese Spannungen oft ins Ausland exportieren. Dies sollen die folgenden Abschnitte zeigen.

Lesen Sie im nächsten Blog-Beitrag (Teil 5/8) dieser Serie mehr über die Entstehung bosniakisch-bosnisch-türkischer Geschwisterstädte vor dem hier beschriebenen Hintergrund. (In Bearbeitung, folgt in Kürze)

Fußnoten

[1] Erst kürzlich wurde der ehemalige Abgeordnete Berhan Şimşek von der CHP wegen seiner öffentlichen Äußerung im Fernsehen angeklagt, dass „der Vali ein Militanter ist, der Kaymakam ist ein Militanter, die Richter sind Militante (…)“. In einem Bericht der unabhängigen Nachrichtenseite T24 wurde er mit der Selbstverteidigung „der Kaiser ist nackt“ zitiert: Er habe nur das Offensichtliche gesagt. („Bakanlıktan „vali militan, kaymakam militan“, 2021; „CHP’li Berhan Şimşek: Valilerin iktidarın değil, devletin valisi“, 2021)

[2] Türmen ist ein ehemaliger Richter des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und Mitglied der Partei CHP.

Referenzen

Alle Referenzen finden Sie im ersten Blogbeitrag dieser Serie (hier klicken)

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