Vorbemerkung
Dieser Blogbeitrag gehört zu einer Serie unter dem Titel und der Leitfrage „Können Netzwerke von Kommunalverwaltungen den Aufstieg des grenzüberschreitenden Neopopulismus herausfordern?“ Die komplette Serie ist mein Beitrag zu einem Sammelband von Dr. Agata Rogoś, Postdoc-Stipendiatin an der Humboldt-Universität zu Berlin. Der Arbeitstitel des von Agata herausgegebenen, englischsprachigen Bandes lautet „Permeability of dispossession / Dispossession of borders„, weshalb dieser Text zuerst auf Englisch entstanden ist. Ich habe ihn mithilfe der kostenlosen Übersetzungssoftware DeepL aus Köln übersetzt und noch einmal leicht überarbeitet. In Übereinstimmung mit Agata Rogoś veröffentliche ich meinen Beitrag auf meiner persönlichen Homepage, noch vor der Fertigstellung des Buches. Die endgültige Fassung kann sich noch ändern: sei es durch weiteres Lektorat und Korrektorat, sei es durch den unklaren und unvorhersehbaren Verlauf der Ereignisse und politischen Umstände in Europa, auf dem Westbalkan und in der Türkei. Dennoch glaube ich, dass das Phänomen des grenzüberschreitenden Neopopulismus, wie im vorliegenden Fall von Bosnien und der Türkei, nicht so bald verschwinden wird. Das vollständige Literaturverzeichnis findet sich (hier) im ersten sowie im letzten Beitrag dieser Reihe, die aus acht Einzelabschnitten besteht, die ich als Serie veröffentlichen will, um sie anschließend auch als Gesamtbeitrag zur Verfügung zu stellen. Ich freue mich über jede Art von Feedback, konstruktiver Kritik und Verbesserungsvorschlägen, die hoffentlich in den fertigen Beitrag einfließen können.
2. Türkisch-bosnische Geschwisterstädte und ein semantisches Problem mit ‚Populismus‘
Die für das Verständnis des Kontextes der türkisch-bosnischen Geschwisterstädte und der Rolle des (Neo-)Populismus relevanteste, verwandte Fachliteratur und Vorarbeit, auf die ich aufbauen kann, lässt sich in drei Gruppen unterteilen: erstens, die türkisch-balkanische Öffentliche Diplomatie bzw. Public Diplomacy; zweitens, die ausufernde Fülle von Studien zum Thema Populismus; und drittens schließlich das Themenfeld der Städtepartnerschaften und der Städtediplomatie (City Diplomacy).
2.1 Türkisch-balkanische Öffentliche Diplomatie
Mit der immer sichtbarer gewordenenen Rolle türkischer Akteure auf dem Westbalkan ist das Feld der türkisch-bosnischen (bzw. bosniakischen) Beziehungen alles andere als untererforscht. Die Kontroversen rund um die Fluchtrouten zwischen Anatolien und der EU über die sogenannte Balkanroute, die wachsenden Spannungen zwischen dem zunehmend autoritär regierenden AKP-Regime in der Türkei und europäischen Politikern in den letzten Jahren, sowie die Anwesenheit weiterer, sogenannter „externer Akteure“ wie Russland und China haben das öffentliche und wissenschaftliche Interesse an diesem Kontext weiter erhöht. Daher gibt es eine Fülle von Artikeln über die türkisch-balkanische Öffentliche Diplomatie, einschließlich des Nexus des Neo-Osmanismus mit seiner Betonung der osmanischen Geschichte der gesamten Region. In die gleiche Kategorie von Studien gehören Arbeiten über Kulturdiplomatie und Soft Power, die sowohl durch Populärkultur (wie TV-Serien oder Tourismus), als auch durch formelle, kulturelle Initiativen und Kulturzentren gezielt hergestellt wird. Darüber hinaus sind Studien über die Rolle der Religion und ihren (Ab-)Gebrauch in der öffentlichen Diplomatie in diesem Bereich entscheidend und nicht wegzudenken. Die meisten Autoren sind sich einig, dass das Engagement offizieller türkischer Akteure auf dem Westbalkan stark von ihrer Betonung historischer, kultureller und religiöser Bindungen geprägt ist (Hagemann 2020; Demirtaş 2020; Kaya/Tecmen 2011; Tecmen 2018; Schad 2015; 2018; 2019; Öktem 2012; 2014; Bechev 2012; Öztürk/Gözaydın 2018; Baser/Öztürk 2020a; 2020b; Muhasilovic 2018; Balkan/Balkan/Öncü 2015; Saatçioğlu 2020; Pačariz 2020).
Das permanente Heraufbeschwören der gemeinsamen osmanischen Vergangenheit des Balkans und der Türkei wurde bereits 1998 als Neo-Osmanismus bezeichnet und auch kritisiert (Vgl. Yavuz 1998). Das kulturalistische Outfit dieser Aktivitäten sollte andererseits nicht zu dem Trugschluss führen, dass ökonomische Faktoren für das türkische Engagement auf dem Westbalkan weniger bedeutsam wären (Hake 2020); aus Gründen der Länge können rein ökonomische Aspekte, wie Handelsbilanzen, hier jedoch nicht separat behandelt werden, sondern werden als integrale Bestandteile der türkischen kulturellen Aktivitäten angesprochen: Wie ich bereits in Vorarbeiten argumentiert habe (Schad 2018; 2019), dienen die Renovierungen und Restaurierungen osmanischer architektonischer Stätten (wie Brücken, Moscheen, Derwischklöster und anderer Gebäude) dem Ziel, nicht nur den Raum, sondern auch das Image und das zuvor geringe Prestige der osmanischen Vergangenheit im Allgemeinen zu „gentrifizieren“; in ähnlicher Weise hat Ayşe Tecmen die Bemühungen der türkischen Public-Diplomacy-Förderung als „Nation Branding“ systematisch analysiert (Tecmen 2018). Im Fall des oft benannten „osmanischen Erbes“ (Osmanlı mirası) auf dem Balkan beinhaltet Gentrifizierung auch den Aspekt der zusätzlichen Wertschöpfung, die auf die reine Inwertsetzung eines jeweiligen Objekts folgt: Das Bau- oder Renovierungsobjekt ist auch eine Profitquelle für die jeweilige Baufirma und für die private und/oder staatlich gelenkte Holding, was im Zusammenhang mit der „Holdingisierung“ (Holdingleşme) des türkischen Konglomerats aus Wirtschaft und Politik von zentraler Bedeutung ist (Vgl. Schad 2019). Auf diese Aspekte werde ich im siebten Kapitel noch genauer eingehen.

Die Betonung der osmanischen Vergangenheit in den Kulturinitiativen der offiziellen türkischen Akteure ist der Grund dafür, dass die türkischen Aktivitäten von Beginn ihrer Sichtbarkeit auf dem Balkan an als Kulturdiplomatie (Cultural Diplomacy) klassifiziert wurden. Das Jahr 2009, in dem die erste Filiale des Yunus-Emre-Kulturzentrums in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo eröffnet wurde, kann als ein erster signifikanter Meilenstein angesehen werden (Kaya & Tecmen 2011, Schad 2018; 2019). Türkische Kultur und Kulturdiplomatie werden jedoch nicht nur auf direkte und subtile Weise von offiziellen Vertretern des türkischen Staates gefördert: unter dem Gesichtspunkt der Soft Power — die laut Joseph Nye, der den Begriff geprägt hat (Vgl. Nye 2008) — subtil wirken muss, um erfolgreich zu sein — war (und ist) die Popularität türkischer TV-Serien von enormer Relevanz (Batuman 2014; Özçetin 2018; 2019; Pekesen 2015; Vitrinel 2017, Schad 2018). Gerade der letztgenannte Aspekt der Subtilität impliziert, dass ein Verständnis der Anziehungskraft der „türkischen Kultur“ auf dem Balkan nicht allein durch die Untersuchung und Feststellung der Voluminosität der explizit sichtbaren Aktivitäten des herrschenden Regimes erklärt werden kann: Viel breitere Schichten der beteiligten Gesellschaften (z.B. TV-Konsumentinnen/-Prosumentinnen in Bosnien, in der Türkei und global) und ihre unterschiedlichen diskursiven Kontexte sind als informelle Akteure in den Prozess der Kulturdiplomatie als (Selbst-)Aufwertungsarbeit eingebunden.
Angesichts des islamistischen Hintergrunds der türkischen Regierungspartei AKP, ihres Vorsitzenden Recep Tayyip Erdoğans, aber auch eines Teils ihrer muslimischen Partner — vor allem der bosniakisch-bosnischen Partei der Demokratischen Aktion (Stranka Demokratske Akcije / fortan: SDA) (Latal & Büyük 2020) — ist die Bedeutung des religiösen Faktors in den Beziehungen vieler öffentlicher Diplomatinnen überdeutlich. Dies ist auch der Grund, warum Muhasilovic — in seiner ansonsten unkritischen Einschätzung — die AKP-geprägte Öffentliche Diplomatie zutreffenderweise als „faith-based diplomacy“ bezeichnet hat (Muhasilovic 2018). Andere Autorinnen verwenden die Begriffe des islamistischen oder islamischen Kapitals im Kontext des Neoliberalismus (Balkan, Balkan & Öncü 2015). Wie die Beispiele in diesem Artikel zeigen werden (Kapitel 7 & 8), werden religiöse Kategorien und Symbole von türkischen Akteuren im Ausland reichlich als identitäre Marker, mobilisierende Faktoren und als ihr „Alleinstellungsmerkmal“ verwendet – was sie mit gewissen Wettbewerbsvorteilen gegenüber anderen (z.B. europäischen) Konkurrenten auf dem Markt der öffentlichen Meinungsproduktion ausstattet (Porter 1998; Tecmen 2018).
2.2 Populismus
Im Gegensatz zur Fülle von Studien zur Öffentlichen Diplomatie und zu Populismus im Allgemeinen gibt es bisher keine Studien zum Neopopulismus im bosniakisch-türkischen Kontext, wie er hier verstanden wird: Neopopulismus ist ein grenzüberschreitendes Phänomen, das mehr als eine nationale Öffentlichkeit anspricht. Um die relative Abwesenheit von Literatur zu diesem Thema zu erklären, sollte eine Sichtung ausgewählter Arbeiten zum Populismus hilfreich sein. Dabei behalte ich zwei Grundannahmen im Blick: Erstens kann (und sollte) der türkisch-bosniakische Neopopulismus, wie jede andere Form des zeitgenössischen Populismus, in einen viel breiteren, europäischen und sogar globalen Kontext des Aufstiegs illiberaler, populistischer Bewegungen eingeordnet werden. Dies ergibt sich allein schon aus der Tatsache, dass die medialisierte Öffentlichkeit in einem vorher nie da gewesenen Maß entgrenzt und kosmopolitisiert ist. Zweitens, und trotz der allgemeinen Probleme der Vagheit und des Dissenzes in den häufigsten Definitionen des Populismus (Vgl. Mudde & Rovira Kaltwasser 2017; Rosanvallon 2020), sollen die am häufigsten angenommenen Kernelemente des Populismus (Volk, Elite, Vox Populi, etc.) hervorgehoben werden, weil die Betrachtung dieser Begriffe helfen können, zu verstehen, warum das Konzept des Populismus sowohl eine passende, als auch problematische Kategorie in dem gegebenen, grenzüberschreitenden Kontext der Türkei und Bosnien ist — und weshalb besser von Neopopulismus die Rede sein sollte, wenn beschrieben wird, was sich in diesem zunehmend entgrenzten Zwischenraum entfaltet.
Populismus wird oft als ein Phänomen beschrieben, das sowohl auf der Linken als auch auf der Rechten auftritt, wie es von Cas Mudde und Cristóbal Rovira Kaltwasser, Chantal Mouffe, Ernesto Laclau und zahlreichen anderen Autorinnen beschrieben wurde (Mudde & Rovira Kaltwasser 2017; Laclau 2005; Mouffe 2018; 2020). Mouffe und Laclau sind die prominentesten Vertreter eines linken Populismus (Laclau 2005; Mouffe 2018) — eine These, die zuletzt von dem französischen Historiker Pierre Rosanvallon kritisch diskutiert wurde, auf dessen „Anatomie des Populismus“ sich diese Studie maßgeblich stützt (Rosanvallon 2020). Im Kontext des aktuellen Scheiterns von Rechtspopulisten wie Jair Bolsonaro oder Donald Trump in der Covid19-Pandemie hat Mouffe die Diskussion wiederbelebt, ob der Linkspopulismus ein Heilmittel für den Rechtspopulismus sein könnte (Mouffe 2020). Die Tatsache, dass Populismus so unterschiedlichen Regimen und Bewegungen wie Podemos in Spanien oder dem Phänomen Erdoğan in der Türkei zugeschrieben wird, hat dazu geführt, dass der Begriff des Populismus allgegenwärtig ist, während eine kohärente Theorie noch fehlt (Rosanvallon 2020) — was eine ständige Herausforderung für Populismusforscher darstelle, so Mudde und Rovira Kaltwasser (2017, S.1.).
Im Kontext dieser Arbeit vergrößert der grenzüberschreitende Charakter des Populismus mit Akteuren sowohl aus der Türkei als auch aus Bosnien die Verwirrung noch, auch angesichts der Tatsache, dass ihr Aktionsradius bei weitem nicht auf Südosteuropa und Anatolien beschränkt ist. Die einflussreichsten politischen Parteien — die türkische Regierungspartei AKP und die bosnisch-bosnische SDA — sind zwar zweifelsohne illiberale und rechte Parteien; sie verwenden aber oft das gleiche (wenn auch semantisch nicht unbedingt dasselbe) Vokabular wie liberale oder linke Akteure in einem sich zunehmend überlappenden, geografischen und sozialen diskursiven Kontext, der kaum von Diskursen in Westeuropa, Nordamerika oder anderswo zu trennen ist: Antimuslimischer Rassismus, Islamophobie und die Verurteilung von Völkermord sind Themen illiberaler Islamisten, wie sie vom AKP-Regime und seinen Unterorganisationen vertreten werden (Nordhausen 2020, Khorchide 2020) — während sie gleichzeitig auch häufige Themen liberaler Meinungsmacher mit keiner erkennbaren islamistischen Zugehörigkeit sind, z. B. in Westeuropa, wo sie als genuin liberale Themen gelten (vgl. Lewicki 2017a; 2017b; Sinani 2017; Baser & Lewicki 2017).
Eines der eindrucksvollsten Beispiele für diese widersprüchliche Überschneidung von illiberalen (oder rechten) und liberalen (oder linken) Diskursen — wenn die Binarität Links/Rechts in diesem Zusammenhang überhaupt Sinn macht — ist der jährlich erscheinende, sogenannte „European Islamophobia Report“ (vgl. Bayraklı & Hafez 2017). Bayraklı & Hafez 2017), der von SETA, einem türkischen globalen Think Tank, der der türkischen Regierungspartei AKP angehört, herausgegeben wird: Einige seiner Autoren haben paradoxerweise sowohl bei SETA, als auch über den Fall der vom illiberalen, antidemokratischen türkischen Regime Verfolgten publiziert (Lewicki 2017, Baser & Lewicki 2017). Dieses Beispiel zeigt, wie schwierig es im digitalisierten und vernetzten Zeitalter ist, von Populismus in der Türkei zu sprechen, der für alle Angehörigen der globalen Akademikerinnenschaft eindeutig als solcher zu erkennen wäre — da die Thesen der populistischen Sprecher ein globales, grenzüberschreitendes Publikum erreichen, indem sie Themen und Buzzwords appropriieren und einen neuen — neopopulistischen — Kontext herstellen. Eine präzisere Bezeichnung für diese Unübersichtlichkeit könnte Populismus aus der Türkei sein.
Vielleicht noch folgenreicher ist, dass Begriffe wie Populismus, Liberalismus, Islamophobie und unzählige andere Beispiele mit einer Verwässerung, einer zunehmenden Vagheit und einer abnehmenden Aussagekraft konfrontiert sind: ein Effekt, der von Myriaden hastig geschriebener „Papers“ einer oft prekär tätigen Akademikerinnenschaft angetrieben zu werden scheint, die sofort auf akademischen OSN geteilt werden — begleitet von unzähligen, unbearbeiteten, zwangsläufig knappen ad hominem Kommentaren, die in den abgründigen Tiefen der angeblich „sozialen“ Online-Netzwerke die Kluft der Polarisierung des Meinungsmarktes weiter auseinandertreibt. Der akademische Diskurs und sein Feld erfehren einerseits eine neue Offenheit, was bedeutet, dass die alten „Gatekeeper“ des Diskurses (Vgl. Lippmann 1922) weniger einflussreich sind als früher: Die Grenzen sind offen. Andererseits läuft der Diskurs in die Gefahr der Verflachung des Argumentes und der Verunwissenschaftlichung, wenn das Scheinargument des argumentum ad hominem und — im weiteren Rahmen der populistischen Meinungsherstellung — des argumentum ad populum das logische Argument ablöst. Über die in die „sozialen“ Netzwerke über „Icons“, „Likes“, „Herzchen“ usw. eingebauten Affekte und ihre strenge Binarität kann dies Wissenschaftlerinnen ebenso betreffen wie die gesamte Sphäre der öffentlichen Meinungsbildung.
Die semantischen Effekte auf das bisher national gerahmte Verständnis von Populismus sind durch die Entgrenzung des Meinungsraumes erheblich, da die Entgrenzung das Kernkonzept des Populismus schlechthin in Frage stellt bzw. weitet: das Volk. Nach Mudde und Rovira Kaltwasser „hat der Populismus drei Kernbegriffe: das Volk, die Elite und den allgemeinen Willen“ (Mudde & Rovira Kaltwasser 2017, S. 9.). Im bosniakisch-türkischen Kontext stellt sich aber noch aus anderen Gründen die Frage, wer das Volk eigentlich ist: Wenn sich die Annahme als richtig erweist, dass es sich bei dem, was zwischen der türkischen Mainstream-Politik und den bosnischen Kommunen im Spiel ist, tatsächlich um eine neue, aufkommende Form des Populismus — den Neo-Populismus — handelt, der ein wie auch immer geratenes Volk einbezieht, das jedoch nicht mit einer imaginierten, nationalen Gemeinschaft kongruent ist, dann impliziert die formale Logik, dass etablierte Konzepte des Volkes ebenso prozesshaft und transformierend sind wie das Konzept des Populismus selbst. Bosnien-Herzegowina mit seinen drei konstitutiven Völkern — ohne dabei ein bosnisches Volk zu berücksichtigen — bildet in vielerlei Hinsicht eine zusätzliche Ausnahmeerscheinung.
Der in abnehmendem, aber fortbestehendem Maße salonfähige Kernbegriff des Volkes — imaginiert als das Volk eines Nationalstaates — ist auch dann für die begriffliche Beharrlichkeit des nationalen Rahmens verantwortlich, wenn Neopopulismus in grenzüberschreitenden (oder globalen) Kontexten thematisiert wird. Obwohl Mudde und Rovira Kaltwasser (2017) (wie zahlreiche andere Autoren) den Populismus zum Beispiel in Lateinamerika oder in Europa thematisieren — was supranationale Kategorien sind — werden diese von den Autoren als Sammelbegriff verwendet, um ähnliche Muster innerhalb einzelner Nationalstaaten zusammenzufassen: der Oberbegriff in Europa bezeichnet nicht einen Populismus, der europäisch ist, sondern verschiedene Populismen, die europäisch sind. Und in der Tat mag der nationale Blickwinkel als die kohärenteste Perspektive erscheinen — angesichts der Tatsache, dass Populistinnen (und insbesondere nativistische Populistinnen) fast immer im Namen ihrer Nation(en) und ihres Volkes sprechen. Zudem unterscheiden sich die Verhältnisse innerhalb Europas teilweise so diametral — man denke nur an die Zentrifugalkraft des Brexit — dass es keinen Sinn machen würde, Länder wir Polen und Spanien in ein und dieselbe Kategorie zu stecken.
Der türkisch geprägte Neopopulismus erinnert an die Pan-Bewegungen der Vergangenheit (Vgl. Bougarel 2018), und auch wenn es den meisten Zeitgenossen absurd erscheinen mag: Öffentliche Diplomaten aus der Türkei argumentieren offen und wiederholt, dass ihr Volk — das türkische Volk — mit einem anderen Volk, wie dem bosniakischen Volk oder dem des Kosovos, identisch sei. Auch in den jüngst hervorgehobenen Beziehungen zwischen der Türkei und Aserbaidschan liest man nicht selten — und bereits seit Jahrzehnten — den populären Slogan „ein Volk, zwei Staaten“ (bir millet iki devlet), der auch das Motto ist, das hinter einem eingebetteten türkisch-aserbaidschanischen Nachrichtenportal namens „Zwei Staaten eine Nachricht“ („İki Devlet Bir Haber„) steht. Für sich genommen — und abgesehen von jeder weiteren Beurteilung seiner Angemessenheit — könnten die Tendenzen der Türkei, eine inklusive, besitzergreifende, neue Vision eines grenzüberschreitenden Volkes zu verkünden (mit sich selbst im Zentrum) vielleicht als eine Art Avantgarde des Populismus interpretiert werden.
In jedem Fall zeigt das grenzübergreifende Sendungsbewusstsein führender türkischer Neopopulisten, dass die Enge des nationalstaatlichen Fokus die Entwicklung neuer, breiterer Formen des Populismus übersehen kann. Diese neuen Formen sind expansiv und gehen über nationale Grenzen hinaus: Wie der Fall der bosnisch-türkischen Geschwisterstädte zeigt, projiziert sich diese neue Form des Neopopulismus unter anderem in Form von grenzüberschreitenden Städtepartnerschaften, die weithin als inhärent liberal orientierte Aktionsformen angesehen wurden. Die Anwendung des nationalen Rahmens könnte sich jedoch als eine weitere Form des methodischen Nationalismus (Beck 2016; Wimmer & Glick Schiller 2003) in einer Ära der unscharfen (verschwimmenden) Grenzen erweisen (Vgl. Gupta, Nugent & Sreenath 2015) — obwohl es zu diesem Zeitpunkt völlig unklar bleibt, wie weitreichend, folgenreich oder kurzlebig die neopopulistischen Imaginationen aus der Türkei sein werden — und was auf lange Sicht „mit dem Volk passieren wird“.
Schließlich sollte noch die gängige, aktuelle Unterscheidung zwischen populistischen Parteien und nativistischen Parteien angesprochen werden. Während Nativismus angeblich häufiger in nordamerikanischen und westeuropäischen (mittel-, nordeuropäischen) Gesellschaften mit einem hohen Anteil an zugewanderter Bevölkerung vorkommt, ist der klassische Populismus laut Cas Mudde und anderen in Mittel- und Osteuropa stärker ausgeprägt (Die demokratische Gesellschaft 2020; Mudde 2017). Mudde argumentiert, dass die Verwendung des Begriffs Populismus zur Beschreibung migrantenfeindlicher Parteien eine Form von „beschönigendem Rassismus“ sei — denn Nativisten hetzten vor allem gegen Einwanderer; außerdem fehle ihnen im Vergleich zu klassischen Populisten tendenziell eine starke Führung (Mudde 2017). Die Abgrenzung zwischen Nativismus und Populismus ist Gegenstand anhaltender Diskussionen und Meinungsverschiedenheiten (Vgl. Vieten 2020). Nach dieser (fragwürdigen) Unterscheidung wäre die türkisch-bosniakische Form des Neopopulismus eher nicht als Nativismus zu qualifizieren: Flüchtlinge, Neuankömmlinge oder Außenseiter — im Gegensatz zu den Autochthonen oder Etablierten (Vgl. Vieten 2020; Elias/Scotson 2013) — werden von der türkischen Regierungspartei AKP nicht als das problematische „Andere“ ins Visier genommen; Flüchtlinge und Opfer von Völkermord im Ausland (z. B. die Bosniaken) werden in den ständigen und populistischen Angriffen des Regimes gegen Europa sogar als Propagandamittel eingesetzt (Idiz 2015). Mit seinem sich als „stark“ gerierenden Führer wäre das AKP-Regime eher als klassische, populistische Partei zu qualifizieren. Auch hier bleibt die heikle Frage ungeklärt, wo und wie der Populus der Populisten zu verorten und zu definieren sei — und die Unterscheidung zwischen Populismus und Nativismus kann auf den ersten Blick keinen überzeugenden Ausweg aus diesem typologischen Dilemma bieten.
2.3 Städtepartnerschaften und Städtediplomatie
Da sich diese Studie auf türkisch-bosnische (bzw. -bosniakische) Arrangements von Gemeinden, Städten und Stadtteilen konzentriert, verdienen die Literatur über Städtepartnerschaften und die neueren Begriffe der Paradiplomatie und Städtediplomatie Aufmerksamkeit. Wie Andreas Langenohl in seiner Studie über einen deutschen Kontext nachzeichnet, gewannen Städtepartnerschaften direkt nach dem Zweiten Weltkrieg an Dynamik, wobei Westdeutschland und Frankreich frühe Hochburgen waren. Die ersten internationalen Städtepartnerschaften im postnazistischen Deutschland wurden jedoch mit britischen und US-amerikanischen Kommunen gegründet. Bald darauf wurde das Projekt der Deutsch-Französischen Freundschaft (Amitié Franco-Allemande / Deutsch-Französische Freundschaft) zum prominentesten Fall und übertraf alle anderen, länderübergreifenden Partnerschaften in Europa (Langenohl 2015). Die Austauschaktivitäten dieser Arrangements gehörten wohl zu den konkretesten Erfahrungen der europäischen Integration im Lebenslauf vieler Europäer — noch vor der „Generation Erasmus“.
Diese Aktivitäten wurden oft als wesentlich für den Versöhnungsprozess zwischen den beiden ehemaligen Erzfeinden angesehen — nicht nur beim Abbau gegenseitiger Stereotypen und feindlicher Gefühle, sondern auch auf der interkommunalen Ebene der Politik: Ausgehend von einer Initiative Schweizer Intellektueller wurde 1948, nur wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, ein erstes Treffen französischer und deutscher Bürgermeister auf dem Mont Pélérin arrangiert. Langfristig führte diese erste Initiative zur Internationalen Bürgermeister-Union (UIM / IBU), die die Austauschaktivitäten am Leben hielt (Langenohl 2015, S. 18-19.). In den folgenden Jahrzehnten entwickelten sich weitere Koalitionen, wie die Europäische Städtekoalition gegen Rassismus, der auch die drei türkischen Kommunen Şişli, Kadıköy (beide in Istanbul) und Antalya angehören („European Coalition of Cities against Racism“). Die Türkei hat jedoch in der Zwischenzeit eigene Programme und Gemeindekoalitionen ins Leben gerufen (Kapitel 4), die nicht Teil des europäischen Integrationsrahmens sind: Sie setzen dem europäischen Integrationsprojekt vielmehr ihr eigenes, türkisches Projekt in seiner bemerkenswerten neo-osmanischen Gestalt und mit der Vision eines erweiterten „Volkes“ entgegen. Sie tun diese, indem sie grenzüberschreitende „Verwandtschaft“ bzw. „Geschwisterschaft“ postulieren.
Nach Nurcan Özgür-Baklacıoğlu, einer der frühesten Analytikerinnen der verwandtschafts- und identitätsorientierten Außenpolitik der Türkei, ist deren Betonung von „verwandten“ oder „verwandtschaftlichen Gemeinschaften“ (akraba topluluklar) entscheidend. So könnten die türkisch-bosniakischen Geschwisterstädte als Ausdruck einer „neo-osmanischen Verwandtschaftspolitik auf dem Balkan“ gesehen werden (Özgür Baklacıoğlu 2006; 2015). Die Konstruktion diskursiver Verwandtschaft im Ausland steht jedoch in engem Zusammenhang mit der innertürkischen Dynamik des sogenannten hemşehrilik oder „Herkommen aus derselben Stadt“ (fortan: hemşehrilik) — ein Muster der Soziabilität und (Wieder-)Ansiedlung, das unbedingt berücksichtigt und in Kapitel 5 ausführlicher beschrieben werden muss.
Das Phänomen hemşehrilik wurde von Ayça Kurtoğlu am Beispiel des Machtverhältnisses zwischen dem Staat, dem Stadtteil Keçiören in Ankara, und der ländlichen Herkunft seiner Bewohner mit ihren Bindungen zu Mitbürgern (oder „Verwandten“) in ihrem Heimatort/-land (memleket) akribisch beschrieben (Kurtoğlu 2004; 2005). Im Fall Kurtoğlus Studien befindet sich das memleket innerhalb des türkischen Mutterlandes (anavatan). Die Bedeutung dieser Machtstruktur, die 2005 (online 2009) im Dossier über hemşehrilik des European Journal for Turkish Studies vertieft worden ist (Hersant & Toumarkine 2005 [2009]), ergibt sich aus der Tatsache, dass sowohl hemşehrilik im innertürkischen Kontext, als auch die Geschwisterarrangements zwischen türkischen und nicht-türkischen Städten zur Etablierung ähnlicher, klientelistischer Beziehungen genutzt werden können; beide beruhen sowohl auf agnatischen Beziehungen und Bindungen der räumlichen Zugehörigkeit, auch wenn die Agnation in vielen Fällen eher konstruiert als biographisch gegeben ist — und manchmal ist sie beides.
Darüber hinaus muss der türkische Begriff der Geschwisterstädte (kardeş şehir) in einem Kontext verortet und gelesen werden, den Nükhet Sirman als „the making of familial citizenship in Turkey“ (Sirman 2005; 2008) bezeichnet hat, von wo aus er die nationale Grenze verlässt und überschreitet: Sirman zufolge wird der Staat als Haushalt imaginiert und die Staatsbürgerschaft als hierarchische Beziehung zwischen Verwandten innerhalb dieses Haushalts. Am hilfreichsten für ein tieferes Verständnis — aus der Perspektive eines Außenstehenden –, wie türkische Familientropen und räumliche Kategorien wie „Vater Staat“ (devlet baba) und „Mutterland“ (anavatan) miteinander verwoben sind, ist Carol Delaneys anthropologische Arbeit über die metaphorische Paarung von „Samen und Boden“ (The Seed and the Soil, Delaney 1991; 1995).
Nicht zuletzt wurde in neueren Studien der Begriff der Städtediplomatie (City Diplomacy) verwendet (Burksiene / Dvorak / Burbulytė-Tsiskarishvili 2020), um den politischen Einfluss zu erfassen, den Koalitionen von Bürgermeistern und Städtepartnerschaften ausüben können. Meines Wissens wurde dieser Begriff in Studien über türkisch-bosnische (bosniakische) Geschwisterstädte nicht verwendet — aber wie das Beispiel der offiziellen Ausladung Orhan Pamuks durch die Stadt Sarajevo zeigen wird (Kapitel 7), spielten die Hintergrundstimmen der AKP-dominierten Partnerstädte Sarajevos aus der Türkei eine entscheidende Rolle bei diesem Skandal. Geschwisterstädte, Bezirke und ihre Repräsentanten können also als Unterhändler oder Diplomaten mit politischer Agenda agieren und tun dies auch — sowie als Akteure einer gemeinsamen Wirtschaft mit ihren jeweiligen eigenen Marktinteressen. Bevor jedoch einige der Aktivitäten in diesen Settings untersucht werden können, müssen die wichtigsten territorial-administrativen Merkmale des türkischen Staates berücksichtigt werden, der als proaktiver, „älterer Bruder“ (ağabey) auftritt.
Lesen Sie im nächsten Blog-Beitrag (Teil 3/8) dieser Serie mehr über Die territorial-administrative Struktur der Türkei. (in Überarbeitung)
Referenzen
Alle Referenzen finden Sie im ersten Blogbeitrag dieser Serie (hier klicken)
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