[Öffentliche Meinungen] „Gezi ist jetzt acht“ (I): Istanbul zwischen Farbenfreude und Ergrauen

Vor ein paar Tagen kursierte in den Online Social Media die Botschaft „Gezi ist acht Jahre alt“ (Gezi 8 yaşında) — als handle es sich bei den türkischen Protesten vom Spätfrühling und Sommer 2013 um ein kleines Kind, das allmählich heranwächst. Ein geschlagenes Kind, muss man jedoch dazu sagen: wie wahrscheinlich noch die meisten Türkei und Istanbul affinen Leserinnen lebhaft im Gedächtnis haben, hatten die Proteste als friedvolles Sit-in im Istanbuler Gezi-Park begonnen, den sie vor Bebauungsplänen der Regierung schützen wollten. Von dort aus haben sie sich schnell zu einem Massenprotest entwickelt, der bald die gesamte Türkei ergriff. Auch im Ausland machte Gezi Schlagzeilen. Es wurde oft darüber diskutiert, inwiefern Gezi mit anderen massenhaften Protesten der digitalisierten und medialisierten Ära zu vergleichen wäre: mit der Arabellion (damals meist noch als „Arabischer Frühling“ bezeichnet) von 2011, mit Podemos in Spanien 2011/2012, mit den iranischen Protesten 2009, mit den bulgarischen Protesten und vielen anderen mehr. 

Die Gezi-Proteste wurden letztlich von der türkischen Regierung brutal niedergeknüppelt und konnten nur durch den Einsatz massiver Gewalt eingedämmt werden. Das (figurative) Gezi-Kind trägt daher auch den Namen von Toten: Der 14jährige Istanbuler Jugendliche Berkin Elvan starb nach neunmonatigem Koma 2014, nachdem er von einer Tränengasgranate in den Hinterkopf getroffen worden war. Dabei war Berkin gar nicht unter den Protestierenden im Gezi-Park: er befand sich nach Aussage seiner Eltern gerade auf dem Weg zum Brotkauf.

Nach der Niederschlagung von Gezi, so könnte man sagen, ist in der Türkei eine andere, strengere und farblosere Atmosphäre eingetreten, die sich auch auf das Ansehen des Landes im Ausland stark auswirkt. Das noch herrschende Regime der Partei AKP um den Patriarchen, Führertypen und Pop-Islamisten Recep Tayyip Erdoğan hat seitdem eine immer härtere, verhärmtere und zuletzt auch ganz eindeutig gangsterhafte Fratze angenommen. Obwohl es einige wohlmeinende Geistes- und Sozialwissenschaftlerinnen auf der globalen Bühne reichlich spät gemerkt haben, ist die Zeit nun definitiv vorbei, da das AKP-Regime einigermaßen glaubwürdig mit Begriffen wie „moderater politischer Islam“ und „Modell für die islamische Welt“ etikettiert werden konnte. Meiner Meinung nach war das schon 2006/2007 kein glaubwürdiges Etikett, was ich später noch begründen werde. 

Es sollte inzwischen mehr als klar sein, dass es sich beim demokratiefeindlichen und unfreiheitlichen Mindset der AKP-Leute um ein demagogisches, neo-populistisches Regime mit starken identitären Zügen handelt. Als solches ist es auf gesellschaftliche Spaltung, Hassreden, Feindbilder und Gewalt zwingend angewiesen. Dadurch spielt es in einer ähnlichen Liga wie Modi in Indien, Bolsonaro in Brasilien, Trump in den USA oder Netanyahu in Israel. Bemerkenswert am AKP-Regime ist jedoch, dass es hemmungslos auf dem Feld der liberalen öffentlichen Meinungen plündert, indem es mit Begriffen wie Rassismus, Islamophobie, Feminismus, Demokratie und vergleichbarem um sich schießt. Diese Widersprüche dürften auch der Grund für die große Verwirrung so vieler aktiver wie passiver Unterstützerinnen der angezählten Führerfigur Erdoğans sein.

Ich will mich in diesem Beitrag mit dem gründlich misslungenen Aspekt des nation brandings der Türkei beschäftigen, und zwar, indem ich einige persönliche Schlaglichter auf meine längeren und kürzeren Aufenthalte in der Türkei seit 2006 werfe. Nation branding bezeichnet die Bemühungen, die seitens politisch, medial und kulturell aktiver Protagonistinnen eines Landes unternommen werden, um das Ansehen oder den Ruf eines Landes in den grenzüberschreitenden, öffentlichen Meinungen zu verbessern. Das Ziel dieser Bemühungen ist es, positive Veränderungen auf dem Gebiet des Tourismus, der Direktinvestitionen, des kulturellen Ansehens und der grundsätzlichen Attraktivität eines Landes zu erwirken. Die so erzeugte Macht wird — im Gegensatz zur harten, militärischen Macht eines Landes — als soft power (weiche Macht) bezeichnet. Andere, nicht-türkische Beispiele für nation branding und soft power finden sich im branding Deutschlands als Ort qualitativer Hochwertigkeit industrieller Produktion (Made in Germany), in der Versprechung der Vereinigten Staaten von Amerika des American Dreams, oder, um zu einem illiberaleren Beispiel zu gelangen, in der indischen Kampagne, Yoga als „Indiens Geschenk an die Welt“ zu instrumentalisieren. 

Wie diese Beispiele bereits andeuten, können opinion technicians eines Landes einiges dafür tun, um die national brand auszugestalten, um sie um- und aufzuwerten. Andererseits liegt dieser kommunikative Prozess auch nicht ganz in ihren Händen: betrachtet man den Prozess des nation brandings als kommunikativen Prozess, an dem nicht nur Senderinnen, sondern auch Rezipientinnen Anteil haben, dann muss festgestellt werden, dass Meinungstechnikerinnen nicht ohne Wahrnehmung und Beachtung bereits bestehender Stereotypen, Vorurteile, historisch gewachsener Meinungsbilder und allgemeiner gesprochen: der Außenwahrnehmung auskommen. Kampagnen des nation brandings, etwa über touristische Werbekampagnen oder Restaurationstätigkeiten an Kulturgütern, können ins Leere verlaufen oder nicht den gewünschten Effekt zeitigen, wenn positive Bilder von kriegsähnlichen Szenen prügelnder Polizei, Tränengaswolken, Bombenanschlägen und anderen abschreckenden Gewaltbildern überlagert werden. Für beides steht Gezi in seiner ganzen Komplexität: in der positiven Außenwahrnehmung, zumindest in Deutschland und in weiten Teilen der europäischen Öffentlichkeit, wurde Gezi positiv etikettiert. Die Niederschlagung von Gezi sowie alles, was an repressiven Maßnahmen in den folgenden acht Jahren folgte, hat sich negativ auf die öffentliche Wahrnehmung und die „Marke Türkei“ ausgewirkt. 

Die gesellschaftlichen Konflikte in der Türkei werden in einem sehr ausgeprägten Maß sowohl von türkischen als auch von internationalen Beobachtern immer wieder auf einer symbolischen Ebene beschrieben. Wie verzahnt die symbolische und die „reale“ Ebene der Wirklichkeit sind, zeigt der ewige Kopftuchstreit. Ich will in diesem und den folgenden Beiträgen aber nicht darauf eingehen, sondern mich anlässlich der Gezi-Proteste mit einem sehr viel zentraleren, symbolischen Element beschäftigen: jenem der Farbe und der Farblosigkeit. Ich habe seit 2006/2007, als ich mich das erste Mal für längere Zeit in der Türkei aufgehalten habe (ich verbrachte damals zwei Semester in Istanbul), eine Entwicklung beobachtet, die sich vielleicht als „Grauwerdung“ bezeichnen lässt. Vor Gezi entwickelte sich Istanbul zu einer immer farbenfroheren Metropole. Nach Gezi hat das herrschende Regime den Farben den Kampf angesagt, und zwar auf eine sehr wörtlich, aber auch symbolisch zu verstehende Weise. Diesem meines Wissens kaum beschriebenen Konflikt zwischen Farbenfreude und Ergrauen will ich in den folgenden Beiträgen nachgehen.

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