[Pandemos] Mittendrin: wie einer Freiwilligenkollegin die Zeit ausging. In memoriam Meike († 3.2.2005)

Meike Schneider ist am 3. Februar 2005 viel zu früh gestorben — vor inzwischen bereits unglaublichen 16 Jahren. Alle FreiwilligenkollegInnen von früher werden sich aber mit Sicherheit noch „wie gestern“ an Meike erinnern. Ich will einerseits ein paar Erinnerungen teilen, doch der eigentliche Anlass für diesen Beitrag (neben dem 16. Jahrestag) sind zwei Zitate aus dem Buch, das uns Meike hinterlassen hat. Letztere halte ich gerade jetzt für passend: während der Pandemie und des Lockdowns. Ich habe mich außerdem lange vor diesem Beitrag gefragt, ob ich überhaupt über Meikes Tod schreiben soll — oder darf: vielleicht reißt es alte Wunden wieder auf. Und natürlich ist es etwas sehr persönliches, über einen verstorbenen Menschen zu schreiben — weshalb es auch eine Frage der Pietät ist, wer über den betreffenden Menschen schreibt. Und obwohl wir uns freundlich zugewandt waren, waren Meike und ich schließlich nicht die allerengsten Freunde — wofür uns auch gar keine Zeit geblieben wäre. Aber es gab jene sehr engen Momente, die Außenstehenden schwer zu vermitteln sind.

Mit Außenstehenden meine ich Menschen, die nicht gleichzeitig Freiwilligendienst bei Schüler Helfen Leben (SHL) geleistet haben. Diejenigen hingegen, die genau das in den Jahren zwischen den Jugoslawienkriegen und Mitte der Nullerjahre getan haben, wissen, dass wir eine ganz besondere, merkwürdig gemischte und irgendwie auch „verschworene“ Gemeinschaft bildeten: zwischen Neumünster, Hamburg, Berlin, Sarajevo, Rahovec/Orahovac und den Orten unserer jeweiligen Herkünfte. Meike war zusammen mit meinem guten Freund Philipp Freiwillige im Kosovo, während ich mein zweites Freiwilligenjahr in Sarajevo verbrachte. Von den so entstandenen, „engen Momente“ will ich im folgenden nur eine Anekdote erzählen, bevor ich zu Meikes eigenen Worten komme.

Rahovec/Ораховац im Januar 2003. Quelle: eigenes Bild.

Meike und Philipp waren eines Tages im Jahr 2002 zu uns nach Sarajevo gefahren, wo alles „ganz normal“ war. Sie nutzten eine Dienstfahrt, um sie mit wenigen Tagen Eintauchen in Normalität zu verbinden. Normalität hieß, dass man einfach die Waschmaschine anschalten konnte, dass es permanent Strom gab, dass man sich (abgesehen von den Minenfeldern) frei und sicher bewegen konnte. Es ratterte nicht im Hintergrund ein Stromaggregator — und zwar nur für ein paar Stunden, um alsbald für ein paar längere Stunden wieder abgestellt zu werden. Im Kosovo war das damals so: ein paar Stunden gab es Strom, ein paar Stunden gab es keinen. Auch ein Jahr später (im Januar 2003) war das noch so, als ich als erster Vorsitzender des Vereins dorthin fuhr: nach Rahovec/Orahovac, Velika Hodža und Prizren. Bei meiner Projektreise waren die damaligen Kosovo-Freiwilligen (d.h., die Generation nach Meike und Philipp) extra mit mir in das verhältnismäßig schmucke Prizren gefahren, um dort in einer schönen Pizzeria zu essen — als plötzlich die Lichter ausgingen. Die Kerzen, die auf den Tischen flackerten, hatten also tatsächlich viel mehr als nur einen dekorativen Zweck. Doch nicht für allzu lange: gleich ging das Geknatter von draußen los. Die Aggregate wurden angestellt. Die Lichter gingen wieder an. Die Kerzen kehrten zurück zu ihrer Funktion als romantisches Beiwerk. Die Pizza — die auf dem Balkan mit einer Extraportion Mayonnaise und Ketchup gereicht wird — schmeckte ganz hervorragend.

Prizren im Januar 2003. Quelle: eigenes Bild.

Das alles war Teil des „Mythos Kosovo-Freiwillige“, der unter SHL-erInnen eine Art Eigendynamik entwickelte. Vielleicht als Teil des „corporate myths“, unseres Vereins? Kosovo-Freiwillige fuhren demnach nicht mit normalen Autos: sie fuhren allradbetriebene Jeeps. Sie hatten wahnsinnig spannende Geschichten von ihren Alltagserlebnissen und Fahrten zu erzählen — und manch ein Freiwiliger war wohl auch ein bisschen (sehr) stolz auf diesen besonderen Erfahrungsschatz. Oft ging es in den Kosovo-Stories zum Beispiel um peinliche, überbezahlte Diplomaten; sehr oft wurde vom sagenhaften, montenegrinischen Grenzübergang erzählt, wo man den Grenzer vielleicht erst wecken musste, um zum Dank erst einmal mit einem deftigen Fluch begrüßt zu werden: „Kurac izvinite!“ (ungefähr: „Einen Schwanz gebe ich Ihnen Entschuldigung!“) — wurde etwa als wieder und wieder erzähltes Bonmot von Philipp erlebt und tradiert. Während sich unsere bosnisch-herzegowinischen SeminarteilnehmerInnen einfach in den Bus nach Sarajevo setzen konnten, mussten sie im Kosovo die Jugendlichen mit Militärbegleitung („KFOR“) zum Jugendzentrum bringen lassen. „Bei denen“ war einfach alles drei, vier Nummern härter als bei uns Sarajevo-Freiwilligen — vom Bundesbüro in Neumünster einmal ganz zu schweigen, das natürlich über sich selbst dachte, die „eigentliche Arbeit“ zu leisten.

Doch zurück zu unserem Treffen in Sarajevo. Die Geschichte vom sagenhaften, montenegrinischen Grenzübergang war gerade zu Ende erzählt — da fragte ich Philipp und Meike, wie es ihnen selbst so ginge. Meike konnte sehr gut erzählen. Wir saßen in unserem Meeting-Raum auf der Büroetage des „gelben Hauses“ in der Lepenička ulica; mit großer Wahrscheinlichkeit rauchten wir gerade alle. Ich erinnere mich an eine Szene: Meike fasste sich durch ihr Haar, inspizierte daraufhin ihre Hände und erzählte dabei relativ abgebrüht, wie ihr in letzter Zeit das Haar ausfiel. Das sei bestimmt auf die unregelmäßige Duscherei zurückzuführen. Dass es einfach wahnsinnig nervte, sich nicht schnell bei Bedarf duschen zu können — denn klar: die Verfügbarkeit von Warmwasser hing natürlich mit den Stromaggregaten zusammen. Sie lachte darüber ganz herzlich, wie wir alle. Niemandem von uns wäre in den Sinn gekommen, sich zu beschweren oder ernsthaft zu jammern. Angesichts dessen, was unsere gleichaltrigen und älteren KollegInnen und FreundInnen um uns herum alles erlebt hatten — zum Beispiel jahrelange Belagerung, Granatierung, Scharfschützenbeschuss, Stromlosigkeit, Hunger, Fluchterlebnisse, Verluste aller Art — verbat sich ja ohnehin jedes Gejammer. Außerdem waren wir freiwillig da, wo wir waren.

Ein Seminar für SchülerInnen der Sekundarstufe im Rahmen der Kampagne Prigovor Savjesti (Gewissensverweigerung/Kriegsdienstverweigerung) im shlhouse Sarajevo, 2002. Quelle: eigenes Bild.

Wir waren so unglaublich jung in die Welt hinaus gestapft. Zwar hatten wir gerade erst Abitur gemacht — wir waren es aber bereits gewohnt, mit sehr großen Geldbeträgen zu arbeiten. Wir wussten, dass man alles lernen konnte; dass wir alle unsere Grenzen oft erreichten und überschritten, wurde uns oft erst später klar. Es wurden Häuser gebaut. Es wurden EU-Projekte mit Millionenbudget implementiert. Es wurden MitarbeiterInnen eingestellt und bezahlt. Es wurden größere und kleinere Kampagnen organisiert, beachtliche Seminarprogramme durchgeführt, SchülerInnenvertretungen mit aufgebaut. Wir finanzierten eine ganze Jugendpresselandschaft, wir unterstützten sogenannte „local activities“. Wir waren dabei, eine Stiftung zu gründen, die es heute noch gibt. Unsere gelben Häuser in der Lepenička und im Kosovo werden noch betrieben — während „die anderen“ längst über das Kosovo nach Afghanistan, Irak oder Jordanien weitergezogen sind. Persönlichkeiten wie Hans Koschnick, Heide Simonis oder Wolfgang Petritsch kannten wir nicht nur vom Fernsehen — sondern gaben uns die Hand oder aßen im selben Kuratorium miteinander zu Abend. Beim monatlichen Jour Fixe in der Deutschen Botschaft fielen wir aufgrund unserer Jugendlichkeit und unseres respekteinflößenden Workloads auf wie bunte Hunde. Es gab keine „Älteren“ oder „Erwachseneren“, die uns etwas zu sagen gehabt hätten: wir sagten. Schon die ehemaligen Freiwilligen im Vorstand hatten einen schweren Stand. Wir standen wirklich „mittendrin“: anders ist es schwer zu formulieren. Und wahrscheinlich auch heute noch Außenstehenden schwer begreiflich zu machen — denn so etwas gab es nur einmal.

Im shlhouse Sarajevo (Januar 2002): Internationales Seminar für Gewissensverweigerung mit Zašto Ne? (Sarajevo), EBCO (Barcelona), RAI (Barcelona), SHL Sarajevo und anderen. Quelle: eigenes Bild.

Uns beeindruckte also so schnell nichts und niemand mehr. Auch nicht das Thema der uraniumangereicherten Munition, die bei den Nato-Bombardements eingesetzt wurde. Ich habe absolut keine Ahnung, ob Meikes spätere Erkrankung irgendetwas damit zu tun hat (oder nicht) — und wahrscheinlich ist es auch völlig irrelevant. Jedenfalls hat man später hin und wieder darüber spekuliert. Es gab im Verein einmal diese Aktion, dass Freiwillige aus Schleswig-Holstein in Verbindung mit diesen Waffen Urinproben abgeben sollten — worüber es zu Dissens kam, weil nur schleswig-holsteinischen Landeskindern dieses zweifelhafte Privileg zuteil kommen sollte: hatten wir nicht alle eine sogenannte Kriegsbodenrisikozusatzversicherung? Dabei kam meines Wissens nie etwas heraus. Es hätte wohl auch nichts geändert: ein Jahr nach dem Treffen in Sarajevo, nämlich 2003, wurde Meike krank. Leukämie. Im selben Jahr, als ihr bereits wieder Haare gewachsen waren, traf ich sie noch einmal in Berlin: wir saßen mit Philipp und anderen in einem kleinen Neuköllner Park zusammen, tranken Rotwein, und Meike sprach sich dafür aus, in einer politischen Partei aktiv zu werden. Ich sah das damals anders — aber sie brachte mich dazu, es mir zu überlegen. Danach habe ich sie nicht mehr wieder gesehen. Ich habe ihren Optimismus in Erinnerung, der mich sehr beeindruckt hatte. Eineinhalb Jahre später, am 3. Februar 2005, ist Meike gestorben.

Sie selbst und ihre Eltern verschickten längere Zeit Rundmails, so dass wir im Bild blieben. Auf dieser Grundlage hat sie uns ein Buch mit ihren Tagebucheinträgen und der Korrespondenz hinterlassen, das mir von Zeit zu Zeit in die Hand fällt, wie zuletzt „zwischen den Jahren“. Das Buch ist auch ein Grund, warum ich denke, dass es völlig in Ordnung ist, über Meike zu schreiben bzw. an gemeinsame Erinnerungen anzuknüpfen. Sie würde es gewollt haben, dass man ihr Buch liest und rezipiert. Ich kann nicht allzu oft darin blättern — denn ich weiß ja, wie es endet. Doch angesichts all des — Verzeihung! — Gejammers über den Lockdown und die verlorene Zeit fand ich einen Gedanken und zwei Zitate aus Meikes Buch sehr aktuell, weil die Zitate mit unserem Umgang mit Zeit zu tun haben, der durch den Lockdown anders ist als vor Februar/März 2020.

Mein Gedanke zu Meikes Buch insgesamt und zu ihrer Geschichte war: Leute. Leute, regt euch doch bitte nicht so auf. Ja, es ist alles relativ. Ja, nichts ist vergleichbar. Und ja, wir haben Lockdown, und schön ist das nicht. Aber dennoch: wir können raus gehen. Wir können an die frische Luft. Es ist vorübergehend. Für unsere Körper muss das ganze keine Tortur sein. Menschen hingegen, die so schwer krank sind, wie Meike das war, liegen in einem ungleich härteren Lockdown. Sie wissen überhaupt nicht, wann und ob ihr Lockdown je enden wird. In harten Lockdownphasen dürfen sie noch nicht einmal ihr Kuscheltier mit aufs Zimer nehmen, weil es todbringende Keime enthalten könnte.

Zuletzt will ich noch zwei Zitate aus Meikes Buch „Ich will mein Leben tanzen“ (Literaturangabe s.u.) einfügen, weil es sich dabei um Bemerkungen zum Thema Zeit handelt. Ich halte sie für besonders „relevant“ und aktuell, weil ich immer wieder von unterschiedlichen Menschen zu hören bekomme, dass sie das Gefühl hätten, der Corona-Lockdown wirke wie ein Zeitdieb. Ich meine damit nicht die Perspektive von Kindern oder auf Kinde, für die ein Jahr Lockdown wirklich wahnsinnig viel Zeit bedeutet: ich sehe das genau an meinem Neffen. Ebenso wenig meine ich Menschen, die aus Altersgründen nur noch wenig Zeit haben, mit der sie etwas konkret vorhatten, was jetzt garantiert nichts mehr wird. Ich meine damit die häufigen Kommentare von Leuten — ob im Radio, im Netz oder real — die gerade mittendrin stehen, so wie wir früher in Sarajevo, im Kosovo — oder eben Meike im Krankenhaus. Ich werde mit größter Wahrscheinlichkeit nichts an ihren Gefühlen ändern können: aber vielleicht helfen die Gedanken einer zwangsläufig reif gewordenen, jedoch sehr jungen Frau, die tatsächlich keine Zeit mehr hatte. Ich zitiere sie, ohne sie weiter zu kommentieren und mit nur knapper zeitlicher Kontextualisierung:

Obwohl meine Zeit gegenüber dem, was ich erwartet hatte, eventuell verkürzt sein wird, habe ich doch mehr Zeit als je zuvor. Ich habe Zeit für jeden Gedanken, jedes Gespräch, jeden Brief, jede noch so blöde Fernsehsendung, jedes Buch, jede CD — ob ich auch die Nerven dazu habe, ist eine andere Frage. Aber wenn nicht, dann halt später: Ich habe ja Zeit.

Ich will mein Leben tanzen, S. 39.

Das obige Zitat ist ihrem Eintrag vom 5. August 2003 entnommen. Das nächste und letzte Zitat entstammen ihrem Eintrag vom 8. Oktober 2004, und auch dort ist das Zitat bereits ein Zitat, nämlich das ihrer kurz zuvor verstorbenen Zimmergenossin namens Melanie Götz, mit deren Glauben und Umgang mit Zeit sie sich an dieser Stelle auseinandersetzt:

„Man kann seinem Leben nicht mehr Zeit hinzufügen, aber seiner Zeit mehr Leben.“

Ich will mein Leben tanzen, S. 124.

Literaturangabe:

Schneider, Meike (2006): Ich will mein Leben tanzen. Tagebuch einer Theologiestudentin, die den Kampf gegen Krebs verloren hat. (Mit einem Vorwort von José Carreras). Medienverband der Evangelischen Kirche im Rheinland gGmbH: Düsseldorf.

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