Oktober
Kann es für den Oktober der gemäßigten Zone der Nordhalbkugel einen besseren Namen geben als „Listopad“? Wohl kaum: so heißt er auf Kroatisch, denn es ist der Monat des Blatt- (list) -falls ([o]pad) [1]. Immer noch im Francorum, setzte ich die Recherchen zum unterfränkischen Landjudentum fort — und zwar in Burgpreppach, wo ich zwei Mal Frau Flachsenberger [2] getroffen habe. Diese hat sich in einem extrem beeindruckenden Maß um die Dokumentation der jüdischen Geschichte des Ortes verdient gemacht, und ihr über Jahrzehnte hinweg erstelltes Archiv (das Flachsenberger-Archiv) [3] ist ein wahrer Traum für DoktorandInnen, die zu einem solchen Thema forschen. Wahnsinn! Mir war nicht bewusst, dass sich in dieser heute recht abgeschiedenen Gegend am alten Zonenrand eine jüdische Präparandenschule befunden hatte, die von europaweiter Strahlkraft war und Schüler aus dem Elsaß, der Schweiz, dem Russischen Reich und allen deutschen Gebieten anzog; eine Mazzenbäckerei, die nicht nur viele Frauen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit beschäftigte, sondern das gesamte umliegende Francorum mit ungesäuertem Brot versorgte. In den Haßbergen erfuhr ich im Oktober außerdem, dass auch Holz — nachdem es nun klimakatastrophenbedingt in zunehmendem Ausmaß dem Borkenkäfer zum Opfer gefallen ist — in Quarantäne muss: in Holzquarantäne [4]. Wie merkwürdig nur das Wort „Holzquarantäne“ mit dem der „Holznot“ aus Heinrich Heines Tagen korreliert, am Vorabend der großen Einheizerei, die uns dahin bringen sollte, wo wir heute stehen: Mensch wie Wald in Quarantäne. Der Monat endete mit einem Online-Workshop über neue Perspektiven der Türkeiforschung im deutschsprachigen Raum, den ich zusammen mit drei wunderbaren Kolleginnen organisieren durfte [5].
November
November war ein bald gelber, bald orangeroter Monat. Ich eröffnete ihn mit der vierten Fastenwoche, nachdem mir der Frühjahrslockdown die Fastenzeit zersaut hatte, und kümmerte mich um das nun schon stark herabgefallene Laub. Ich beobachtete dabei, wie eine fränkische Kirsche den aufgestauten Dürrestress aus sich herausfließen fließ [1.1] — doch dabei orakelte sie auf abhorrente Weise das Antlitz des US-amerikanischen Trash-Präsidenten [1.2] und der aufdringliche Zirkus der Zwei-Parteien-Wahlen wollte nur schleppend zu einem Ende kommen. Es war auch ein Monat der Feldarbeit — denn ich durfte zwei Veranstaltungen der Berlin Science Week der HU Berlin [2] moderieren und dabei wunderbare Menschen kennenlernen — den Veranstaltern sei sehr gedankt. Feldarbeit hieß auch Schnäppchenjagd nach der linguistic landscape auf der Hermannova [3], und auf dem Tempelhofer Feld regte mich dabei ein Ginkgo-Ensemble [4] zu einem Berlin-Haiku an. Doch das Feld hatte noch soviel mehr zu geben: Hagebutten allerorten [5]! Das war ganz schön viel Arbeit.
Das Gelb ist gar: Was vor zwei Tagen war, Noch in diesem Jahr, Ist das Gelb: Es ist gar. Berlin-Haiku, Thomas Schad 2020
Dezember
[2] [2] [3] Yaşamak
bir ağaç gibi
tek ve hür
ve bir orman gibi
kardeşçesine
bu hasret bizim
(Nazım Hikmet)
[4]aralık
[1]sabah zora
[5]akşamüstü
[5]
Der Dezember ist gar nicht der zehnte Monat (decem, decembris): wie der Januar steckt er zwischen den Jahren, und so heißt er auch im Türkischen: Aralık (dazwischen), wie mir zu einem Foto [1] des pandemisch fast leergefegten Pariser Platzes eingefallen ist. Der Dezember begann mit einem weiteren Talk aus der Reihe Ming(R)A Talks [2], den mein alter Freund Chaspa aus Travnik/Minga in Minga organisiert hat: es ging dabei um Erinnerungskultur und 25 Jahre Srebrenica/Dayton. Im Dezember konnte auch mein im August entstandener (und noch einmal erheblich überarbeiteter) Beitrag über Sevdah in den Südosteuropa-Mitteilungen [3] erscheinen — und da ich gerade bei der Poesie bin, passt an dieser Stelle ein Mural in Berlin-Kreuzberg [4], das ich auf einem rauhnachternen Fahrradritt neu entdeckt habe. Es zeigt ein Gemälde mit einem Gedicht von Nazım Hikmet (1902-1963), das noch einmal beweist, wie verbreitet Baum- und Waldmetaphern sind, mit denen ich mich in diesem Jahr so intensiv beschäftigt habe (auf dem Mural zweisprachig, hier habe ich die deutsche Übersetzung etwas abgeändert). Wie bereits angesprochen: der Monat mit den kürzesten Tagen und längsten Nächten — das Gelb war bekanntlich gar — endete im Zwielicht [5].
Leben wie ein Baum einzeln und frei und wie ein Wald geschwisterlich verbunden das ist unsere Sehnsucht Nazım Hikmet
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