Vorab: meine Gedanken zum zurückliegenden Jahr 2020 sind nicht tröstlich. Aber sie sind, wie ich finde, erbaulich — was auf mehr als Trost hinausläuft. Und in diesem Fall ist mehr wahrscheinlich tatsächlich besser als weniger. Oft ist zu hören, unsere Zeit sei geprägt von „Ambiguitätsintoleranz“: die Dinge seien entweder grundsätzlich schlecht oder gut — aber nie könne es das richtige Leben im falschen geben. Es ist wie mit den fürchterlichen icons und buttons unter den posts und tweets der online social media (OSN), die sich das Attribut „sozial“ im Ganzen ebenso wenig verdient haben wie die DDR die Einstufung als vielstimmige Demokratie: in einer ambiguitätsintoleranten Umgebung gibt es immer nur eine klare Antwort. Daumen hoch, Daumen runter. Innerhalb der eigenen Wahlverwandtschaft wird sich in den OSN darüber versichert, was und wer gut oder böse ist. Nur eine Wahrheit — die eigene bzw. die der Wahlverwandtschaft — ist die richtige, ist anständig. Nicht nur gibt es keine Grauzonen: man muss in dieser zweigeteilten Wirklichkeitswahrnehmung scheinbar nicht damit zurecht kommen, dass die Echtzeit (aber auch die Vergangenheit) voll von Widersprüchen war und ist. Streit wird unerträglich und vermieden — denn die anderen liegen nicht nur falsch, sondern sie sind auch noch böse.
Corona als Mastertrope von 2020. Und 2021.
Um also in diesem binären Entweder-Oder-Geplänkel gleich auf die Mastertrope des Jahres 2020 zurückzukommen — natürlich ist das die Covid19-Pandemie, vulgo: Corona — so lautet das Urteil vieler Zeitgenossinnen, dass es sich bei 2020 ohne jeden Zweifel um ein schlechtes Jahr gehandelt haben muss. Und hat es eigentlich je ein schlechteres gegeben? Eine Freundin hat sich vor kurzem beklagt, sie habe das Gefühl, man hätte ihr durch Corona Lebenszeit gestohlen, die ihr auch niemand mehr werde zurückgeben können. Die vielen verpassten Chancen, Gelegenheiten, Treffen… Da ist auf jeden Fall was dran — aber wie soll man damit umgehen? Die „Beschissenheit der Dinge“ (ich gebe nur den Titel eines schlechten belgischen Films wieder) in ihrer schieren Beschissenheit einfach anerkennen? Und wenn ja, was wird dadurch besser? Oder sollte man sich stattdessen von der hyggeligen Sofalandschaft aus anschicken, das Gegenteil zu behaupten, um in diesem unglaublich entschleunigten Jahr nur noch Gutes zu sehen? Wäre letzteres nicht von vorneherein zum Scheitern verurteilt — eine Pandemie ist eine Pandemie ist eine Pandemie — könnte man auf diese Weise womöglich Trost suchen. Eine andere, gerade sehr angezeigte Möglichkeit wäre, aufzuhören, sich Anfang des Jahres ein „Frohes Neues“ zu wünschen. Oder wenn, dann eingedenk der Möglichkeit, dass alles durchaus noch viel schlimmer kommen könnte; dass das alles nur ein Vorgeschmäckle war. Aus epidemiologischer Sicht ist jedenfalls jetzt schon klar, dass 2021 vorerst ebenso krank weiter geht, wie 2020 aufgehört hat:

Quelle: Screenshot von Facebook
Das Jahr beginnt als Zwischenzustand
Aus meiner Sicht begann das Jahr bereits vor der Pandemie mehrdeutig, abgedämpft, ungeklärt und schlecht einschätzbar — und tatsächlich auf einer Sofalandschaft: körperlich und psychisch ausgelaugt von der Abgabe meiner Dissertation am 12.12.2019 hatte ich mich noch irgendwie in die Rhön geschleppt, wo ich den Heiligabend bei 40 Grad Fieber auf der Couch meiner Zwillingsschwester verbrachte. An diese wegmarkige passage erinnert auch das erste Foto der Bildbeiträge zum Januar, die ich nach Monaten zu Collagen sortiert habe. Ich hatte seit 2016 keinen Urlaub mehr gemacht, und zwischen 2017 und 2019 lagen Tage hinter mir, die damit begannen — und das ist wörtlich zu verstehen — dass ich erst einmal laut „Scheiße!“ rief. An diese Tage möchte ich mich lieber nicht genauer erinnern, und auch meiner Nachbarin begegne ich seither verschämt. Ende 2019, Anfang 2020 hatte ich so viel Ruhe nötig, dass ich mir wünschte, die Rauhnächte zwischen den Jahren mögen dieses Mal doch bitte gleich in ein paar Wochen Verlängerung gehen. Doch aus der erwünschten Ruhephase wurde ein ganzes Jahr pandemischen Zwischenzustands, was mir auf eine schwer einzugestehende Weise also tatsächlich teilweise entgegenkam. Und das Jahr 2020 endete über eine lange Fastenzeit und fast völligen Nahrungsentzug fast ebenso zwielichtig (siehe Bilder von Dezember 2020), wie es begonnen hatte: in einem pandemischen Lockdown. Mit viel Sofalandschaft.
2020 war uneindeutig
Doch ein wesentlicher Unterschied zwischen Anfang und Ende 2020 besteht darin, dass ich nach dem ersten Drittel des Jahres in eine ausgesprochene Aktiv- und Kreativphase geraten war. Dadurch hatte sich mein Sein-in-der-Welt einer Klärung erheblich angenähert. Ich glaube, ich weiß jetzt wieder, was zu tun ist. I know what I am after. I know what is behind me. Das Gewässer fließt jetzt wieder. Ist da still und heimlich ein Damm gebrochen? Angesichts der Zustände des Planeten, die auch durch die folgenden Bildercollagen dringen werden, wäre es natürlich völlig übertrieben, zu sagen, das Jahr sei am Ende großartig gewesen, oder es habe gar in „Glücklichsein“ geendet, auch ungeachtet der Pandemie. Abgesehen davon, dass ich Glücklichsein für kein erstrebenswertes oder erreichbares Ziel, sondern für eine leidverursachende und aufzugebende Illusion halte, war es für mich jedenfalls auch kein eindeutig schlechtes Jahr. Meine 82jährige Oma in Bosnien hat eine Krebsoperation und Corona überlebt. Mein bester Freund hatte Corona, doch nach seiner Genesung haben ihm meine Käsetorte und die selbst gemachte Hagebuttenmarmelade trotzdem wieder geschmeckt (und man sagt, das sei nicht bei allen Covid19-Patienten der Fall — auch Monate später nicht). Niemanden in meinem direkten Umfeld hat es also wirklich schlimm erwischt.
2019 war schlimmer
Wirtschaftlich war ich bereits vor der Pandemie so tief im Keller, dass mich kaum noch etwas erschüttern konnte — und wenn, dann hätte die Pandemie „das Kraut auch nicht mehr mager gemacht“. Das Jahr 2019 war aus meiner Sicht zumindest insofern viel schlimmer als 2020, als es keine Pandemie gab, auf die man jede Schlechtigkeit hätte zurückführen können. Ich verstehe natürlich, dass es bei anderen Menschen anders lief. Freilich ist es unschön, jetzt aus finanziellem Unbill oder pandemiebedingter Schließung nicht mehr ganz selbstverständlich im Lieblingsrestaurant essen gehen zu können — doch da kommt die Mehrdeutigkeit der pandemischen Zeit ins Spiel: wie viele Menschen haben es denn der Pandemie zu verdanken, dass sie jetzt endlich wissen, wie ein Nudelteig zu behandeln ist, um ihn auf einem Tuch über zwei Quadratmeter so dünn auszuziehen, dass man darunter eine jugoslawische Zeitung lesen kann, um ihn danach mit einer Herzensfüllung einzurollen und in einer Tepsija (Backblech) zur Proto-Jugo-Leibspeise zu backen? Wie die Augustbilder beweisen können, gehöre ich auf jeden Fall zu jenem Schlag Menschen, die sich seit 2020 sehr viel besser darauf verstehen, die rar gewordenen, anderen Menschen mit Nahrungszubereitung zu beeindrucken. All die gemusterten Sauerteigbrote auf Instagram, all die Berichte über das vorübergehende Versiegen der Hefepilzvorräte: sie beweisen, dass es sich bei diesen Backexzessen um etwas durchaus zeitgeistiges, massenhaftes handelte, was uns die Vorjahre schlichtweg nicht bieten konnten.
Covidiotie gehört auch in den Tatsachenbefund
Da gibt es auch die massive, bisweilen selbstgefällige Kritik an den Entwicklungen der Corona-Zeit, dass sich die Leute gewissermaßen vorauseilend in sich selbst zurückgezogen hätten: Idiotie, Rückzug ins Private, „Entsolidarisierung“, Verbiedermeierung, Realitätsflucht oder so ähnlich lauten einige Einwände. Natürlich besteht diese Gefahr: sich einfach zurückzuziehen, dabei aber aus den Augen zu verlieren, dass die Welt durch die Pandemie keine bessere geworden ist und auch nicht wird, wenn niemand etwas unternimmt, und letzteres ist absolut das Gebot der Stunde: die Klimakatastrophe schreitet weiter voran. An den kältesten Orten der Nordhalbkugel herrschten im Juni 2020 erstmals unglaubliche 38 Grad Celsius. Es werden weiterhin massenhaft Verbrennungsmotoren gefahren, sogenannte Pop-up Radwege wieder in Frage gestellt. Flüchtlinge rund um den Swimmingpool des afrikanisch-europäisch-levantinischen Mittelmeers werden entweder sich selbst überlassen, verfolgt, getötet oder auch noch in bizarren Agitprop-Bilderschlachten missbraucht, wie Anfang des Jahres durch angeheuerte, professionelle Fotografen der Agentur Anadolu, worauf auch zahlreiche professionelle Journalisten hereingefallen sind. In der Türkei hat sich das herrschende Regime immer weiter auf eine vorhersehbare Klimax des Wahnsinns bewegt — doch aus Deutschland werden trotzdem weiterhin Waffen dorthin geschickt, auch wenn die Kriegstreiberei der Türkei im Jahr 2020 (Bergkarabach, Ägäis, Libyen, Syrien) eigentlich allzu offensichtlich war. In Berlin demonstrierten sogenannte „Covidioten“ und träumten davon, mit Reichskriegsflaggen den Bundestag zu stürmen. In den USA ist der katastrophische Progress, angeführt durch den Trash-Präsidenten des Landes, schier atemberaubend. Die Liste ließe sich unendlich fortsetzen — wir alle wissen, was gemeint ist. Es stimmt: das Jahr 2020 hat uns den Neologismus der Covidiotie gebracht, und die zur Schau gestellte Existenz einer beträchtlichen Anzahl von Covidioten gehört definitiv zum Tatsachenbefund des Jahres. Nur glaube ich nicht, dass dies etwas mit der Pandemie und den Maßnahmen an sich zu tun hat.
Storytelling mit Bildern
Aber bevor ich hier meine LeserInnen durch weiteren Text zermürbe, lasse ich in den folgenden vier Einzelbeiträgen Bilder sprechen — was ich nicht zuletzt aufgrund meiner ständigen Beschäftigung mit Metaphernanalyse und Storytelling für einen passenden Ansatz halte. Die vier Einzelbeiträge sind jeweils ein Quartal des Jahres (z.B. Januar-März), denn ich wollte keinen extrem riesigen, bildlastigen Einzelbeitrag erstellen. Die Bilder sind in den meisten Fällen eigene Aufnahmen. Manche sind Screenshots, abfotografierte Dokumente oder wurden mir per Messenger von Verwandten zugeschickt (die Bilder aus Bosnien). Im Januar befindet sich ein Bild aus einem früheren Winter, im März eine frühherbstliche Rhön aus 2016, doch ansonsten sind die Bilder mit größter Wahrscheinlichkeit auch immer in dem jeweiligen Monat des Jahres 2020 entstanden (manchmal kann es sein, dass sie mir im Monat verrutscht sind, damn). Jeder Monat innerhalb eines Quartals hat einen Textabschnitt bekommen, und ich habe mich selbst dazu verpflichtet, nicht auszuschweifen. Ganz zum Schluss ziehe ich noch einmal ein längeres Resümee und komme auf Themen wie „den“ Zeitgeist und die Mastertrope der Pandemie zurück — und warum ich den Jahresrückblick erbaulich (wenn auch nicht tröstlich) finde.
- Zu Januar-März
- Zu April-Juni
- Zu Juli-September
- Zu Oktober-Dezember
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