Vor fast einem Jahr, am 18. Februar 2020, habe ich über den Fall Julian Assanges geschrieben: einem Fall großer Ungerechtigkeit, der von systemischer Tragweite ist und mich stark beunruhigt. Im Kern ging es in dem Beitrag, neben dem persönlichen Leid des weggesperrten Julian Assanges, um eine missglückte Rufmord-Desinformationskampagne mit dem Zweck der Verschleierung US-amerikanischer Kriegsverbrechen. Deswegen habe ich den Beitrag den „Doppelskandal der amerikanischen Kriegsverbrechen im Irak und der Rufmordkampagne gegen Julian Assange“ genannt. Dieser Skandal wirkt fort. Er wird nicht weniger akut, sondern drastischer, indem er Empathielosigkeit gegen Assange bewirkt und über die so erzeugte Indifferenz gegenüber selektiven Menschenrechtsverletzungen die Möglichkeit bedroht, die Zukunft intelligent, informationsbasiert und frei zu bewältigen.
Jenen Beitrag schrieb ich, kurz bevor durch die plötzliche Akutwerdung der Pandemie in Europa und weltweit eine Stimmung der Pelzigkeit aller Diskurse einsetzte. In der neuen Pelzigkeit ging es plötzlich scheinbar nicht mehr so stark um Menschen in Isolationshaft, an eisigkalten Grenzflüssen, in unmotorisierten Booten, in unbefestigten Lagern der Ägäis und des nördlichen Balkans. Sie erschienen weiter weg also vorher — obwohl diese Menschen nicht nur nach wie vor unter denselben Bedingungen leben mussten, sondern sich die Verhältnisse noch verschlechterten. „Entsolidarisierung“ wurde das jetzt mehrfach genannt. Die Pandemie macht nicht halt vor Grenzen oder Gitterstäben; sie bremst aber durch ihre pelzige Grundstimmung auch das Vordringen der öffentlichen Meinungen in die Schlammlager und Gefängniszellen ab.
Das betrifft die Leben aller: auch die Leben der frei in ihren beheizten Wohnungen und Häusern wohnenden Nicht-Eingesperrten, von denen einige plötzlich zur Grundsicherung mussten, fünfzehn Kilo zugenommen haben, in den Wäldern Heimat suchten oder ganz allgemein mit einer Extraladung Zeit konfrontiert waren, die es verunmöglichte, sich nicht mit dem eigenen, inneren Finster zu beschäftigen. Ich will nicht gegen diese Entwicklung anschimpfen oder moralisieren. Einige wackere MeinungsaktivistInnen tun das, und sie scheinen dabei sehr von ihrer eigenen Anständigkeit überzeugt.
Aber die Pelzigkeit der Diskurse im Pandemie-Modus ist eine „totale soziale Tatsache“ sui generis. Patronisierende Zurechtweisung „der Anderen“ über die Zurschaustellung der eigenen, angeblichen Konstanz sehe ich oft nicht als Aktivismus, sondern eher als ein ich-überhöhendes Ich-ich-ich: eben auch eine Strategie, mit Ich-in-der-Welt zurechtzukommen.
Trotzdem ist niemand wegen einer Pandemie dauerhaft dazu verurteilt, nicht mehr mitzudenken, sich nicht mehr politisch zu äußern, solange es die Möglichkeit und die Verantwortung dazu gibt — und es gibt keine Garantie, dass das so bleibt. Die Vielfache der pelzigen Zeit kann auch ein Vorteil sein. Jedenfalls erinnerten mich heute früh die Radionachrichten von DLF und ein Interview mit Herta Däubler-Gmelin an die Dringlichkeit des Falles Julian Assange. Herta Däubler-Gmelin ist die ehemalige Bundesjustizministerin — also auch für „SkeptikerInnen“ oder „So-what-sayers“: nicht irgendein hysterischer Schwarzmaler, sondern eine erfahrene Juristin ruft dazu auf, Julian Assange zu unterstützen, ihm zu seinem Asylrecht zu verhelfen.
Die USA haben Kriegsverbrechen im Irak und in Afghanistan begangen. Wir wissen über einen Teil dieser Verbrechen durch Julian Assange und WikiLeaks Bescheid. Nach einer fast geglückten, aber letztlich gescheiterten Diffamierung über den Schmähruf des Vergewaltigers (da der Vergewaltigungsvorwurf als konstruiert widerlegt werden konnte) sitzt Assange nach wie vor im Hochsicherheitstrakt eines Gefängnisses, inzwischen in Brexit-Britannien, wo ansonsten Mörder, Vergewaltiger und Schwerverbrecher sitzen, nachdem sie einen Prozess mit der Möglichkeit der Verteidigung hatten. Assange wird ohne Grundlage dort weggesperrt. Aus nicht-rechtsstaatlichen Gründen. Heute (am 4. Januar 2021) hat die britische Justiz eine Entscheidung zum weiteren Schicksal Assanges getroffen: er wird nicht an die USA ausgeliefert, wo ihm bis zu 175 Jahre Gefängnis drohen. Ich zitiere aus dem derzeit ausführlichsten Beitrag der deutschsprachigen Presse, dem ORF:
Die Richterin begründete ihre Entscheidung, den Auslieferungsantrag abzulehnen, mit dem psychischen Gesundheitszustand Assanges und den Haftbedingungen, die ihn in den USA erwarten würden. Es sei damit zu rechnen, dass er sich in Isolationshaft das Leben nehmen werde. Doch auch mit dem jüngsten Urteil dürfte sich die endgültige Entscheidung über Assanges Schicksal weiter hinziehen, da der Fall letztlich bis vor den Obersten Gerichtshof in Großbritannien gehen und schließlich den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg beschäftigen könnte.
Urteil in London: Assange wird nicht an USA ausgeliefert. ORF vom 4.1.2021, URL: https://orf.at/stories/3195983/ (zuletzt abgerufen am 4.1.2021).
Laut Däubler-Gmelin gäbe es für Brexit-Britannien nur einen einzigen denkbaren Grund, Assange auf Grundlage der eigenen Rechtsstaatlichkeit bis zu einem Jahr festzuhalten: dieser habe im Entzug der britischen Justiz bestanden, wobei dieser Grund durch die lange (und unrechtmäßige) Isolationshaft keinen Bestand mehr habe. Sie sagt: Deutschland muss Julian Assange Asyl gewähren, bzw. zuerst einmal anbieten, denn er selbst kann keinen Antrag stellen. Dies nicht zu tun, sei entweder Feigheit (nach dem Motto: die Dreckarbeit verrichten die Briten) oder implizite Einschüchterung (anderer JournalistInnen und künftiger WhistleblowerInnen). Ich füge hinzu: an der Reaktion der USA wird auch zu sehen sein, was die neue Regierung dort wert ist.
Was die Gemüter kalt lässt, ist nicht egal
Oft ist erschreckender und gefährlicher, was die Gemüter kalt lässt — als das, worüber sie sich in den öffentlichen Meinungen hervorragend echauffieren können. Es ist schwer und nicht unriskant, diesen Widerspruch zu benennen, weil dabei die Grenze zum Whataboutismus schnell überschritten ist. Also zu argumentieren: „Du regst dich über X auf, aber schau doch erst, was mit Y los ist. Y ist eine viel größere Schand‘ als X.“ Whataboutismus wird eine diskursive Strategie genannt, der oft Verbitterung und Ressentiment, aber nie Vernunft oder Sachlichkeit zu eigen ist, die Überkomplexität reduzieren und erträglich machen will, indem die Paradoxa der eigenen, bedrohten Vorstellung von falsch und richtig, gut und böse, anständig und unanständig nicht offengelegt werden. Diese grundsätzlichen Binaritäten stiften Orientierung, weshalb davor zurückgescheut wird, sich ihnen zu entfremden und sie in Frage zu stellen. Bis zu einem begrenzetn Maße kann so getan werden, als bestünde ein Paradoxon nicht: indem sich geweigert wird, den Widerspruch zu sehen.
Als Paradoxon ist in diesem Sinn ein gegenwärtiger Verhalt zu bezeichnen, der überkomplex ist und deswegen nicht eindeutig aufgelöst werden „kann“: im Fall Julian Assanges wird dadurch vermieden, die kausale „Wenn-Dann-Kette“ ganz durch zu deklinieren, weil hinter einer rechtstaatlichen Verhandlung des angeblichen Verbrechens der Verbrechensbekanntmachung durch den Whistleblower mächtige Drohungen der USA stehen: WENN Assange Asyl bekommt, DANN ist es aber aus mit der Freundschaft. Dann kommt es z.B. zu Boykotts, Embargos, Strafzöllen, Entmilitarisierung Kontinentaleuropas. Dann ‚canceln‘ wir unser Sicherheitsversprechen. Dann ist Europa halt ganz am Arsch. Und insofern entbehrt es keiner kalthumorigen Pointe, dass darüber in Brexit-Britannien verkündet wird.
Allerdings würde dadurch stillschweigend ein viel größeres, systemisches Problem, eine verschattete Wenn-Dann-Parallelkette hingenommen: Wenn Assange weiterhin kriminalisiert wird, dann wird akzeptiert, dass die USA jene rechtsfreien Räume oder Unrechtsräume wie Guantanamo oder Abu Ghraib — schlimm genug, noch dazu fast ohne jede Lobby — völlig entgrenzen. Wenn dies akzeptiert wird, dann fällt es schwer, sich die Zukunft liberaler Demokratien mit Rechtsstaatlichkeit überhaupt noch vorzustellen. Dann können wir uns alle anderen Diskussionen und Diskurse — zum Beispiel über Ausbeutung, strukturellen Rassismus, Sexismus oder die Zerstörung des Planeten — gleich ganz ersparen. Angesichts der vollständigen „Vermessung der Welt“ und der bestehenden Überwachungsmöglichkeiten und KI wäre noch nicht einmal der Weg in Subversion und Untergrund noch vorstellbar. Es wird sich also niemand in die Wälder oder irgendeine „Pelzigkeit“ zurückziehen können.
Wenn also angeblich pragmatische PolitikerInnen in Deutschland glauben, der Fall Julian Assange könne über das Prinzip Nicht-hören, Nicht-sagen und Nicht-sehen im Sinne eines höheren Ziels der Konfliktvermeidung ausgesessen werden — über die zwar unschöne Opferung Julian Assanges als Kollateralschaden — dann hacken sie dem politischen Gemeinwesen in einer Zeit der rechtspopulistischen Lumpenstürme ins eigene Bein. Wenn dies nicht nur die Position der Bundesregierung sein sollte, sondern auf breite Indifferenz stößt, dann sollten wir unseren Blick vom entsetzlich lumpigen, nun aber immerhin abgewählten amerikanischen Trash-Präsidenten endlich abwenden. Wir müssen den Blick auf uns selbst und in die engere, engste und verwachsene Nachbarschaft richten: nämlich nach Polen, Ungarn, oder in die Türkei, nach Russland oder nach China. Diese Systeme wären dann also als richtungsweisend und progressiv anzusehen: Jurisprudenz wäre dann in Zukunft eine Angelegenheit des „homme-peuple“, wie Pierre Rosanvallon die stets männerischen Führer der Neopopulisten genannt hat: der „Mann-Volk“ entscheidet dann, was recht und unrecht ist. Ein Horror.
Horribile dictu: es wird nicht — es ist schon
Der Horror ist aber immer schon da, bevor er sich normalisiert — und er schleicht sich ein über den Widerspruch und das Nicht-zu-Ende-denken einer Dynamik wie die der Rechtsstaatlichkeit, die auf Ethik, Kohärenz und Präzedenz fußt. Recht und Unrecht sind grundlegende, im Ursprung ethische Fragen, die je nach Gesellschaft unterschiedlich formuliert sein können. Sie sind also nichts objektiv eindeutiges (auch wenn an vom Himmel herabgesandte Steintafeln geglaubt werden kann), so dass in einem Rechtssystem legal sein kann, Hunde zu essen, während es in einem anderen verboten ist. Durch wiederholte Entscheidungsfindung wird ein ethisches Urteil institutionalisiert und zum Gesetz, welches also durch das Prinzip der Präzedenz festgelegt worden ist. Dadurch wird es kohärent, weil es in seinem Rechtsraum immer wieder in der relativ gleichen Weise angewandt wird: Hunde essen ist Hunde essen, ist verboten ist verboten, oder ist erlaubt ist erlaubt.
Das Beispiel mit den Hunden ist jedoch etwas außergewöhnlich. Relevanter für den globalen Kontext sind Straftatbestände wie Kriegsverbrechen, Vergewaltigung, Mord und Völkermord, denn diese sind eigentlich überall geächtet. Sollte man meinen.
Widersprüche aufzudecken hilft, die Dynamik von Ethik, Kohärenz und Präzedenz immer wieder zu überprüfen und als relativ trägen, aber veränderlichen Prozess weiterzuentwickeln — wenn zum Beispiel über neue globale Verkettungen Formen der Verhalte (z.B. Leaking-Plattformen) und „Verbrechen“ (Whistleblowing) entstanden sind, die neu sind — aber auch, um Fehlentwicklungen im Inneren eines politischen Gemeinwesens sichtbar zu machen. Bei der Aufdeckung und Sichtbarmachung eines eklatanten Widerspruchs in einem Rechtsstaat kann dieser nicht akzeptiert werden, weil — wie dargestellt — das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit dem Paradoxon gegenüber abgeneigt ist: deshalb wird auch die Metapher des „Rechtsbeugung“ verwendet. Einem inkohärenten Nicht-Rechtsstaat bleibt deshalb nichts anderes übrig, als den Gesamtverhalt selektiv umzukehren: die/der VerkünderIn des Unrechts — Kriegsverbrechen als Kriegsverbrechen, Vergewaltigung als Vergewaltigung, Völkermord als Völkermord, usw. — wird zum/zur eigentlichen VerbrecherIn gebeugt. Kriegsverbrechen ist dann nur bei Bedarf ein Kriegsverbrechen, ein Völkermord nur nach eigenem Ermessen des „Mann-Volks“ überhaupt der Rede wert.
„Der Horror ist schon da“ bedeutet in diesem Sinn nicht nur, dass dies „nur“ andernorts schon geschieht. Aus beruflichen Gründen habe ich nun sehr lange beobachtet, was in der Türkei mit dem aus historischen Gründen dort weniger resilienten Rechtsstaat geschehen ist: der „Mann-Volk“ entscheidet. Es ist nicht schwer, eine relativ gleiche Dynamik zu erkennen, die an vielen unterschiedlichen Orten in ähnlicher Weise geschieht: zwar werden rechtsstaatliche Begrifflichkeiten wie Kriegsverbrechen, Vergewaltigung, Völkermord etc. gar nicht selten verwendet: aber es ist der „Mann-Volk“, der sie beugt, ausspricht und auslegt. Es ist nicht falsch, sondern einzig richtig, mit dem baren Finger auf den nackten Kaiser zu zeigen; nichts anderes tun JournalistInnen, die darüber berichten. So sind in Deutschland zum Beispiel ablehnende öffentliche Meinungen entstanden, wenn es um das herrschende Regime in der Türkei geht. Es ist auch nicht falsch — sondern richtig — dass sich die Bundesregierung für Verfolgte des Regimes einsetzt, wie zum Beispiel Can Dündar oder Deniz Yücel, die ja nichts anderes getan haben, als über Waffenlieferungen nach Syrien zu berichten und „staatliche Geheimnisse“ aufzudecken, wie die dortige Regierung es selbst genannt hat. Es ist aber falsch — weil ein Paradoxon, dem gegenüber die eigene Rechtsstaatlichkeit prinzipiell abgeneigt ist — dies nur selektiv und inkohärent zu tun.
Wer das nicht sehen will, will Überkomplexität vermeiden und sich selbst einreden, die Welt könne mit dem Horizont eines mentalen Landkreises betrachtet und gelebt werden — auch nachdem die Pelzigkeit der Diskurse der Pandemie abgeklungen sein wird. Ich sehe keinen einzigen plausiblen Grund, warum der „Kelch der Wahrheit“, der nach den SchwedInnen und EcuadorianerInnen nun an den Lippen der BritInnen ansitzt, am deutschen Rechtsstaat vorbeiziehen sollte. Ich verstehe es nicht. Horribile dictu: Julian Assange ist ihnen egal.
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