Seit ungefähr März oder April beschäftige ich mich im Heine-Projekt mit eigentlichen (d.h. dinglichen, natürlichen) und uneigentlichen (d.h. literarischen, metaphorischen) Bäumen und Pflanzen. Ich werde noch einmal in Heines anderen Schriften genauer nachlesen müssen, denn es kann gut sein, dass mir diese Bäume dort entgangen sind. Doch was Die Romantische Schule angeht, bin ich mir ziemlich sicher, dass darin keine Linden vorkommen. Das macht mich jetzt etwas stutzig: denn Linden sind, besonders im slawischen und germanischen Raum, sehr metaphernträchtige Gewächse, was dem extrem gebildeten Heine bestens bekannt gewesen sein muss. Außerdem bin ich in den vergangen Wochen zwei stattlichen, zugleich eigentlichen und uneigentlichen Linden in Franken über den Weg gelaufen. Deren metaphorischer Bedeutungsgehalt erzählt ein Thema, das Heine an anderer Stelle auch behandelt: Recht und Unrecht, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit gegenüber denjenigen, die mit der Kirche hintereinander gekommen sind — um eine ganz hervorragende, fränkische Wendung für fortdauernden Streit oder Beef zu verwenden.
Im Heine-Projekt geht es, wie der Name schon sagt, um Heinrich Heine — aber nicht nur. Heine steht dort vielmehr als Figur des Anti-Romantikers „den Schlegeln“ gegenüber, wobei letztere auch die Figuren der Romantiker insgesamt bilden. Beide Gruppen dieser Figuration verfolgen je unterschiedliche Interessen und sind mit unterschiedlichen Machtvolumina ausgestattet. Was sie beide jedoch verbindet, ist ihr ausgiebiger Gebrauch von Vegetationsmetaphorik, auch wenn in dieser Figuration alle etwas unterschiedliches meinen, wenn sie z.B. deutsche Eiche oder blaue Blume schreiben.
Im Bereich der Einjährigen und der Stauden geht es — wie könnte es in der (deutschen) Romantik anders sein — im Heine-Projekt natürlich um blaue Blumen, aber auch um deutsche Veilchen, Purpurdigitalis, Mandragora, Passionsblumen und andere; im Bereich kapitaler Bäume werden hauptsächlich Eichen (z.B. junge Eichen, hundertjährige Eichen, tausendjährige Eichen, Götzeneichen, etc.) zu Metaphern gewendet, die durch Heine über die zusätzliche Aufladung mit Ironie auch noch doppelt metaphorisch wirken (oft, aber nicht immer). Im Ganzen bilden diese imposanten Baumfiguren auch die finstere Kollektivmetapher des „Walddunkels„: damit meint Heine den Mittelalter-Trend seiner Zeit — denn im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert war laut Heine ein regelrechter Hype um das Mittelalter ausgebrochen, was sich auch in den Architekturmoden ausdrückte, wie zum Beispiel in der allmählichen Fertigstellung des hochgotischen Kölner Doms (vgl. auch Flughafen BER). In einem deutschen Kontext, zumal aus Sicht eines zum Protestantismus konvertierten Juden wie Heine, war Mittelalter immer auch gleichbedeutend mit Katholizismus: Luthers Rebellion gegen Rom wird als eine der zahlreichen Wegmarken erinnert, um Mittelalter von Früher Neuzeit zu scheiden; unter anderem deshalb erschien das späte Aufflackern des Katholizismus Heine damals anachronistisch.
Doch nun zu den Linden, denen ich in Franken über den Weg gelaufen bin. Ich füge sie im folgenden erst einmal mit je einer Bildunterschrift ein. Im Anschluss komme ich noch auf meine Überlegungen zu diesen Linden zurück, bei denen es sich um sogenannte Gerichtslinden handelt. Ich habe die Thematik der Gerichtslinden während der (frühen) Neuzeit sowie das damit verbundene Thema der Frauenverfolgungen, Außenseiterverfolgungen und ritualisierten Frauen- und Außenseitermorde („Hexenverfolgungen“, „Hexenverbrennungen“) jedoch noch nicht ausführlich recherchiert, sodass meine Überlegungen bitte als spekulativ verstanden werden mögen; außerdem ist meines Wissens nur bei einer von beiden Gerichtslinden der Zusammenhang zum ritualisierten Frauenmord belegt.
1) Gerichtslinde zu Kühndorf (Thüringen)



2 ) Gerichtslinde zu Birnfeld



Warum thematisiert Heinrich Heine in der Romantischen Schule eigentlich keine Linden — nachdem er mit nichts anderem beschäftigt war, als die Wissenschaftsabgewandtheit, die Rückwärtsgerichtetheit, den Aberglauben, die Verherrlichung der Vergangenheit seiner Zeitgenossen, seiner Lehrer und Vorgängergeneration zu kritisieren? Sind Linden — Gerichtslinden wie jene in Kühndorf, unter der eine Frau auf grausamste Art zu Tode gerichtet wurde — nicht auch Symbole für Antimodernismus (Moderne hier verstanden im Sinne Heines), der Feindschaft gegen Aufklärung, Idealismus, Toleranz?
Ja, das ist alles richtig. Doch man muss folgendes bedenken: die lange anhaltenden, regional sehr unterschiedlich ausgeprägten, in Franken jedoch besonders intensiv und noch vergleichsweise spät stattfindenden, ritualisierten Frauen- und Außenseitermorde waren kein Phänomen des Mittelalters, gegen dessen Verherrlichung und romantische Verkitschung Heine anschreibt. Die sogenannte „Hexenverfolgung“ war durch und durch ein Phänomen der Neuzeit. Deshalb liegt der Anfangsverdacht nahe, dass es sich bei diesem Phänomen um eine Analogie zu ritualisierten Morden anderer Epochen gehandelt haben könnte — man denke nur an die Enthauptungsmorde des sogenannten IS / Daesh der Gegenwart: in Zeiten, da sich zuvor genau bestimmte Rollen verändern, weil sich die Zeit insgesamt und das Weltbild verändern, bäumt sich die Reaktion zum grausamen Trotz auf.
Quod errat demonstrandum… Ich belasse es für heute dabei.
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