Im Fall lebender Menschen, deren Bilder durch andere geteilt werden, wird oft völlig zurecht moniert: Eltern oder Verwandte sollten in Zeiten fortschreitender Künstlicher Intelligenz (KI) wie Gesichtserkennung keine Bilder von Kindern über die sogenannten Online Social Media (OSN) teilen. Schließlich könnten sie nicht wissen, ob ihr nackt in der Badewanne stehendes Kind eines Tages nicht etwas dagegen einzuwenden haben werde.
Ich weiß nicht, wie es meinen Leserinnen dabei geht: ich jedenfalls weiß ganz genau, dass ich SEHR starke Einwände gehabt hätte; wenn nicht heute, so doch mit absoluter Sicherheit in der Pubertät und Adoleszenz.
Doch diese Frage ist gleichzeitig ahistorisch und anachronistisch: in meiner Kindheit, Pubertät und Adoleszenz gab es weder OSN, noch KI oder „Cyber-bullying“, womit Kinder und Jugendliche heutzutage zu kämpfen haben. Und natürlich gibt es noch ganz andere, ernsthafte Gefahren für Kinder. Besonders gefährdet sind Kinder, die früh eigene, nicht abgesicherte, von ihren Eltern unkontrollierte OSN-Profile betreiben, wodurch sie leichter zu Opfern von Missbrauch werden können.
Nun beobachte ich in der Coronazeit verstärkt, wie wahnsinnig viele Leute Bilder aus der eigenen Kindheit, aber auch ihrer verstorbenen Eltern und Großeltern, sowie weitere, sehr intime Bilder und Geschichten aus ihrem persönlichen „Backend“ mit anderen teilen. Bilder, die früher in maximal zweifacher Ausführung existierten: einmal als Negativ, ein anderes Mal als Positiv, eingefasst von vier Klebe-Ecken im Fotoalbum, zu dem nur Familienmitglieder oder ausgewählte Familienfreunde Zugang hatten. Oder auch – besonders beliebt für Dia-Abende – als althergebrachtes Dia-Bild. Familien-Interna werden sozusagen zunehmend öffentlich gemacht.
[ein damit eng zusammenhängendes, an anderer Stelle zu verarbeitendes Thema wäre die verbreitete Nutzung von OSN bei gleichzeitiger (paradoxer) Warnung vor zunehmender, digitaler Überwachung in der Coronazeit, etwa durch die neue Corona-App]
Meistens finde ich das neuerliche Teilen der Bilder Verstorbener in Ordnung. Und nie würde ich mir anmaßen, es „besser zu wissen“ – denn das sind persönliche Entscheidungen. Aber nicht immer ist mir dabei auch ganz geheuer: es ist auch eine Stil- oder Maßfrage, zu der man von Fall zu Fall unterschiedlich stehen mag. Und: ich hinterfrage auch meine eigene Praxis (weiter unten). Doch es geht bei der Frage nach dem richtigen Umgang mit Bildern Verstorbener, die meiner Meinung nicht pauschal beantwortbar ist, um mehr als nur eine (meine) Perspektive.
Mit Bildern unserer Toten, von denen auch ich schon einige (wenige) öffentlich gemacht habe, gibt es nämlich noch ein anderes Problem: im Fall gestorbener Menschen besteht überhaupt keine Möglichkeit mehr, diese nach ihrer eigenen Haltung, ihrer Zustimmung oder Ablehnung zum Thema Persönlichkeitsrechte zu befragen. Dieses Problem ist kein neues, denn es berührt ethisch-moralische Fragen der Pietät. Es kann um letzte Wünsche und testamentarische Verfügungen gehen.

Trotzdem hat diese Problematik im Zeitalter der OSN eine ganz neue Dimension und Relevanz erfahren. Einige Menschen, deren Verwandte zu einem noch nicht allzu lange zurückliegenden Zeitpunkt gestorben sind, als OSN wie Facebook schon sehr verbreitet waren, können ein Klagelied davon singen.
Ich denke dabei zum Beispiel an einen Kindheits- und Jugendfreund. Er ist vor einigen Jahren ganz plötzlich und völlig unerwartet an einer Hirnblutung verstorben. Der Schock für seine Familie und seine FreundInnen war (und ist) groß.
Seinem Freundeskreis, seinen Verwandten, seinen Exfreundinnen (und womöglich auch seinen alten Feinden) hat er nach seinem viel zu frühen Tod unter anderem ein Facebook-Profil hinterlassen. Da auch ich sein Facebook-Freund bin, wurde ich regelmäßig von dem OSN darüber informiert, wann wieder eine Verwandte, eine Exfreundin oder ein Kumpel etwas auf seiner Wall hinterlassen hat: meistens waren das Liebesbekundungen, Entschuldigungen, hoch emotionale Gefühlsausdrücke oder Geburtstagswünsche. Man kann dort den Leuten gewissermaßen beim trauern zusehen. Das Profil des Verstorbenen „wusste nichts“ von seinem Tod, versendete weiterhin die Information, dass er jetzt Geburtstag hatte.
Ich weiß nicht genau, ob auch Bilder des Verstorbenen geteilt wurden – aber es ist durchaus denkbar. Und es wäre eine höchst fragwürdige Praxis. In jedem Fall hätte der Verstorbene keinerlei Möglichkeit, etwas dagegen zu unternehmen. Unter solchen Bildern wäre in Zeiten der allgegenwärtigen Handykameras und Schnappschüsse theoretisch alles mögliche vorstellbar: Bilder von der letzten Party, vom letzten Konzert, vom ersten Kuss, von einer gemeinsam begangenen Dummheit.
Von der Schwester des Verstorbenen, mit der ich eng befreundet bin, weiß ich, dass dieses Pseudo-Fortleben ihres toten Bruders für die nächsten Verwandten – Mutter und Schwestern – sehr ambivalent ist. Sie erzählte mir, dass sie erleichtert war, als sie endlich erreicht hatten, dass das Profil des toten Bruders gesperrt wurde. Sie erzählte mir, dass es nicht so einfach ist, das Facebook-Profil löschen oder sperren zu lassen – zumindest nicht so einfach, wie Facebook es darstelle. Andererseits haderten die Angehörigen auch damit, denn das Profil biete FreundInnen und Verwandten auch eine Plattform für Trauerarbeit. Durch die Abnahme der Aktivität wiederum entsteht bei ihr das Gefühl, dass das Desinteresse für ihren Bruder zunehme; dies ist schmerzlich für eine nahe Angehörige. (Anm.: ich verbessere meine falsche Erinnerung von unserem letzten Gespräch, nachdem ich dieser Freundin diesen Text zugeschickt hatte und sie mich korrigiert hat. Ich mache den Fehler für einige Zeit als durchgestrichenen Text kenntlich, für diejenigen, die den Text vielleicht mehrfach lesen)
Bilder meines Vaters
Nun hatte ich, ohne ihn zu fragen und trotz meines Wissens um seine Aversion gegen „Selfies“ (was für ein hohles, sinnloses Wort!), vor kurzem ein Bild von meinem Vater in meinem Beitrag über die Schlüsselblumenwiese geteilt. Auf dem Bild ist nicht nur er, sondern bin auch ich, ist meine Schwester zu sehen. Auf einem anderen Bild im selben Beitrag ist meine Großmutter zu sehen, wenn auch nicht ihr Gesicht, auf wieder einem anderen die „dicke Uroma“ sowie eine Großtante, die ebenfalls beide verstorben sind.
Der Umgang mit Bildern ist in vielerlei Hinsicht heikel, und ich habe natürlich auch schon beim Schreiben der Schlüsselblumenzeit meine innere Stimme dazu befragt. Es fühlte sich richtig an. Im Nachhinein frage ich mich jetzt aber erneut: war das, ist das in Ordnung?
Der frühe Tod meines Vaters macht die Frage gewissermaßen ahistorisch: wäre er nicht heute vor genau 25 Jahren gestorben, würde es diesen Beitrag gar nicht geben. Ich war zu jung, um ihn zu Lebzeiten zu fragen, was er davon halten würde, wenn sein Sohn fünfundzwanzig Jahre nach seinem bevorstehenden Tod ein Bild von ihm in einem Text verwenden würde. Und zu all den oben genannten Problemen mit den OSN verhält sich dieser Umstand schon gar nicht: 1995, also vor genau 25 Jahren, war das Internet noch eine Elitenangelegenheit. So etwas wie Facebook oder Handykameras standen damals noch in weiter Ferne, waren Gegenstand utopischer Bücher.
Mein Vater hatte in seinen letzten Lebensjahren eine ausgeprägte Scheu vor Fotografien. Es gibt so einige Fotos, auf denen er sich im Moment der Fotoaufnahme eine Handfläche vor das Gesicht hielt. Den Grund dafür werde ich nie mehr erfahren, da er mir diese Auskunft natürlich nicht mehr geben kann.
Ich vermute aber, dass es vielleicht mit seinen eigenen Traumata als Nachkriegskind, als in die Sohn-Rolle gedrängtes Kind einer alleinerziehenden, verwitweten Flüchtlingsfrau aus der UdSSR zu tun hat. Das wäre naheliegend. Es könnte mit lebenslangen Kränkungen, mit seinem persönlichen Scheitern in einer damals sehr viel weniger dynamischen Gesellschaft zusammen hängen. Er könnte das Gefühl gehabt haben, nicht in der eigenen Haut zu stecken. Ich könnte es ihm nicht verübeln, denn ich habe ihn als intelligenten, an der Welt interessierten Menschen in Erinnerung, der jedoch in einer Zeit und unter Umständen aufgewachsen ist, die es mit sich brachten, dass er keinen höheren Bildungsabschluss erreicht hat.
Ich will in diesem Format nicht mehr über ihn, über seine Persönlichkeit schreiben: De mortuis nihil nisi bene (Nichts über die Toten, wenn es nichts Gutes ist). Im Gegensatz zu ihm „durfte“ ich auf das Gymnasium gehen – bzw. habe mir mit seiner Unterstützung dieses Recht genommen – habe Latein und mehrere Sprachen gelernt. Habe fünf Jahre nach seinem Tod Abitur gemacht. Habe studiert, habe viel mehr von der Welt gesehen. Im Juli verteidige ich meine Promotion. Er weiß davon nichts und es wird ihm auch im Nachhinein nichts von seinem Gefühl des Zukurzgekommenseins nehmen, das ich mit ihm verbinde. Es hat dadurch aber auch nie Stress zwischen uns gegeben – und ich bin mir sicher, dass in dieser Hinsicht so einiges auf uns zugekommen wäre.
Das alles wären für mich plausible Gründe einer nachvollziehbaren Life-Story, für die ich zahlreiche weitere Gründe benennen könnte. Seine Unzufriedenheit mit seiner Rolle in der Welt, mit seinem gescheiterten Kampf gegen die Krankheit, das würde es mehr als verständlich machen, eine Aversion gegen Selbst-Abbilder zu entwickeln. Er war am Ende sehr krank und gezeichnet von seiner Krankheit. Sein Hals war aufgeschnitten worden, man hatte mehrfache Hauttransplantationen vorgenommen. Sein Haut war mehrfach bestrahlt worden, der ganze Mensch hatte sich durch die Krankheit völlig verändert. Er war am Ende – quasi nicht mehr er selbst.
Vielleicht ist das alles aber auch nur eine Story, wie ich sie mir gerne erzählen würde – und irgendeine Story muss ich mir ja zusammen reimen. Diese Story muss aber für immer, zumindest teilweise, spekulativ bleiben.
Doch um also ganz zum Schluss noch einmal auf die Bilderfrage zurückzukommen: ich respektiere, dass mein Vater keine Bilder von sich wollte, die ihn als kranken Menschen abbilden. Ich würde diese auch gar nicht in einem Text wie diesem hier verwenden wollen. Ich finde es aber in Ordnung, Bilder von davor zu verwenden, die nicht nur ihn selbst, sondern auch mich abbilden. Es wird vorerst bei diesem einen Bild bleiben, und ich werde jedes Mal neu abwägen, welchen Grund es gibt – ob es einen relevanten Grund gibt – ein Bild eines verstorbenen Menschen in einem Text zu verwenden. Ich habe mir bei zwei Freunden weitere Meinungen dazu eingeholt, und vielleicht setze ich mich damit in einem späteren Beitrag noch einmal auseinander – dann vielleicht unter Befragung der Gedanken von Benjo, wie einer meiner Freunde Walter Benjamin liebevoll nennt.
I call it a day. Einen denkwürdigen Tag. Einen Tag, ein Vierteljahrhundert.
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